Wiedersehen

Gespeichert von eloroke am Do., 16.03.2023 - 21:01

Wieso bin ich nicht eher darauf gekommen? Luv! Ein so seltener Name und dennoch gestattete er mir bereits zwei Mal die Ehre. Um jedweden Irrtum ausschließen zu können, zog ich gleich bei meiner Rückkehr die bis zum Rand mit mehr oder minder unwichtigem Papierkram gefüllte Apfelkiste hinter meiner Wohnzimmercouch hervor und wühlte mich durch die feinen Sedimentschichten aus Formularen, Urkunden, Verträgen, Bescheinigungen und Amtsbriefen bis zu den ältesten Fossilien meiner Lebensgeschichte durch. Neben einem abgelaufenen Leseausweis der Caldener Jugendbibliothek, einem mit Gold bestickten, zerschlissenen Sporthosenaufnäher, einem Schülerzeugnis der dreizehnten Klasse und einem Einberufungsbescheid an den Mittenwalder Gebirgsjägerstandort fand ich auf dem Grund meines privaten Aktenarchivs auch eine Kopie des ärztlichen Attestes, das mir damals vor etwa zehn Jahren am Ende meiner Eignungsprüfung zum Offizier ausgestellt worden war. Obwohl die Unterschrift am Fuße des Dokuments mehr dem Auswurf eines Seismografen gleicht, räumt der schräg nach rechts geneigte, feine Schriftzug, wenn man weiß, wonach man sucht, jeden Zweifel aus: Lysander Josef Luv, Eliots Vater. Oheim hatte recht. Die Welt ist klein und sind die Schicksalsstränge zweier Seelen erst einmal miteinander verdrillt, finden sie immer wieder zusammen.

Da zum Zeitpunkt meiner Aufnahme in die Bundeswehr als Offiziersanwärter bereits alle Fristen verstrichen und alle Rekruten an ihre jeweiligen Standorte zur Grundausbildung befohlen waren, sahen meine Musterung und Einberufung etwas anders aus, als es die Dienstregularien offiziell vorschreiben. Alles passierte während einer heimlichen Nacht-und-Nebel-Aktion unter der Regie von Professor Meissmann in einem riesigen, dunklen und bis auf die wenigen beteiligten Geheimniskrämer menschenleeren Verwaltungsblock des Koblenzer Zentrallazaretts und ging recht schnell und zügig vonstatten: Ein paar Formulare ausfüllen, ein paar Tropfen Blut spenden, ein paar Untersuchungen über mich ergehen lassen und auf ein paar einfache Fragen Rede und Antwort stehen.

Doch als ich schon glaubte, der Spuk sei vorbei, wurde ich von der nervös zischenden Stimme des Professors eines Besseren belehrt und in ein kleines Behandlungszimmer bugsiert, wo ein abschließendes kurzes Gespräch mit einem Oberstarzt stattfinden sollte. Professor Meissmann legte ein Formular auf den Tisch und ließ mich allein in dem kleinen Raum zurück. Das nachfolgende Gespräch, wenn man es überhaupt als solches bezeichnen konnte, sollte tatsächlich kurz werden. Kurz und äußerst merkwürdig. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum mir diese Szene bis zum heutigen Tag so deutlich im Gedächtnis geblieben ist.

Nachdem man mich bestimmt zehn, zwanzig oder vielleicht sogar dreißig Minuten hatte warten lassen, hörte ich plötzlich in der Ferne das große Eingangstor des Gebäudes aufschwingen und geräuschvoll wieder ins Schloss fallen. Kurz darauf brannte ein flüsterndes Knistern durch den Korridor, als sich die Neonröhren erwärmten und den Flur in grelles Licht tauchten. Unter das Neonflackern mischten sich schnelle Schritte, die immer lauter durch den Treppenaufgang und den langen Korridor hallten. Der von Meissmann mit einer gehörigen Portion Respekt angekündigte Oberstarzt schien sich nichts aus des Professors Geheimniskrämerei zu machen, sondern ging so leichtfertig und spendabel mit Licht und Lärm um, dass mir Meissmanns heimliches Getue nachträglich wie eine alberne Kinderei erschien. Als der mysteriöse Ankömmling endlich das kleine Behandlungszimmer betrat und mich dort im schwachen Schein der Schreibtischlampe auf einem Patientenstuhl vorfand, schaltete er auch hier ohne Begrüßung und ohne jeglichen Kommentar das große Deckenlicht an und setzte sich mir gegenüber auf einen großen bequemen Sessel.

Verunsichert wartete ich darauf, dass er irgendetwas sagen würde. Doch er blieb still und schaute mich eindringend über die Finger seiner vors Gesicht gefalteten Hände hinweg an. Ich fühlte mich zunehmend unwohl, blickte ziellos im Zimmer umher, verfing mich wieder im starren Blick meines Gegenübers, versank ein Stück in mir selbst und presste mir zu guter Letzt eine in Anbetracht der merkwürdigen Situation nicht ganz unberechtigte Frage heraus: »Ist das ein Test?«

»Nein.« Er schüttelte irritiert den Kopf, als hätte ich ihn aus seinen Gedanken geschreckt, und erklärte in einem fast entschuldigenden Ton, der nicht so recht zu seinem ansonsten sehr souveränen Auftritt passen wollte, dass ich nichts zu befürchten hätte. Er wolle sich nur mit mir unterhalten.

Ich nickte angestrengt und schwieg, bis sich der Oberstarzt nach einer endlos langen Runde in sich selbst vertiefter Nachdenklichkeit mit einem unvermittelten Ruck erhob, einen Pappbecher mit Leitungswasser füllte, ihn mir vor die Nase hielt und fragte, ob ich etwas trinken wolle. Ich wagte nicht abzulehnen, sondern nahm den Becher dankend an und trank einen Schluck.

Gedankenvoll schlich er um mich herum, begutachtete mich von allen Seiten und murmelte schließlich mehr zu sich selbst: »Was für blaue Augen. Anderswo sieht man das als Zeichen für zu viel Wasser im Blut. Wusstest Du das?« Ohne meine Antwort abzuwarten, fuhr er fast aufbrausend fort: »Albern ist das! Einfach nur albern! Albern, hörst Du!« Das letzte ›Albern‹ presste er geradezu wütend zwischen seinen Zähnen hervor, lehnte sich mit einem entmutigten Seufzer gegen die Kante der großen schwarzen Patientenpritsche, die hinter mir an der Wand stand, und fragte mich, ob es mein freier Wunsch sei, als Offizier in der Armee zu dienen.

Ich hielt es für klüger, ja zu sagen. Meine Stimme klang jedoch so zaghaft und unsicher, dass ich schnell einen weiteren Schluck aus dem Pappbecher nahm, mich umdrehte und mein Ja mit etwas mehr Volumen als beim ersten kläglichen Versuch wiederholte. Er nickte, ging um mich herum, setzte sich wieder mit verschränkten Händen auf den Arbeitssessel und schwieg.

Die bedrückende Stille schien kein Ende nehmen zu wollen, als er mich plötzlich mit einem entschlossenen Blick anschaute und sagte: »Die Zeiten, in denen das Wünschen noch geholfen hat, sind vorüber. Früher konnte man sich noch mit einem Lächeln davonstehlen, doch heute sind Träume, Wünsche und Sehnsüchte nur bösartige Gewebeneubildungen in den für das chirurgische Messer unzugänglichen Eingeweiden der menschlichen Seele. Aber Du bist sehr tapfer, Junge.«

Da ich nicht wusste, was ich darauf antworten sollte, nippte ich schweigend an meinem Wasser und beobachtete die Wellen in meinem Becher, woraufhin der Oberstarzt einen weiteren Seufzer entließ, einen Füllfederhalter aus seiner Brusttasche angelte und seine Unterschrift auf das vor ihm auf dem Schreibtisch liegende Formular setzte.

»Wilhelm!« Er war aufgestanden und hielt mir seine Hand hin. Ich rappelte mich auf und streckte auch ihm meine Hand entgegen. Doch anstatt sie zum Abschied zu schütteln, griff er nach meinem Handgelenk, drehte meinen Handteller nach oben und legte eine kleine, milchsilberne Perle hinein. Ich starrte ihn verwundert an.

»Weißt Du, wie man ein Geheimnis bewahrt?«, fragte er mich eindringlich.

Ich nickte starr und biss mir verlegen auf die Lippen.

»Verwahre sie geheim«, fuhr er in gebieterischem Ton fort: »Doch wenn Du jemals in Bedrängnis geraten solltest, Wilhelm, dann benutze sie und nenne meinen Namen.«

Ich schloss meine Faust um die kleine Silberperle und nickte wieder, dieses Mal mit betont ernster Miene. Da ich noch immer nicht wusste, was ich sagen sollte, stammelte ich ein verlegenes Dankeschön vor mich hin, bevor ich meine versteinerte Faust tief in meiner Hosentasche vergrub.

»Wilhelm Fenner, ich wünsche Dir viel Erfolg auf Deinem weiterem Lebensweg und hoffe, dass Du Dein Glück finden wirst.« Er wandte sich zur Tür und murmelte, ohne sich nochmals zu mir umzudrehen: »Dann ist vielleicht doch nicht alles umsonst gewesen und das Wunder der Sühne auch ohne Gottesglauben möglich.« Seine Stimme klang deprimiert. Mit diesen Worten ließ er mich allein und verwirrt in dem kleinen Behandlungszimmer zurück.

Vorsichtig befühlte ich die Perle in meiner Tasche und überprüfte meine Hose auf Löcher, als mir siedend heiß einfiel, dass ich den Namen des fremden Oberstarztes gar nicht wusste. Panisch stürzte ich zur Zimmertür und spähte in den inzwischen wieder ausschließlich durch das schwache Licht der Notausgangsschilder beleuchteten Flur, wo zwei gespenstige Schattengestalten aufeinandertrafen. Ich hörte Meissmanns Stimme in der Dunkelheit. Doch der schnurstracks Richtung Treppenaufgang eilende Schatten schnitt dem Professor mit einer abwehrenden Geste das Wort ab und ging seines Weges. Ich lief zum Schreibtisch und warf einen Blick auf die Unterschrift, doch sie war so undeutlich, dass ich nur die jeweils ersten Buchstaben sicher entziffern konnte.

Obwohl ich mit der Perle nichts anzufangen wusste, trug ich sie fortan stets in meiner rechten Hosentasche und machte nur wenige Wochen später während einer einsamen Wanderung durch die Berge eine erstaunliche Entdeckung. Ich befand mich auf einem Gipfel von nur etwas mehr als zweitausend Metern Höhe. Dennoch brannte die Sonne so unerbittlich auf mich herab, dass ich das Gefühl hatte, ihr zu nahe gekommen zu sein. In diesem Licht betrachtete ich die kleine Perle, die zu meiner Überraschung die Sonnenstrahlen in Form von feinen Linien, Häkchen und Querstrichen auf meiner Handoberfläche reflektierte. Das seltsame Liniennetz war von der gleichen Farbe wie meine Haare – nur ein wenig heller, eher wie das schillernde Gefieder männlicher Schwäne, das Reifeflimmern von weißen Blütenständen oder das Lodern des Himmels kurz vor einem heftigen Gewitter. Einer vagen Intuition folgend stellte ich mich zwischen Sonne und Gipfelkreuz und tauchte die Milchsilberperle in das Licht des sengenden Vormittags. Mit halb zugekniffenen Augen drehte ich die glitzernde Silberkugel hin und her, bis der Querholm des Gipfelkreuzes schließlich einen leicht verzerrten lateinischen Schriftzug in Großbuchstaben und einen Namen reflektierte: Lysander Josef Luv. Da die Schrift nicht spiegelverkehrt erschien, ging ich davon aus, dass sie von Anfang an zur Projektion gedacht gewesen war und dass es irgendwo spezielle Lesegeräte dafür geben musste.

Ich habe diese Perle jedoch schon vor Jahren verloren und hätte sie vielleicht irgendwann ganz vergessen, wenn Elli meinem vielleicht manchmal ein wenig trägen, jedoch im Grunde sehr verlässlichen Gedächtnis nicht durch die Erwähnung des Namens seines Vaters auf die Sprünge geholfen hätte: Lysander Josef Luv. Luv! Die ganze Sache erscheint mir rückbetrachtet fast noch befremdlicher als damals. Zu wissen, dass jener seltsame Offizier Eliots Vater gewesen sein muss, bringt auch kein Licht ins Dunkel. Auf keinen Fall sollte ich diese Begegnung Elli gegenüber erwähnen. Er reagiert abweisend trotzig, niedergeschlagen oder gespielt gleichgültig, jedoch immer äußerst sensibel und leicht irrational, wenn es um seinen Vater geht. Soll die Vergangenheit getrost zusammen mit der Milchsilberperle zwischen den Ritzen der Bodendielen unter dem Spülstein ruhen. Viel spannender ist die Gegenwart. Der heutige Tag war ein Rausch und ich habe noch immer das Gefühl zu brennen.

Ich war zwar in meiner Jugend nie auf einem Kindergeburtstag gewesen, habe mir jedoch bereits während meiner frühen Kadettenzeit von meinem damaligen Kompaniefeldwebel Oheim glaubhaft versichern lassen, dass sich diese ohnehin nur geringfügig von Offiziersbällen und anderen Militärfeierlichkeiten dieser Art unterschieden und ich somit noch genügend Gelegenheit haben würde, meine verlorene Kindheit nachzuholen. Wenn man das Geplapper der Gäste durch wildes, deswegen aber nicht minder gehaltvolles Kindergeschrei ersetzte, und das Taktieren und Tanzen durch Kräftemessen und Toben, erhalte man eine solide Vorstellung von einem gut organisierten Kindergeburtstag.

Noch zwei weitere Unterschiede gab es laut Oheim. Erstens war die Torte auf Offiziersbällen nicht mit bunten Bonbons verziert, sondern mit zwei gekreuzten Degen aus Zuckerguss, und zweitens wurden Vergehen gegen die Kostümierungspflicht auf Militärveranstaltungen strenger geahndet. Kunstvoll bestickte Ehrenabzeichen, bunte Bandschnallen, silberpaspelierte Kragennähte und goldene Schulterepauletten waren für die Männer ebenso ein Muss wie der kostbare Schmuck für die Frauen. Ich hatte großes Glück, dass Oheim mich damals unter seine Fittiche genommen und mir alles beigebracht hat. Als lediger Offizier hatte ich es auf solchen Bällen und Festen nie besonders leicht, weil jeder glaubte, mich verkuppeln oder anderweitig unterhalten zu müssen. Diese Plagen blieben mir dieses Mal jedoch glücklicherweise erspart.

Die Münchner Abschirmherren trugen bei ihren Feierlichkeiten allerdings ziemlich dick auf. Es genügte ihnen nicht, sich einen Abend lang im Namen Christi zu betrinken, wie es das herkömmliche Soldatenvolk zu tun pflegt, sondern sie taten dies an gleich drei Abenden hintereinander. Sie hatten zu diesem Zweck ein Schloss gemietet. Das über hundert Jahre alte Gemäuer war zwar nicht besonders groß, dafür aber vollständig restauriert und mit allen erdenklichen Annehmlichkeiten ausgestattet. Alle Räume waren beheizt und neben den Konferenzsälen, in denen sie tagsüber ihre Seminare abhielten, gab es ein Kasino für den Abend und eine Sporthalle für die wohl dringend notwendige morgendliche Auskaterungsgymnastik. Das Ganze nannte sich offiziell auch nicht Silvesterparty, sondern Jahresabschluss, damit es als Überstunden angerechnet werden konnte, und am letzten Tag gab es einen vermutlich ebenfalls als Mehrarbeit deklarierten Ball, zu dem der komplette Münchner Dienstapparat eingeladen war. Für Prominenz sorgten einige Ehrengäste aus Bonn und Köln, für Skurrilität die Mittenwalder Gebirgsjäger.

Mit drei winterfesten Autos krochen wir über die vereisten Straßen des Alpenvorlands in das kleine Dörfchen Berg am Ostufer des Starnberger Sees, wo das Treffen stattfinden sollte. Ich fuhr mit Heidts Dienstwagen an der Spitze unseres Trosses und hatte Falk, Anna und Strefler mit an Bord. Anstatt die Karte zu lesen oder auf die Umleitungsschilder zu achten, machten sie nur Blödsinn. Sie tranken und sangen und zogen mich wegen meiner Ernsthaftigkeit auf. Im Geheimen machte mich ihre Anwesenheit jedoch froh und ich bemerkte zum ersten Mal, dass Falk gar kein so schlechter Sänger war. Gunnar war bei André eingestiegen und die geräumige Familienkutsche der Josts bildete den Abschluss unserer Karawane.

In dieser Formation erreichten wir Pragens Schloss. Der Gastgeber tingelte mit einem zierlichen Kristallgläschen von einem Tisch und Stehkränzchen zum nächsten, schäkerte mit den Soldaten, politisierte mit den Stabsoffizieren, unterhielt die Generäle und flirtete mit ihren Frauen. Ganz, wie es sich gehörte. Auch seine Garderobe war tadellos. Er trug ein schwarzes Jackett, das von hinten an einen Schwalbenschwanz erinnerte und auf dem je nach Lichteinfall ein verschlungenes Muster zu erkennen war. Anstatt der üblichen Krawatte oder Schleife, wehte ein lockerer Schal um seinen Hals und seine Schuhe klapperten leise auf den Holzdielen, während er sich um seine Gäste kümmerte. Auch ich wurde sein Opfer. Aber erst später. Zunächst beließ er es bei einer überschwänglichen Begrüßung und der nachdrücklichen Aufforderung, es uns gut gehen zu lassen. Das ließen sich Falk und die anderen nicht zwei Mal sagen, sondern planten einen Sturm auf die reich bestückten Silberplatten, Glasschalen und Zapfhähne des Buffets. Ich nutzte das allgemeine Durcheinander und seilte mich ab, um mich in dem weitläufigen Festsaal auf die Suche nach Elli zu machen. Ich schob mich zwischen den zahlreichen Gästen hindurch, spähte auf die Bühne am fernen Ende der Halle, musterte jedes Gesicht und erkannte sogar etliche davon wieder, aber keines davon gehörte Elli. Nach der ersten Hälfte wurde ich nervös und drehte mich immer wieder um meine eigene Achse, damit ich auch ja niemanden übersah.

Als ich nach einem erfolglosen Rundgang durch die Halle wieder an meinem Ausgangspunkt angelangt war, hielt ich deprimiert inne und ließ meinen Blick über die Köpfe der Menschen schweifen. Doch mein Auge fand keinen Halt in dem Gewühl aus lachenden, essenden, trinkenden, debattierenden, gestikulierenden und tanzenden Partygästen, bis sich plötzlich die große Eingangstür öffnete und zwei vor Kälte prustende Gestalten den Saal betraten: Eliot und noch ein Jemand mit auffällig unnatürlich rotem Haar. Die beiden stellten zwei halb volle Wasserkisten vor sich auf dem Boden ab und klopften sich den Schnee aus ihren windzerzausten Haaren und dünnen Kleidern.

Allein ihn zu sehen, machte die Reise bezahlt. Ich bahnte mir schnurstracks meinen Weg zwischen Tischen, Gästen, Säulen, Kellnern, Stühlen und Blumenkübeln hindurch zur Eingangstür und stolperte Elli freudenstrahlend entgegen: »Elli, Eliot«, rief ich aufgeregt, als ich schließlich vor ihm stand: »Was eine Freude, Dich wiederzusehen!«

Elli schaute mich einen Moment lang irritiert an, bevor er sich erinnerte und mir seine Hand reichte: »Du, hier?«, fragte er überrascht. Ich nahm seine Hand, hielt sie fest und nickte.

Sein rothaariger Begleiter hatte jedoch seine Getränkekiste wieder aufgenommen und gab Elli einen ungeduldigen Schubs: »Henri, trödle nicht rum«, meckerte er und ging voraus Richtung Bühne.

»Henri?« Ein wenig belustigt imitierte ich den nasalierten Tonfall, den ich gerade gehört hatte, und blickte Elli fragend an. Doch er schien mich nicht gehört zu haben, sondern blickte seinem Kameraden hinterher: »Schön, Dich hier getroffen zu haben, Wilhelm. Vielleicht sehen wir uns ja später noch einmal«, sagte er mit einem flüchtigen Lächeln und wand seine Hand aus meiner. Vielleicht ließ ich sie auch freiwillig los. Ich erinnere mich nicht mehr so genau an diesen Moment. Ich weiß nur, dass ich plötzlich alleine dastand. Auch die Getränkekiste, die Elliot auf dem Boden abgestellt hatte, war verschwunden. Nur eine kleine Lache kennzeichnete die Stelle, wo er sich den Schnee aus den Kleidern geklopft hatte.

›Vielleicht‹ und ›später‹ hatte er gesagt. Ich fühlte eine seltsame Mischung aus Enttäuschung und Wut. Ich hätte mich dagegen wehren können, aber ich überließ mich meinen Gefühlen und verfluchte alles um mich herum, alles und jeden. Als schließlich alles um mich herum in Flammen stand, trat ich einen Schritt zurück, weil ein Gruppe fröhlich plaudernder Gäste den Saal betrat. Dem Geruch nach zu urteilen, waren sie draußen gewesen, um zu rauchen. Allen voran schritt ein junger Leutnant, der einer älteren Dame mit vom Alkohol geröteten Wangen und einem dazu passenden roten Abendkleid – vermutlich war sie seine Mutter, für eine Freundin war sie zu alt – seine Jacke umgehängt hatte. Als die Frau jedoch in die Lache auf dem Boden trat, kam sie ins Rutschen und wäre fast gefallen, wenn ich sie nicht aufgefangen hätte.

Ich packte ihr Handgelenk jedoch fester, als es nötig gewesen wäre, sodass sie vor Schmerzen aufstöhnte. Mit einem kräftigen Ruck zog ich sie schließlich auf die Füße, lächelte ihr zu und ließ sie los. Für die meisten hatte es so ausgesehen, als ob ich der Frau lediglich aufgeholfen hätte. Sie gingen lachend an uns vorüber. Nur der Leutnant blickte mich verwirrt an. Er schien, nicht ganz zu verstehen, was gerade passiert war. Ich erwiderte seinen Blick mit einer ausdruckslosen Miene, die ihn an seinen Rang erinnern sollte. Obwohl ich keine Rangabzeichen trug, nahm der junge Leutnant plötzlich Haltung an. Er entschuldigte sich für das Missgeschick seiner Mutter und bedankte sich überschwänglich für meine Hilfe. Ich nickte und machte kehrt.

Die Welt hatte nach dem kurzen Zwischenspiel zwar aufgehört zu brennen, aber die unbestimmte Wut war nur einem konkreten Entsetzen gewichen. Ich spürte plötzlich einen leichten Schwindel und ließ mich auf einem nahestehenden Stuhl sinken. Alles, was sich während der letzten Monate ereignet hatte, war auf diesen Augenblick ausgerichtet gewesen. Ich hatte meine Seele an Pragen verkauft, einen kompletten Monatssold in eine ordentliche Ausgehgarnitur investiert und mich nächtelang in Alpträumen gewälzt. Doch alles, was er für mich übrig hatte, war ein unverbindliches ›Vielleicht und später‹.

Ich bemerkte kaum, wie jemand ein Glas Wasser vor mir abstellte. Ich nickte nur stumm und überlegte, während ich mit meinen Fingern die Linien der an der kalten Glaswand kondensierenden Wassertropfen nachzeichnete, wie es mir gelingen konnte, ihm mit ebenso großer Gleichgültigkeit entgegenzutreten, wie er mir. Damals bei Tomo war es mir gelungen, wenngleich nur für einen kurzen Augenblick. Nach Jahren der Freundschaft und tiefsten Verbundenheit hatte ich mich in einer einzigen Nacht von ihm losgesagt und ein neues Kapitel in meiner Geschichte aufgeschlagen. Und seine Geschichte damit beendet.

Eine freundliche, körperlose Stimme redete mir plötzlich gut zu, doch erst als ich feststellte, dass diese Stimme nicht nur in meinem Kopf existierte, erwachte ich aus meiner Trance und kehrte in die Welt der Lebenden zurück, wo ich für einen kurzen Moment in dem Meer aus Licht und Lärm zu ertrinken drohte. Überall flackerten Kerzenflammen und das warme Licht der Deckenfluter sorgte zusammen mit den grellen Kunststofflampen über den Buffetständen und dem grünen Leuchten der Notausgangsschilder für eine diffuse Beleuchtung. Ein heilloses Gewirr aus rasselnden Geräuschen, herrenlosen Gesprächsfetzen und fernem Gesang fiel über mich her, darunter auch die aufgeregt plappernden Stimmen der Tischgesellschaft, der ich mich aufgedrängt hatte: »Ich dachte schon, er setzt sich auf meinen Schoß! Was hat er denn?«, sagte eine vorwurfsvolle Stimme. Ich schaute mich nach ihr um und sah eine Frau in, was mir wie Trauerkleidung erschien: schwarzer Hut, schwarzes Halsband, schwarzes Kleid und schwarze Handschuhe. Nur die leichenblasse Haut und die Perlengehänge an Ohren, Hals und Handgelenken sorgten für ein wenig Kontrast.

»Ach, kein Grund zur Besorgnis. Wir sind Leid gewohnt und halten schon einiges aus«, raunte eine andere Stimme. Sie klang dunkel und gesetzt und gehörte einem älteren Offiziersjahrgang in einem einfachen Gesellschaftsanzug. Er nickte mir aufmunternd zu: »Geht’s wieder?«

»Vielleicht hat er zu viel getrunken. Dann sollte er sich besser hinlegen«, meldete sich die vorwurfsvolle Stimme der Frau im Trauergewand wieder zu Wort.

»Das Letzte, was er jetzt braucht, sind Deine gut gemeinten Ratschläge. Es geht ja schon wieder«, stellte ein junger Unteroffizier mit einer silbernen Schützenschnur vielleicht ein wenig vorlaut, aber vollkommen richtig fest.

Die Befürchtung, dass sich meine kurzfristige Unpässlichkeit in den Köpfen meiner besorgten Tischgenossen zu einem Ungeheuer auswachsen könnte, ließ mich augenblicklich wieder zu Kräften und Verstand kommen. Ich entschuldigte mich hastig für die Umstände und wollte gehen. Doch als ich auf meinem Stuhl herumwirbelte, war da noch jemand. Eine zierliche Person mit einem freundlichen und offenherzigen Lächeln. Obwohl ich während meiner Selbstversunkenheit die Welt um mich herum kaum wahrgenommen hatte, glaubte ich, die Person wiederzuerkennen, die mir das Wasser gebracht hatte.

»Ich bin froh, dass Sie wohlauf sind«, lachte sie erleichtert und nun bestand kein Zweifel mehr. Es war die gleiche Stimme, die mir zuvor Mut zugesprochen hatte. Ich bedankte mich und versuchte erneut, zu fliehen, doch ihr Rollstuhl versperrte mir den Weg. Bevor ich mich durch meine unvermittelte Reue über meine zwei gesunden Beine zum Idioten machen konnte, übertölpelte mich meine unbekannte Wohltäterin mit der neugierigen Frage, ob ich der Besuch aus den Bergen sei. Oberstleutnant Pragen habe ihr erzählt, dass Ehrengäste aus einem Mittenwalder Gebirgsjägerkommando erwartet würden. Ich nickte.

»Sehr erfreut Sie kennenzulernen«, sagte sie schließlich. Dem warmherzigen Tonfall ihrer Stimme nach zu urteilen, meinte sie es ernst. Sie reichte mir ihre Hand: »Ich heiße Cecilia.«

Ich stellte mich ebenfalls vor und beschränkte mich dabei, wie sie es zuvor getan hatte, auf das Nötigste: »Wilhelm.« Mehr schien sie auch nicht von mir zu erwarten. Ohne meinen Rang, meine Stabsabteilung, meine Bataillonsnummer oder meinen Nachnamen zu kennen, lächelte sie mich an und lotste mich zu einer einsamen Sitzgruppe am Rande der Tanzfläche. Da meine eigentliche Verabredung für den Abend ohnehin geplatzt war, trottete ich artig hinter ihr her und nahm auf ihren Befehl hin auf einem knirschenden Korbsessel Platz. Sie fragte, ob ich etwas trinken wolle und bestellte, nachdem sie unsere gemeinsame Vorliebe für Milch festgestellt hatte, zwei Gläser schaumig geschlagene Joghurtmilch mit süßen Früchten. Anschließend schaffte sie es tatsächlich, mich mit unzähligen Fragen über meine Arbeit als Bergführer und belanglosem Gerede über das Glück der Welt in ein Gespräch zu verwickeln.

Während ich mich durch Cecilias Fragen und Erzählungen von meinen Gedanken an ›Vielleicht und später‹ ablenken ließ, blickte ich mich in dem großen Festsaal um. Die meisten Gäste saßen an den Tischen, wo debattiert, gegessen und getrunken wurde. Andere standen in kleinen Grüppchen umher, die sich immer wieder auflösten und in veränderten Konstellationen neu formierten. Einige wenige tanzten sogar. Es wurde viel geredet, gelacht und gekichert, ein tosendes Summen aus tausend Stimmen. Hier wurden Schultern geklopft, da Köpfe geschüttelt und dort Augenbrauen hochgezogen. Ein Tête-à-tête an der Fensterbank, Gedrängel an den goldenen Zapfhähnen der großen Fässer, ein gewagter Balance-Akt mit einem Tablett voller Kristallgläser, flüchtige Berührungen, große Ehrenwörter und das Gefühl eines wahrhaft heiligen Friedens. Niemand war allein und dank Cecilia hatte auch ich ein wenig Gesellschaft.

Jedenfalls bis Pragen sie entführte. Er entschuldigte sich bei mir, bevor er Cecilia hastig erklärte, dass der Befehlshaber des Münchner Wehrbereichskommandos trotz arger Verspätung doch noch eingetroffen sei. Der General habe seine Familie mitgebracht und müsse nun gebührend empfangen werden. Cecilia machte ein bedauerndes Gesicht und bat mich, ihre Verpflichtungen als Gastgeberin zu entschuldigen, bevor sie Pragen durch das Menschengewühl Richtung Eingangstür folgte. Unversehens war ich wieder allein – mit mir selbst, einem leer getrunkenen Glas Joghurtmilch und dem bitteren Nachgeschmack eines beiläufigen ›Vielleicht und später‹.

Ich zog eine weitere Runde durch den Saal, sah bei meinen Leuten nach dem Rechten, holte mir noch eine Portion von dem Joghurtgetränk und verschanzte mich in einer unauffälligen Stellung zwischen einer mit Tannenzweigen getarnten Säule und einem Reservekontingent aus ineinander und aufeinander gestapelten Stühlen. Während ich die Dinge zählte und das wilde Farbspiel der im Raum umherschwirrenden Töne und Stimmen beobachtete, wärmte ich das Glas mit der Joghurtmilch zwischen meinen Händen. Ich mag zwar keine warme Milch, aber auch keine ganz kalte.

Ich suhlte mich förmlich in meinen gescheiterten Hoffnungen, als ich in der Menschenmenge plötzlich denselben Rotschopf entdeckte, dem ich noch kurz zuvor an Eliots Seite begegnet war. Er lud einen Teller voller Speisen vom kalten Buffet, schlängelte sich flink zwischen den Tischen und Stühlen hindurch und verschwand am fernen Ende des Saals durch einen Seiteneingang, der wohl zur Bühne führte. Nervös schaute ich zu dem großen schwarzen Vorhang, als wie aus dem Nichts Pragen neben mir auftauchte: »Wie ich sehe, warten Sie bereits voller Ungeduld auf unser Bühnenprogramm«, sagte er: »Es sollte gleich beginnen.« Ich zuckte nur mit den Schultern.

»Aber unser Kinderkefir schmeckt Ihnen?« Er meinte anscheinend mein Getränk. Skeptisch beäugte ich den Milchschaum in meinem Glas, machte jedoch weiterhin von meinem Recht zu schweigen Gebrauch.

»Es ist alkoholfrei und bis auf den vielleicht etwas zu reichlich untergemengten Sirup sogar gesund. Ein Festtagspunsch für die Jugend, die es im Schlepptau ihrer Eltern und Großeltern hierher verschlagen hat, und für die Autofahrer sowie alle anderen, die an ihrem klaren Verstand hängen«, klärte mich Pragen weiter auf. Ich nickte und trank einen feierlichen Schluck auf die Jugend, die Autofahrer und alle anderen, obgleich die Milch noch nicht die ideale Trinktemperatur erreicht hatte.

»Haben Sie leicht hergefunden?«, fragte Pragen nun. Ich nickte wieder und hoffte, dass die von ihm erwähnte Vorstellung bald beginnen würde, damit unser einseitiges Gespräch ein möglichst schnelles Ende fand. Einen anderen Ausweg gab es nicht, denn es ist nun einmal das Vorrecht des höheren Dienstgrades den niedrigeren auf jedwede Weise tyrannisieren zu dürfen. Als Gefreiter muss man für die höheren Mannschaftsdienstgrade den Lakaien spielen und als Hauptmann muss man das langweilige Geschwätz der Stabsoffiziere und Generäle klaglos ertragen. Eine seit Urzeiten etablierte Spirale gepflegter Gängelei und Schikane.

Pragen erzählte wieder einmal vom Wetter, von der winterlichen Verkehrslage, von den zurückliegenden Weihnachtsfeierlichkeiten und dem nun kurz bevorstehenden neuen Jahr sowie von den politischen Umwälzungen im Osten und Deutschlands Rolle in einem neuen Europa. Ich nickte ab und zu aus Höflichkeit und schaute immer wieder unruhig Richtung Bühne, bis ich seinen Redeschwall schließlich unterbrach, indem ich ihm ein zusammengefaltetes Stück Papier unter die Nase hielt. Eine antrainierte Zurückhaltung zähmte Pragens natürlichen Reflex, danach zu greifen: »Was ist das?«, fragte er jedoch neugierig.

»Die Antwort, die ich Ihnen bei unserem letzten Treffen schuldig geblieben bin.«

Pragen war perplex: »Darf ich?«, fragte er und streckte seine Hand nun doch danach aus.

Ich nickte und überließ ihm den Zettel. Pragen faltete ihn vorsichtig auf und las. Obwohl ich nur ein paar Worte darauf gekritzelt hatte, verharrte sein Blick lange auf dem Stück Papier, bis er schließlich schmunzelte: »Danke«, sagte er und gab sich Mühe, seinen Dank nicht beiläufig klingen zu lassen. Ich zuckte jedoch nur mit den Schultern: »Keine Ursache.« Pragen faltete den Zettel wieder zusammen und ließ ihn in seinem schwarzen Notizbuch verschwinden, das er offenbar stets bei sich trug. Danach schaute er mich erwartungsvoll an: »Dann habe ich gleich die nächste Frage für Sie, wenn Sie erlauben.«

»Nur zu«, forderte ich ihn auf.

»Aus welcher moralischen Direktive oder Sozialdoktrin lässt sich ein Herrschaftsanspruch über die Berge begründen?« Ich schüttelte verwundert den Kopf und bat Pragen, mir seine Frage genauer zu erläutern.

»Nun, wenn ich von Herrschaft spreche«, erklärte er, »meine ich damit nicht etwa die Länder- und Staatsgrenzen, die man in jedem Schüleratlas verzeichnet findet, sondern eine abstrakte und allumfassende Idee von Eigentum und Besitz. Wer darf die Berge sein eigen nennen? Die Touristen und Bergsteiger, die Gämsen und Adler oder doch nur Gott allein?«

»Soweit ich weiß, gibt es keinen Gott«, erklärte ich vorsichtig: »Und Gämsen und Adler? Ich weiß nicht recht. Ich glaube, ich habe die Frage noch immer nicht richtig verstanden.«

Pragen lachte: »Gut, dass Sie mich daran erinnern. Fast hätte ich vergessen, dass Gott das vergangene Jahrhundert nicht überlebt hat und sich die Tierwelt wohl kaum um einen abstrakten Eigentumsbegriff schert. Bleiben uns also nur die Menschen. Aber welche Menschen? Die einheimischen Pächter und Senner? Oder die Abenteuerurlauber und Kurgäste?«

»Das Problem ist«, warf ich ein und schaute kurz Richtung Bühne, »dass man nicht wirklich von Besitz und Eigentum sprechen kann, wo es nichts zu haben gibt.«

»Kein Haben bedeutet was?«, hakte Pragen nach: »Reines Sein?« Ich überlegte kurz und nickte.

»Dennoch erobern Sie einen Berggipfel nach dem anderen.« Er stellte die Augen, als ob er mich bei etwas ertappt hätte. Ich hatte jedoch das Gefühl, dass er mich mit seiner Wortwahl nur provozieren wollte: »Ich erobere sie nicht«, korrigierte ich ihn deswegen: »Ich besteige sie.«

»Und was ist dieses Besteigen, wenn kein Erobern, Besiegen und Bezwingen?«

»Ein Besuch?«, schlug ich versöhnlich vor, doch Pragen blieb skeptisch: »Ist das die Antwort eines Gebirgsjägers?«, fragte er.

»Es ist meine Antwort«, erklärte ich und schaute mich nach einem erneuten Blick Richtung Bühne nach meiner Truppe um. Gunnar und Anna hatten die Ordonnanz inzwischen dazu überreden können, ihr Bier aus Flaschen trinken zu dürfen. Falk hatte das Büffet furagiert und labte sich an seiner fetten Beute, während André unserer wankelmütigen Moral die Stange und die Launen der anderen im Zaum hielt. Strefler verhielt sich unauffällig und Jost und seine Frau hatten sich unter die Prominenz gemischt, um Präsenz zu zeigen und Kontakte zu knüpfen.

Ich nippte an meiner Milch – sie war noch immer zu kühl – und lauschte Pragens Hörsaalübung über das Haben und das Sein, während ich den dunklen Bühnenvorhang im Auge behielt. Meine Antworten wurden jedoch immer zerstreuter, sodass ich kaum bemerkte, wie ich Pragen mein Jawort gab, als er mich auf eine Tasse Tee in sein Münchner Büro einlud.

Ich wollte meine vorschnelle Zusage sofort wieder zurückziehen, aber in diesem Moment platzte eine schwarze Igelfrisur in unser Gespräch und stellte sich vor: »Oberfeldwebel Falk Kastl zu Diensten. Ich bin Hauptmann Fenners Erster Feldwebel in der Stabsabteilung für Sicherheit in Fels, Eis und Schnee des Mittenwalder Gebirgsjägerbataillons. Ich bin sozusagen derjenige, der den ganzen Laden schmeißt. Wenn Sie mit meinem Zugführer Tee trinken möchten, regle ich das.« Falk war zwar nicht betrunken, aber sein Gefahreninstinkt und sein Benehmen waren nicht unbedingt in Bestform. Pragen gab sich jedoch jovial. Vermutlich hatte er nur auf eine Gelegenheit gewartet, die Wehrzersetzer auf seiner Liste genauer unter die Lupe nehmen zu können.

In Anbetracht der Umstände war es seltsam, dass wir drei beieinander standen, als wären wir alte Bekannte oder gute Freunde. Pragens Verdächtigungen gegen Falk, meine bevorstehende Aussprache mit dem ›Ersten Feldwebel‹ meiner Stabsabteilung – diese Bezeichnung war selbst mir neu – und das gespannte Verhältnis zwischen Pragen und mir schwelten wie Elmsfeuer in der Luft. Ich traute dem Chef des Münchner Abschirm­amtes noch immer nicht über den Weg, wie sehr er auch vorgab, mein Freund und Geistesgefährte zu sein.

»Sie brauchen also einen Termin mit meinem Hauptmann?«, fragte Falk und kramte in seinen Taschen.

»Eigentlich wollte ich mich nur mit Ihrem Hauptmann zum Tee verabreden«, wandte Pragen auf Falks Frage ein und beobachtete interessiert, wie dieser eine seiner selbstgebastelten Visitenkarten aus seiner Tasche hervorholte. Die auf grünweißes Endlospapier gedruckten und mit krummen Kanten ausgeschnittenen Visitenkarten unserer Stabsabteilung haben diesen Namen streng genommen nicht verdient, denn sie besitzen die imposante Größe von Waffenausgabescheinen und müssen zwei Mal gefaltet werden, um in eine normale Geldbörse zu passen.

»Dienstlich?«, fragte Falk und klappte die grünweiße Visitenkarte auf.

»Was sonst?«, lautete Pragens verblüffte Gegenfrage. Seine Stimme klang jedoch freundlich und geduldig, vielleicht sogar ein wenig amüsiert.

»Dann ist es ein Termin und Termine sind bei uns derzeit schwer zu bekommen. Frühestens Ende Januar, Anfang Februar. Jetzt sind erst mal Feiertage und dann fahren wir nach Zermatt.« Falk strich die zerknitterten Ecken der Visitenkarte gerade und reichte sie Pragen.

»Was macht die Bundeswehr in Zermatt?« Pragen nahm den Zettel entgegen und las ihn aufmerksam durch.

»Unser Standort nimmt dort kommenden Frühling an einem Gebirgswettkampf teil, aber unsere eidgenössischen Kameraden haben uns bereits diesen Winter zu einer gemeinsamen Gletschertour eingeladen, um Erfahrungen auszutauschen und für die kommende Patrouille zu trainieren. Rufen Sie mich einfach nach den Neujahrsfeiertagen an, dann werde ich sehen, was sich terminlich für Sie einrichten lässt.«

»Bitte, keine Umstände«, wehrte Pragen ab: »Ende Januar, Anfang Februar reicht vollkommen. Man möchte es nicht glauben, aber ich bin selbst beschäftigt.« Nach einem schnellen Griff in die Innentasche seines Jacketts reichte er Falk ebenfalls eine Visitenkarte.

Pragens Visitenkarte war seltsam, einerseits wirkte sie elegant, andererseits schlicht. Das Papier war dünn, aber dennoch fest und griffig und die auf den ersten Blick scheinbar farblose Oberfläche war, wenn man genauer hinsah, honigfarben meliert. Viel Informationen enthielt sie nicht. In der Mitte prangte Pragens Name als brauner Schriftzug, der aussah wie von Hand geschrieben, und am Fuß standen in leicht nach rechts geneigter Maschinenschrift eine Münchner Postfachadresse und die Telefonnummer, vermutlich die seines Sekretariats. Die Rückseite war leer. Falk nahm das kleine Kärtchen entgegen und stellte, nachdem er es gründlich in Augenschein genommen hatte, fest, dass es zu klein war, um in einem Aktenordner abgeheftet werden zu können.

Man traut es ihm vielleicht nicht zu, aber Falks zweite große Leidenschaft, gleich nach der Bergsteigerei, ist das Ordnunghalten im Büro. Nachdem er seinen Posten unter meinem Kommando bezogen hatte, entfaltete sich diese Leidenschaft zu ihrer vollen Größe. Während die anderen Soldaten meiner Abteilung nach einem kräftezehrenden Marsch durch die Berge gemütlich draußen in der Sonne saßen, aßen und tranken und dabei ihr Material versorgten, leistete mir Falk lieber im Büro Gesellschaft. Er hatte ständig etwas zu tippen, zu sortieren, abzuheften oder zu stempeln. Und wenn er mit dem Papierkram fertig war, hängte er sich ans Telefon. Dieser Übereifer vertrug sich nicht mit meinem Bedürfnis nach Abgeschiedenheit, Ruhe und Privatsphäre, weswegen ich dafür sorgte, dass Falk sein eigenes Büro und seinen eigenen Telefonanschluss bekam.

Falk war selig, als er seinen Schreibtisch in das leere Zimmer gegenüber von meinem Büro schob und die Schreibmaschine darauf stellte. Das erste, was er auf dieser Schreibmaschine schrieb, war das Türschild für seine neue Dienststube: »Geschäftszimmer und Sekretariat der Sonderstabsabteilung für Sicherheit in Fels, Eis und Schnee, Leitender Feldwebel Falk Theodor Kastl.« Darunter standen die offiziellen Dienstzeiten, die Telefonnummer und das Truppenmotto. In jeder Zeile war mindestens einmal das Korrekturband bemüht worden. Die Regale stellte Falk mit hundert vorerst noch leeren Aktenordnern aus Pappe voll. Einen Aktenvernichter hielt er ebenfalls bereit, falls die zu archivierenden Daten irgendwann nicht mehr in die Ordner passen sollten und ältere Dokumente ausgemustert werden mussten.

Nachdem alles fertig eingerichtet war, erklärte er mir die neuen Regeln. Sie waren denkbar einfach, aller lästiger Papierkram würde fortan über seinen Schreibtisch laufen und auch unliebsame Telefonate wollte er für mich übernehmen, damit ich mich auf das Wesentliche konzentrieren konnte. Auf meine Frage, was denn das Wesentliche genau sei, antwortete er lediglich mit: »Keine Ahnung, Du bist der Hauptmann.« Seither kümmere ich mich um die wesentlichen Dinge, Falk um alles andere, zum Beispiel um Termine.

Nachdem er Pragen die Visitenkarte überreicht hatte und den Oberstleutnant auf Ende Januar, Anfang Februar hatte vertrösten können, räumte Falk das Feld, um nach einem kurzen, aber nicht unergiebigen Schlenker am Buffet vorbei zu dem Tisch zurückzukehren, den man eigens für die Mittenwalder Ehrengäste reserviert hatte. Pragen schaute ihm verwundert nach und wollte gerade etwas sagen, als plötzlich die Musik aussetzte. Ich wirbelte herum und starrte zur Bühne, wo sich gerade in diesem Augenblick der schwere Vorhang in der Mitte teilte.

Als Eliots rotschöpfiger Freund an das auf der Mitte der Bühne platzierte Mikrophon herantrat, um nach einem kurzen Räuspern das Abendprogramm anzusagen, eilten alle zu ihren Plätzen, als gäbe es nicht genügend Stühle. Ich rührte mich jedoch nicht vom Fleck, sondern schaute über die Köpfe der anderen Gäste hinweg Richtung Bühne. Hinter dem sich langsamen öffnenden Vorhang kamen nach und nach fast zwei Dutzend Soldaten in feiner Abendgarderobe zum Vorschein, die in zwei Reihen aufgestellt waren und offenbar nervös auf ihren Einsatz warteten. Eliot war überraschenderweise nicht darunter, was jedoch bei genauerer Überlegung die Vermutung nahelegte, dass er derjenige sein musste, der den Vorhang aufgezogen hatte. Bezüglich der auf einer langen Tischreihe aufgestellten Wasserflaschen und Weingläser hatte ich allerdings keine Vermutung. Die Gefäße waren mit Wasser gefüllt, wobei der Füllstand der Gläser und Flaschen von rechts nach links abnahm. Das Glas ganz rechts war sehr klein und etwa zur Hälfte mit Wasser gefüllt. Ganz links stand fast leere Flasche. Vor den Tischen lagen lange, dünne Holzscheite auf dem Boden wie man sie zum Heizen von Holzöfen verwendete. Als das Publikum lachte, schreckte ich auf. Ich hatte nicht zugehört und wusste nicht, worum es ging.

Der Rotschopf hatte seine Ansage jedoch offenbar beendet und das Ensemble machte sich bereit. Einige nahmen hinter den Weingläsern Platz, andere blieben stehen und nahmen eine Wasserflasche zur Hand, während sich wieder andere, eine kleine Gruppe von nur vier Leuten, vor den Tischen zu den Holzscheiten auf den Boden setzten. Der Rotschopf war einer von ihnen. Als Pragen mein Erstaunen bemerkte, weihte er mich in die Hintergründe ein. Die Feldwebel und Offiziere des Münchner Geheimdienststabs hatten die letzten zwei Abende und Nächte damit verbracht, ein Musikstück von irgendeinem bedeutenden klassischen Künstler auf einer improvisierten Glasflaschenorgel einzustudieren. Die Töne wurden durch das Blasen einer Flasche oder durch eine leichte Berührung am oberen Rand eines Weinglases erzeugt. Da jeder dabei nur einen einzigen Ton spielte, mussten die Musikanten ihre Einsätze präzise beherrschen, und da sie keinen Dirigenten hatten, spielte sich die Orgel quasi von selbst.

Die Ankündigung des Experiments hatte die Gäste bereits in ein erwartungsvolles Fieber versetzt, das sich, nachdem die Musikanten Aufstellung genommen hatten, in einem spontanen Applaus entlud. Als sich jedoch die Lichter in der Festhalle verdunkelten und die Bühne in einem mystischen blauen Licht erstrahlte, wurde es still im Saal. Ich vermutete, dass es wieder Eliot gewesen sein musste, der hinter den Kulissen den Lichtschalter betätigt hatte. Für ein paar Sekunden hörte man nichts bis auf verhaltenes Räuspern und Husten, unter das sich jedoch plötzlich ein zunächst noch leises, aber langsam lauter werdendes monotones Klopfen mischte. Die Gäste an den hinteren Tischen reckten den Hals, um einen Blick auf die Vorgänge auf der Bühne zu erhaschen. Da ich stand, konnte ich gut sehen, wie die auf dem Boden sitzenden Musikanten die trockenen Holzscheite gegeneinander schlugen. Der Rotschopf gab dabei offenbar durch sein Kopfnicken die Taktgeschwindigkeit vor.

Als das Schweigen des Publikums nach nur wenigen Takten in ein ungeduldiges Flüstern überging, hallten plötzlich wie zur Ermahnung ein dunkler, pfeifender Ton und ein helles, vibrierenes Zirpen über die Köpfe der Gäste hinweg. Das Flüstern erstarb im Nu, um einer auf Falschen geblasenen und aus Weingläsern beschworenen Melodie Platz zu machen. Als das Experiment, aus dunklen Pfeifentönen und hellem Gläserzirpen Musik zu formen, tatsächlich zu gelingen schien, ließ es sich das Publikum nicht nehmen, den Musikanten einen so heftigen Applaus zu zollen, dass die Melodie kurzzeitig von lautem Klatschen übertönt wurde. Die Melodie folgte zwar einem einfachen Muster, das sich nach nur wenigen Takten wiederholte, aber das originelle Orchester spielte sich in einen Rausch, der sich auf den ganzen Saal übertrug. Auch ich war von den aus den Flaschen und Gläsern aufsteigenden Farben beeindruckt, die durch das Klappern der Holzscheite wie Konfetti in die Luft gewirbelt wurden.

Ich hatte das Gefühl, die Arme um den Kopf schlingen zu müssen, um die auf mich einprasselnden Farbfunken abzuwehren, da ich jedoch nichts von dem Spektakel verpassen wollte, riss ich die Augen noch weiter auf, anstatt sie zu schließen, und starrte wie gebannt ins Licht. Meine Neugierde wurde belohnt, als sich plötzlich hinter den Holzscheitklopfern, Glasbeschwörern und Flaschenbläsern eine geisterhafte Erscheinung erhob. Ein überraschtes Stöhnen ging durch den Saal und von überall her zeigten nun Finger auf die Bühne, wo sich ein bleicher Mond in einem dunklen Bergsee zu spiegeln schien. Selbst ich war einen kurzen Moment irritiert und erkannte erst beim zweiten Hinsehen, dass es sich bei dem seltsamen Mond nicht um einen Geist, sondern um eine Person handelte. Es war Eliot, dessen dunkler Anzug mit dem noch dunkleren Hintergrund zu einer unscharfen Kontur verschmolz, wodurch sein durch die diffuse Bühnenbeleuchtung ätherisch schimmerndes Gesicht scheinbar körperlos in der Luft schwebte. Als ich ihn sah, verwandelte sich mein gesunder Pessimismus schlagartig, und ohne dass ich etwas hätte dagegen unternehmen können, in einen ebenso irrationalen wie wohltuenden Optimismus. Aus Wut wurde Hoffnung und mit einem Mal war ich der festen Überzeugung, dass ›vielleicht und später‹ niemals als Zurückweisung gemeint gewesen war, sondern als Versprechen.

Voller Zuversicht und Erwarten beobachtete ich, wie Eliot eine silberne Flöte gegen seine Lippen presste und einen sanften, aber klaren Ton anstimmte. Der Klang der Flöte war so kraftvoll, dass er die anderen Instrumente in den Hintergrund schob. Die Flaschen, Gläser und Holzscheite setzten ihr sich ständig wiederholendes Muster tapfer fort, während die Flöte dem bunten Klangteppich einen neuen Farbton hinzufügte. Wie flüssiges Silber wob er sich zwischen die anderen Fäden. Wo zuvor nur ein chaotischer Strudel aus ineinander fließenden Farben geherrscht hatte, entstand plötzlich eine greifbare Struktur, eine plastische Gestalt, ein lebendiges Wesen, das sich mit breiten Schwingen aus seiner Wiege erhob und mit majestätischen Flügelschlägen durch den Raum flog. Je weiter sich das Wesen jedoch von seinem Schöpfer entfernte, desto mehr verlor es an Kraft, bis es schließlich wie prickelnder Nieselregen zur Erde fiel, um Platz für die nächste Welle aus gleißendem Silber zu schaffen. Man hätte mir Befangenheit unterstellen können, aber die Reaktion des unvoreingenommenen Publikums bestätigte mein Empfinden. Mit den ersten Flötentönen erhob sich verhaltener Beifall, der jedoch sogleich wieder erstarb, um das Kunstwerk nicht zu stören.

Eliot selbst war von einer solchen Seelenruhe, dass es schien, als genüge der bloße Gedanke an einen Ton, um ihn wie einen Flaschengeist aus dem metallenen Körper der Flöte heraufzubeschwören und in die Freiheit zu entlassen. Die anderen Instrumente verblassten immer mehr, während sich Eliots Spiel wie das Schmelzwasser der Höhengletscher im Frühling zu einem wilden Gebirgsbach entwickelte. Es wurde voluminöser, intensiver und vor allen Dingen schneller. Die Hölzer legten ein sich stetig steigerndes Marschtempo vor und Eliots Finger glitten bald so flink auf und ab, dass sie nur noch als verschwommene Spur aus Luft und aufgewirbelten Lichtatomen zu erkennen waren – wie ein Schneesturm oder die Vibration eines Sicherungsseils nach einem Fangstoß.

Eine erneute Woge aus Beifall und erstauntem Rumoren brauste auf, doch Eliot schien, den Trubel nicht zu bemerken. Seine Augen waren geschlossen und sein Körper wiegte im Rhythmus der Melodie, um die Töne zu formen, zu beflügeln und mit einem zärtlichen Impuls in ihr kurzes Leben zwischen den Tonlöchern seiner Flöte und den Herzen der Zuhörer zu verabschieden. Kaum hatte er einen Ton auf die Reise geschickt, entstand aus seinem Atem und dem Klangkörper seiner Flöte auch schon der nächste. Es war ein permanentes Entstehen und Vergehen. Hier gab es kein Haben, sondern nur das Sein und der Augenblick, wie ein Blick durch ein Kaleidoskop.

Die anderen Instrumente hatte Eliot längst abgehängt. Nachdem sie sich immer öfter verhaspelt hatten, waren sie dazu übergegangen, den Taktschlag der Holzscheittrommler zu unterstützen und das Spiel der Flöte mit einem leisen Stakkato aus klirrendem Glas zu untermalen. Die hölzernen Taktschläge zogen noch immer an, doch Eliot hielt das Tempo mit. Nicht nur das, sein Spiel schien mit zunehmender Geschwindigkeit sogar an Klarheit und Volumen zu gewinnen. Ich wünschte mir, dass es niemals enden würde, spürte aber, dass die Melodie einem Höhepunkt entgegenstrebte. Wie beim Klettern erreicht man auch bei der Musik irgendwann einen Punkt, ab dem jeder Schritt Umkehr bedeutet: den Gipfel. Man steht dort oben selig, dehydriert und hat das Beste hinter sich. Man kann seinen Rucksack ablegen, seine blutleeren Hände kneten, in den Himmel starren, das Gipfelkreuz berühren, seine Gedanken im Gästebuch verewigen oder die juckende Mütze absetzen, um sich am Kopf zu kratzen, aber dort oben ist der Weg zu Ende und Weitergehen heißt Umkehren und Zurückgehen.

Auch Eliots Flötenspiel erreichte schließlich diesen unausweichlichen Punkt. Nachdem der letzte Ton auf die andächtig lauschenden Gäste herabgeregnet war, stampfte das gesamte Orchester mit den Füßen auf die harten Bühnenbretter, um das Musikstück mit einem donnernden Schlag zu beenden. Die Gäste erhoben sich applaudierend von ihren Stühlen und baten um Zugabe, als die Musikanten sich an den Händen fassten und gemeinsam nach vorne traten, um sich vor ihrem Publikum zu verneigen. Ich schaute zu Pragen. Er schien zutiefst gerührt und klatschte mit über den Kopf erhobenen Händen Beifall. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich vergessen hatte, mich an dem Applaus zu beteiligen. Schnell kramte ich meine Hände aus den Taschen und stimmte ein wenig verspätet in den allgemeinen Jubel ein.

Der Applaus hätte vielleicht nie geendet, wenn nicht der Rotschopf ans Mikrofon getreten wäre, um den Lärm der Zuschauer zu bändigen und eine Ansage zu machen. Die Münchner Truppe habe sich nämlich in diesem Jahr, tönte er, eine besondere Überraschung für ihren Dienststellenleiter überlegt. Unter erneutem Beifall, der dieses Mal von der Bühne her erscholl, wurden nun Pragen und Cecilia ins Rampenlicht gerufen.

Als hätten sie es tausendfach einstudiert, sprangen zwei Offiziere herbei, um Cecilias Rollstuhl mit einem einzigen, kräftigen Hauruck auf die Bühne zu hieven. Auch Pragen verzichtete auf den Treppenaufgang und kletterte behände hinterher, wo man ihn und Cecilia sogleich mit theatralischen Danksagungen, herzlichen Umarmungen und Geschenken überhäufte. Cecilia erhielt ein Blumengesteck und eine in Holz gerahmte Urkunde, die sie als Mutter der Münchner Dienststelle auszeichnete, Pragen überreichte man hingegen ein geheimnisvolles Päckchen.

Sowohl der Saal als auch die Truppe auf der Bühne warteten nervös auf die Reaktion des Oberstleutnants, während dieser vorsichtig an den Schleifenbändern zog, um schließlich eine unscheinbare, schmale Pappschachtel zum Vorschein zu bringen. Die losen Schleifen und das Geschenkpapier wurden umgehend von einem Unteroffizier aus dem Bild geräumt, damit Pragen die Hände freihatte, um sein Geschenk in Augenschein zu nehmen. Pragen lüpfte den Deckel der Schachtel und spähte hinein. Doch anstatt seine Freude über das Geschenk zum Ausdruck zu bringen oder diese wenigstens anstandshalber vorzutäuschen, machte er nur ein entgeistertes Gesicht. Auch Cecilia schlug, nachdem sie einen Blick in das Kästchen geworfen hatte, zunächst nur entsetzt ihre Hand vors Gesicht, bevor sie schließlich mit einem zutiefst gerührten Lächeln aufblickte. Auch der Oberstleutnant rang sich daraufhin zu einem Lächeln durch. Wie zum Trost legte seine Hand auf Cecilias Schulter und nickte bestimmt in die Runde, bevor er jeden Einzelnen kurz, aber beherzt in die Arme schloss, um seinen Dank auszudrücken. Cecilia tat es ihm gleich und schenkte jedem eine sanfte Umarmung. Mir wurde das langsam zu viel. Ich begab mich zu unserem Tisch und trank nun endlich meine Milch. Sie hatte inzwischen die perfekte Trinktemperatur, auch wenn alles andere alles andere als perfekt war.

Als endlich alle Hände geschüttelt, alle Schultern geklopft und alle Wangen geküsst waren und sich bereits ein ungeduldiges Raunen im Zuschauerraum breitzumachen drohte, hielt Pragen ein schmales, längliches Glasprisma mit einer silbernen Gravur in die Höhe. Wie eine Welle brauste die stille Post von den vorderen Tischreihen, die den Schriftzug noch ohne Feldstecher entziffern konnten, bis zu den hinteren Tischreihen und bald war der ganze Saal ein einziges Raunen aus ›Wie, was steht auf dem Schild?‹, ›Marcus Pragen!‹, ›Marcus Pragen?‹ und ›Ja, Marcus Pragen!‹

Als mir klar wurde, dass es sich um nichts weiter als ein Namensschild handelte, wurde ich ärgerlich. Diese ernüchternde Enthüllung unterbot sämtlich Erwartungen, die die zuvor übertrieben zur Schau gestellte Rührseligkeit in mir geschürt hatte. Aus allen Richtungen wurden zwar Ohs und Ahs laut, aber mir blieb der tiefere Sinn verschlossen. Auch in Andrés Augen standen Fragezeichen und Falk schüttelte ratlos den Kopf. Als ich jedoch wieder zu Eliot emporsah, spürte ich plötzlich, dass ihn eine innigliche Vertrautheit mit den Menschen um ihn herum verband, mit Pragen, Cecilia und all den anderen Kameraden und Kollegen. Sie alle wussten das Mysterium hinter dem Namensschild zu deuten – wie eine Geheimsprache oder die wortlose Kommunikation zwischen zwei gut eingespielten Seilgefährten.

Eliots Welt lag zum Greifen nah, aber dennoch konnte ich ihn nicht erreichen. Er schien mir plötzlich ferner, als er es die vergangenen drei Monate über gewesen war, während deren die Strecke von Mittenwald bis München wie eine kilometerdicke Mauer zwischen uns gelegen hatte. Ich wurde von einer unbändigen Eifersucht ergriffen und reagierte ziemlich ruppig, als sich Falk in seiner angeheiterten Laune zu mir herbeugte und mich vertrauensvoll am Ärmel zupfte: »Möchtest Du auch so ein Namensschild? Du kannst es mir ruhig sagen!« Gunnar brach in ein irres Kichern aus, aber es war keine Kunst, ihn zum Lachen zu bringen. Er war beschwipst.

»Lass gut sein.« Mit einer mürrischen Bewegung schob ich Falks Hand beiseite und konzentrierte mich auf die Bühne und den kleinen Seitenaufgang. Ich durfte Elli nicht wieder aus den Augen verlieren. Als Pragen ans Mikrofon trat, machte ich mich schon auf eine lange Rede gefasst, aber er sprach ohne langes Räuspern und ohne große Vorrede nur ein paar wenige Worte und blieb auf diese Weise auch eine Erklärung für den Zirkus um das Namensschild schuldig: »Danke«, sagte er kurz und knapp, ohne sich damit an eine bestimmte Person zu wenden, sodass man meinte, er spräche zu uns allen: »Eine exzellente Truppe und ein großartiges Jahr! Ich freue mich schon auf ein gemeinsames 1992. Aber nun lasst uns feiern!« Das war seine ganze Rede.

Das Publikum klatschte höflich Applaus und das Ensemble stampfte zusätzlich mit den Füßen dröhnend auf die Bühnenbretter. Pragen sprang vom Podest herab und reichte Cecilia die Hand, die von eilfertigen helfenden Armen heruntergehoben wurde. Als das Rampenlicht erlosch und der Vorhang zugezogen wurde, kam wieder Leben in den Saal: Eine Heerschar an Kellnern wuselte um die Tische herum, um leere Teller und Gläser einzusammeln. Das Musikensemble kämpfte sich unter dem schweren Vorhang hervor und sprang von der Bühne oder quoll durch die kleine Seitentür in den Festsaal. Wer sich nicht um Pragen und Cecilia drängte, stürmte nach draußen, zu den Toiletten oder zum Buffet. Auch meine Leute stieben jeder nach seinen Nöten auseinander und zerstreuten sich in alle Himmelsrichtungen.

Meine Not war jedoch eine andere. Eliot war nirgends zu sehen. Ich wühlte mich durch die sich zwischen Stühlen und Tischen stauenden Leiber bis zum Seitenaufgang vor und betrat den düsteren Bereich hinter der Bühne. Nur ein grünlich leuchtendes Notausgangsschild sorgte für ein wenig Licht. Loses Kabelgewirr hing von der Decke. Ein Sicherungskasten summte leise. Leere Getränkekisten standen Spalier. Aufeinandergeschichtete Klapptische und Bänke versperrten den Weg. An der Wand lehnten gespenstige Papprequisiten. Alle Farben waren erloschen und mit ihnen scheinbar auch alles Leben. Vorsichtig trat ich auf die knarrenden Holzdielen der Bühne, wo ich inmitten der sich ins Unendliche ausdehnenden Dunkelheit einen einsamen Schatten fand. Er saß zusammengekauert auf einem kleinen Schemel an der hinteren Wand und balancierte seine Flöte auf seinen Knien. Aus dem ›vielleicht und später‹ war ein ›hier und jetzt‹ geworden, Eliots geknickte Haltung drosselte jedoch meine Euphorie. Ich tappte vorsichtig durch die Dunkelheit, setzte mich neben ihn und fragte besorgt nach seinem Befinden.

»Gleich geht es mir wieder gut«, sagte er zäh, aber seine Stimme klang matt. Er schaute mich mit glasigen Augen an und zeigte mir zwei Fiebertabletten: »Jan, holt mir eben etwas zu trinken.«

»Jan? Der Franzose von vorhin?«, fragte ich und befühlte Eliots Stirn und Nacken. Sein Körper glühte. Trotz seiner schlechten Verfassung lachte er: »Ja, der Franzose von vorhin.«

Ich riet ihm, sich auszuruhen, und fragte ihn, ob er heute noch nach München zurückfahren würde. Es stellte sich jedoch heraus, dass Pragen das gesamte Stabspersonal in einem bewirtschafteten Nebengebäude des Schlosses einquartiert hatte, wo sich Elli ein Doppelzimmer mit seinem Freund und Kameraden Jan teilte. Elli wollte das Fest allerdings noch nicht verlassen, da er einer nicht unbeträchtlichen Anzahl an Damen einen Tanz auf dem Jahresball versprochen hatte. Ich hielt es für keine besonders gute Idee, sich angeschlagen und fiebrig in den Festsaal hinauszuquälen, nur um dort für die Frauen der Generäle den Kavalier zu spielen und deren Töchter mit seiner Grippe anzustecken. Ihm wegen einer heißen Stirn gleich eine Grippe andichten zu wollen, hielt er für übertrieben. Er fühle sich nur ein wenig abgeschlagen, kraftlos und müde. Auf mein skeptisches Stirnrunzeln hin, erklärte er, dass es ihm nicht ums Tanzen gehe, sondern darum, sein gesellschaftliches Soll zu erfüllen. Ich hatte noch nie getanzt und hatte dazu auch keine Meinung, und da wir uns offenbar nicht darauf einigen konnten, was nun das Beste für ihn war, schwiegen wir.

Die Minuten verstrichen, Jan kam nicht bei und Eliot und ich saßen im Halbdunkel und hatten uns nichts zu sagen. Auf der anderen Seite des Vorhangs wurde unterdessen munter getratscht und gelacht.

»Du spielst gut«, sagte ich schließlich und deutete auf die Flöte.

»Das sagst Du nur, weil Du nichts davon verstehst«, erwiderte er ruppig.

»Das stimmt«, gab ich zu: »Ich stehe vor Deiner Musik wie ein Blinder vor einem Gemälde. Aber vielleicht kann der Blinde die Texturen der aufgetragenen Farben fühlen oder die getrockneten Öle riechen und hat daran seine Freude. Meinst Du, Du könntest dem Blinden sein bescheidenes Glück erlauben?«

Mit einem erschöpften Seufzen lehnte sich Eliot gegen die Wand und lockerte den Knoten seiner seltsamen Krawatte, ein in mehreren Schichten gefälteltes weißes Spitzentuch. Ich dachte schon, wir würden den Rest der Zeit, bis sein Freund das Wasser geholt hatte, mit Schweigen zubringen, als er sich plötzlich bei mir entschuldigte: »War nicht so gemeint«, sagte er knapp und schaute mich an, als wartete er auf meine Absolution, die ich ihm mit einem schlichten Schulterzucken schließlich auch erteilte. »Danke«, sagte er und lehnte sich wieder zurück: »Es ist nur …« Ellis Stimme klang plötzlich verlegen: »Ich finde, Du hast Recht. Ich war wirklich nicht schlecht.«

»Ja?«, fragte ich erstaunt über dieses unvermittelte Bekenntnis.

»Schon irgendwie«, bestätigte er: »Wenn man bedenkt, wie elend ich mich heute schon den ganzen Tag über fühle. Die Flaschenorgel war übrigens meine Idee. Eine geschlagene Stunde habe ich hier hinten im Dunkeln mit dem Stimmen der Flaschen und Gläser zugebracht. Mit einer Pipette und einem Holzstäbchen habe ich den Wasserstand reguliert und die Tonhöhe überprüft.« Eine Mischung aus berechtigtem Selbstbewusstsein und Verlegenheit über das unverhohlene Eigenlob schlich über seine erschöpften Gesichtszüge. Wenn sein Blut nicht Wichtigeres zu tun gehabt hätte, als sich um seine Eitelkeit zu kümmern, wäre er vielleicht sogar rot geworden. Ich lachte und nahm ihm vorsichtig die Flöte ab. Seine kraftlosen Finger gaben das Instrument widerstandslos frei. Als hätte ich eine Last von ihm genommen, schlang er beide Arme um seine Schultern und schloss die Augen.

Während Jan noch immer auf sich warten ließ, untersuchte ich das bizarre Instrument, so gut es die bescheidenen Lichtverhältnisse zuließen. Auf dem Mundstück war Ellis Lippenabdruck zu sehen, ein kristallartiges Muster aus getrocknetem Speichel und Talg – das Fossil einer erinnerten Berührung. Der eigentliche Flötenrumpf war mit so vielen Hebeln, Scharnieren und Klappen versehen, dass man gar nicht wusste, wie man ihn halten sollte, ohne etwas kaputt zu machen. Die Mechanik wirkte auf den ersten Blick unheimlich kompliziert. Es gab Hebel, um Tonlöcher zu schließen, und welche, um sie zu öffnen. Manche der großen, kleinen, runden, länglichen oder tropfenförmigen Schalter betätigten gleich mehrere Klappen auf einmal, andere zeigten ihre Wirkung an ganz unerwarteter Stelle und wieder andere taten scheinbar gar nichts. Ich drehte das Instrument vorsichtig in meinen Händen hin und her, probierte die verschiedenen Schalter aus und beobachtete gespannt, was passierte. Das Gerät war so sensibel, dass bei jeder Berührung der Klappen ein leiser Ton entwich. Genauer gesagt zwei: einer beim Schließen der Klappen und ein zweiter beim Öffnen. Ein kaum wahrnehmbares, geisterhaftes Hauchen in verschiedenen Farbnuancen und Tonhöhen.

»Du hörst es also auch? Es ist, als ob die Flöte flüstern würde, nicht wahr?« Eliots Augen waren geöffnet und musterten mich mit einem erwartungsvollen Blick. Ich unterbrach meine Inspektion und nickte. Ich hatte nicht bemerkt, dass er mich beobachtet hatte.

»Als ich während meiner Grundausbildung in der Kaserne wohnen musste«, begann Eliot plötzlich zu erzählen, »habe ich eine Zeit lang nur Flüstertöne spielen können. Jan behauptet zwar immer, ich würde lediglich mit den Tasten klappern, aber das stimmt nicht. Die Töne sind da. Sie sind nur leise und heimlich.« Zu der krankheitsbedingten Hitze gesellte sich ein zweites Fieber, die Leidenschaft für sein Instrument. Trotz seiner Abgeschlagenheit kam plötzlich Leben in ihn. Er hielt seine Hand auf und fragte mich, ob er mir etwas vorspielen solle, leise und heimlich. Ich nickte und gab ihm sein Instrument wieder.

»Und was möchtest Du hören?«, fragte er mich und wirkte mit einem Mal geradezu quicklebendig. Die Aufgabe, ein Musikstück auszuwählen überforderte mich jedoch, weshalb ich nur mit den Schultern zuckte.

»Magst Du Bach?«, fragte er daraufhin.

Ich hatte das Gefühl, dass er nur auf meine Zustimmung wartete, aber da ich es nicht genau wusste, zuckte ich wieder nur ahnungslos mit den Schultern. Elli lächelte, nahm die Flöte auf seinen Schoß und spielte die Melodie von zuvor, nur dass er dieses Mal von Anfang an ein etwas schnelleres Tempo vorlegte, da die Töne ohne den tragenden Luftstrom eine so kurze Lebensdauer hatten, dass Geburt und Tod in einem Zeitpunkt zusammenfielen. Klang und Stille wechselten einander unermüdlich ab, bis plötzlich die Tür aufgerissen wurde. Ein dunkler Schatten polterte die Treppen zur Bühne herauf und blieb mit in die Hüften gestemmten Armen vor uns stehen: »Aïe! Klapperst Du wieder auf Deinen Tasten herum?«

»Jan«, seufzte Eliot. Jan schnitt eine Grimasse und reichte Eliot ein Glas Wasser. Anschließend wandte er sich an mich – an dieser Stelle erfuhr ich nun auch ganz offiziell seinen Namen und er meinen, das Du verstand sich von selbst – und klagte mir sein Leid, als wären wir alte Bekannte: »Ich muss dieses Klappern schon seit Jahren ertragen. Kannst Du Dir das vorstellen? Auf der Stube, im Schützengraben, auf der Wache, im Zelt. Seit Jahren! Kannst Du Dir das vorstellen?«

»Du übertreibst, Jan.« Eliot hatte das Glas Wasser mit einem ausgetrunken und atmete tief durch.

»Ich übertreibe nicht«, entrüstete sich Jan. »Ich höre das Klappern der Tasten noch immer in meinem Kopf. Es verfolgt mich!«, flüsterte er mir zu und mimte dabei einen verzweifelten Schrei.

»Übertreib nicht Jan«, wiederholte Elli: »Ich fühle mich fiebrig und matt, aber ich weiß nicht, wie ich mich aus der Verantwortung stehlen soll.« Er nestelte ein kleines Stück Papier aus der Innentasche seiner Jacke. Jan schnappte sich den Zettel und versuchte, die Schrift im Dunkeln zu entziffern: »Mon Dieu, mon bon Dieu, wie viele Mädchen hast Du denn auf Deiner Tanzkarte?« Diese sogenannten Tanzkarten waren – wie sich gleich herausstellen sollte – nichts weiter als Handnotizen über versprochene Tänze. Diese Versprechungen waren auf die unterschiedlichste Art und Weise zustande gekommen. Manche waren von Pragen eingefädelt worden, andere hatten sich durch die Pflicht gegenüber höhergestellten militärischen Rängen ergeben und wieder andere waren ihnen von ihren Kolleginen aus der Verwaltungsetage ihrer Dienststelle abgenötigt worden.

»Acht«, antwortete Eliot.

»Sportlich, mon ami, aber wenn Du willst, kann ich Deine Tanzkarte für Dich abarbeiten. Zusammen mit meinen drei wird das ein abendfüllendes Programm. Aber keine Sorge, ich werde Dich würdig vertreten. Das lenkt vielleicht auch Aurelies Aufmerksamkeit auf mich und dann … « Jan stellte die Augen: »… bitte ich sie zum Tanz: M’accordez-vous la danse – suivante?«, sagte er stockend: »Was meint Ihr? Hört sich das gut an?« Doch Eliot lachte nur und ich hatte keine Meinung. Jan zückte ein gelbes Taschenwörterbuch und suchte angestrengt nach einem Eintrag: »Oder lieber prochaine

»Kann sie denn kein Deutsch?«, fragte ich irritiert.

Jan verdrehte die Augen: »Natürlich kann sie Deutsch, aber als echter Gentleman …« Er sprach nicht weiter, sondern blätterte wieder in seinem Wörterbuch: »Also was jetzt: la suivante oder la prochaine

Elli und ich antworteten gleichzeitig: »La suivante«, sagte er, ich hingegen: »La prochaine.« Jan verzog das Gesicht.

»Und wie soll ich den Saal verlassen, ohne dass ich mich auf dem Weg nach draußen hundert Mal für meine Unpässlichkeit entschuldigen?«, fragte Elli. Jan dachte kurz nach und blätterte dann wieder in seinem schlauen Büchlein, als ob er darin die Antwort auf Ellis Frage finden könnte: »La fenêtre!«, rief er schließlich und zeigte Richtung Bühnenaufgang: »Zwischen Treppe und Podium ist ein abgedunkeltes Fenster«, erklärte Jan auf unsere entgeisterten Blicke hin: »Auf diese Weise kommst Du zwar nicht an der Garderobe vorbei, aber die paar Schritte bis zum Gästehaus überlebst Du auch ohne Mantel.«

So machten wir es. Wir, wohlgemerkt! Elli und ich sprangen durch das kleine Fenster nach draußen in den weichen Schnee und Jan reichte uns die Flöte, ein kleines Köfferchen, einen zusammenklappbaren Notenständer und ein paar Notenblätter heraus, die ich für Elli entgegennahm.

»Allez vite, allez vite, mes amis«, rief Jan uns nach, bevor er das Fenster hinter uns schloss.

Ganz ungeschoren kamen wir jedoch nicht davon, denn als wir über den verlassen geglaubten Parkplatz eilten, stießen wir unversehens mit einem Offizier zusammen. Ein älterer Jahrgang aus dem Sanitätskommando. Schlohweiße Schläfen, tiefe Geheimratsecken, fahle Pergamenthaut, schmale Lippen und ein berechnender strenger Blick. Wir grüßten hastig und wollten gleich weiter, doch der Alte hielt uns mit einer gebieterischen Geste auf: »Sie sind also der junge Luv?« Mich schien er gar nicht wahrzunehmen, zeigte dafür aber umso mehr Interesse an Elli, dessen erstaunter Blick mir jedoch verriet, dass ihm der Offizier ebenso fremd war wie mir.

Eliot wollte etwas erwidern, wurde jedoch unterbrochen, eher er auch nur ein Wort sagen konnte: »Oberstarzt Schwäher«, stellte sich der Fremde nun vor und nahm Ellis Hand. Den Lakaien, der den Flötenkoffer trug, würdigte er keines Blicks.

»Der Sohn von Generalarzt Lysander Josef Luv«, stellte Schwäher mit einem zweifelnden Unterton in der Stimme fest. Er gab Eliot jedoch weder die Gelegenheit, diese Zweifel aus der Welt zu räumen, noch sie zu bestätigen: »Sehr erfreut, sehr erfreut Ihre Bekanntschaft zu machen«, fuhr er stattdessen fort: »Der werte Herr…?« Schwäher stockte, während seine Augen Eliots Ausgehgarnitur nach einem Rangabzeichen absuchten.

»Oberfeldwebel«, kam Eliot ihm zuvor, doch ich spürte Trotz in seiner Stimme.

»Der werte Herr Oberfeldwebel, jawohl, Oberfeldwebel Luv also«, fuhr der Alte fort: »Ihr Spiel war beeindruckend!« Trotz der schmeichelhaften Worte lag ein Vorwurf in Schwähers Stimme: »Ich kannte ihren Vater« erzählte er weiter: »In seinem Verlag erschienen 1981 und 1983 die ersten beiden Bände meines medizinischen Propädeutikums für die wehrmedizinische Forschung. Außerdem bin ich ein Kenner und Verehrer seiner Schriften – selbst seine Handnotizen habe ich allesamt gelesen. Als man mir während der Vorführung zuflüsterte, dass es sich bei dem Flötensolisten um Lysanders Kronprinzen handeln sollte, wollte ich es zuerst nicht glauben. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Es ist nur …« Er suchte nach den richtigen Worten: »Ich hätte mehr von Ihnen erwartet«, kam er schließlich zum Punkt. Ellis Gesichtszüge verhärteten sich, er erwiderte jedoch nichts. Deswegen trat ich vor und bat den Oberstarzt, uns zu entschuldigen. Nun erst schien er, Notiz von mir zu nehmen.

»Moment«, sagte er und musterte mich eindringlich: »Sie kenne ich doch auch! Sie sind Hauptmann Wilhelm Fenner! Ich habe über Ihre Erfolge in Oslo gelesen!«

»In Oslo gab es keine Erfolge«, korrigierte ich ihn.

»Doch, doch«, meinte er nun wiederum, mich korrigieren zu müssen: »Man erzählt es sich überall. Der Sieg des eisernen Willens und treuer Kameradschaft. Außerdem, wenn man Ihre Erfolge in den Vorjahren betrachtet – Ihre Siege in der Schweiz, Österreich, Frankreich und in der Heimat, dann sind Sie doch ein wahrer Held.«

Ich ging jedoch nicht darauf ein, sondern bestand auf meiner Eile und suchte nach einem förmlichen, aber nachdrücklichen Abschiedsgruß zusammen mit Elli das Weite. Wir rannten über den von Winterreifen, Schneeketten und Stiefeltritten weiß planierten Parkplatz und über die unter knietiefen Schneemassen begrabene Wiese zum Gästehaus, als Elli plötzlich prustend innehielt: »Es stimmt, was er sagt. Du bist ein Held. Jedenfalls macht die Presse einen aus Dir und ich spreche nicht nur vom bundeswehrinternen Wochenblatt, sondern von den Berichten der Sportmagazine und von den Kurzmeldungen in den großen deutschen Zeitungen.«

Obwohl es mir gefiel, dass er sich anscheinend über mich informiert hatte oder zumindest im Zuge seiner Recherchen als Lakai des Ministeriums über meinen Namen gestolpert war, zuckte ich nur mit den Schultern. Ich hatte kein klares Bild von der Person Wilhelm Fenner, von der die Zeitungen so viel zu berichten wussten. Als ich vor fünfzehn Jahren auf diesen Namen getauft wurde, hatte er schon keinerlei Bedeutung für mich und auch die Titel und Auszeichnungen, die sich im Laufe der Jahre wie Krangel in einem Seil daran festhefteten, waren für mich nur leere Worthülsen: Gebirgsjäger, Hauptmann, Heeresbergführer oder irgendein anderer interessant klingender, letztlich aber bedeutungsloser Zusatz.

Ich war bereits dreizehn Jahre alt, als ich auf meinen Namen getauft wurde. Es war mitten in der Nacht und ich kannte weder den Mann, der meinen Namen mit einer altmodischen Schreibmaschine auf meiner Abstammungsurkunde verewigte, noch die Frau, die mich in diese unwirkliche kleine Hütte inmitten der weitläufigen Rigaer Außenbezirke gebracht hatte.

»Wie möchtest Du denn heißen, Kind?«, fragte mich der fremde Mann und schenkte mir ein freundliches Lächeln. Ich begriff zwar, dass er sich große Mühe gab, mich nicht weiter zu verstören, und es gut mit mir meinte, brachte aber dennoch kein Wort über meine Lippen. Tomos grausamer Todeskampf und seine Schreie saßen mir noch lähmend in Fleisch und Knochen.

»Sag uns einfach einen Namen, den ich mit meiner Schreibmaschine für Dich aufschreiben kann«, fuhr der Mann in seinem mit einem starken russischen oder lettischen Akzent belegten Deutsch fort und streichelte mir mitfühlend über den Kopf, während die fremde Frau langsam nervös zu werden schien und unruhig in der Stube auf und ab lief. Ich hatte meine Sprache noch immer nicht wiedergefunden, sondern versuchte lediglich, die Situation zu begreifen.

»Wilhelm wäre doch ein schöner Name«, schlug der Mann schließlich vor und lachte mir zu: »Möchtest Du Wilhelm heißen? Ich glaube, der Name würde gut zu Dir passen. So hießen schon viele Könige und Kaiser.« Ich wollte nicht Wilhelm heißen. Wer würde das schon wollen? Doch ich schaute nur unschlüssig zwischen den beiden Erwachsenen hin und her und schwieg. Alle meine Gefühle und Gedanken drehten sich um Tomo, den ich irgendwo draußen auf den Feldern zurückgelassen hatte. Als die Frau ungeduldig an den Vorhängen zupfte und ängstlich nach draußen spähte, legte der Mann, ohne länger auf meine Antwort zu warten, seine Finger auf die Tasten der Schreibmaschine und begann zu tippen. Klack, klack, klack hämmerten die kleinen Eisenstempel auf das weiße Blatt Papier und hinterließen dabei eine schwarze Spur aus zierlichen Buchstaben: Wilhelm.

»Einen Nachnamen haben wir auch schon für Dich: Fenner. Ein schöner Name, nicht wahr? Und sehr selten«, raunte mir der Mann zu und hämmerte wieder in die Tasten. Mit einem letzen Klack, Klack, Klack tippte er noch Datum, Ort und die Namen meiner angeblichen leiblichen Eltern, bevor er das Amtsformular mit einem schnurrenden Geräusch von der Schreibmaschinenrolle riss: »Guten Abend, Wilhelm Fenner.« Die Frau brachte mir ein Glas Wasser, das ich dankbar annahm und gierig austrank. So wurde ich mit einem Schluck Leitungswasser auf den Namen Wilhelm Fenner getauft. Meine Erinnerung endet jedoch an dieser Stelle und setzt erst wieder ein, als plötzlich ich vor einem großen, schwarzen Eisentor stehe.

Im Nachhinein verstehe ich, dass das Waisenhaus ein notwendiges Übel zu meiner Rettung gewesen war, und dass dieser Aktion Monate, wenn nicht gar Jahre der Planung vorausgegangen sein müssen. Vielleicht waren auch geistesgegenwärtiger Opportunismus und eine große Portion Glück mit im Spiel gewesen. Milada hatte jedenfalls alles so geschickt in die Wege geleitet, dass mein kindlicher Verstand überhaupt nicht begriff, was gerade mit mir passierte. Als ehemaliges Mitglied von Meissmanns Ärztestab hatte sie gewusst, dass es wenig Sinn haben würde, die Policijas zu verständigen oder mich einfach aus dem Institut zu entführen. Das Einzige, was sie für mich hatte tun können, war mir einen Namen zu geben, mich in ein Waisenhaus zu stecken und die in Lettland ansässigen deutschen Behörden auf mich aufmerksam zu machen.

Laut meiner gefälschten Papiere war ich der Sohn eines Anfang der sechziger Jahre im Osten vermisst gegangenen Wissenschaftlerehepaars und die Leitung des Waisenhauses bestätigte, dass ich mein ganzes Leben in ihrer Obhut verbracht hatte. Die Zeit bis zu meiner Übersiedelung nach Deutschland, wo ich von Pflegeeltern aufgenommen wurde, waren für mich jedoch der reinste Alptraum. Im Waisenhaus war ich plötzlich einer von vielen anstatt der Prinz des Instituts und jeder meinte, mir Vorschriften machen zu müssen, nicht nur die Aufseher und Hauswirtschafter, sondern auch die älteren Kinder. Nur wenige sprachen Deutsch und es gab einen strikt durchgeplanten Tagesablauf.

Als man mir damals gesagt hatte, man bringe mich zu den anderen Kindern, hatte ich gehofft, dass sie mich zu Tomo brächten. An den Ort, von dem Tomo jede Nacht zu mir gekommen war. Aber damals wusste ich noch nicht, wie viele Kinder es auf der Welt gab und dass es mehr als unwahrscheinlich war, Tomo jemals wiederzusehen. Erst Oheim mischte die Karten der Wahrscheinlichkeit für mich neu, als er mir erklärte, dass die Welt klein und die Wahrscheinlichkeit, einander wiederzubegegnen, groß sei.

Inzwischen ist der Name Wilhelm Fenner erwachsen geworden und ein gefundenes Fressen für alle Redakteure, denen die undankbare Aufgabe zufällt, die Randspalten der Zeitungen mit Kurznachrichten zukleistern zu müssen. Es ist immer das Gleiche: mein Name mit ein paar Ziffern hintendran – Platzierungen, Rekordzeiten, Wegstrecken, Spitzengeschwindigkeiten, Höhenmeter, Alter, Bataillonsnummer und so weiter. Zuletzt war es Oslo, davor waren es andere Austragungsorte.

»Ich habe auch von Eurem Oslo-Siegeszug gelesen und ein Bild von Dir in der Zeitung gesehen«, fuhr Elli fort. Ich wusste, von welchem Bild er sprach: das verfrühte Siegeswehen der deutschen Fahne vom ersten Wettbewerbstag. Es war anscheinend das einzige Bild, das der Presse zur Verfügung stand. Es wiederholte sich in jedem Artikel. Ich kenne sie alle, denn Falk hat sie gesammelt, um sie über unserem Stammtisch im Mannschaftsheim an die Wand zu pinnen, wo ein, zwei Mal die Woche das Plenum unserer Stabsabteilung tagt – beengt und stickig, aber immer sehr kreativ und ergiebig.

»Du sahst auf dem Foto sehr unzufrieden aus«, fügte Elli hinzu, verbesserte sich jedoch sogleich: »Nein, nicht unzufrieden, eher betrübt. Ein trauriger Blick aus Einsamkeit, Verlorenheit und einer verstiegenen Uneinigkeit mit allem außer Dir selbst.«

Ich konnte über Ellis tiefenpsychologische Analyse aufgrund eines unglücklich belichteten Augenaufschlags nur herzlich lachen und klärte ihn auf, dass ich einfach nicht fotogen sei. Er stieg jedoch nicht in mein Lachen mit ein, sondern nickte nur nachdenklich und stapfte weiter durch den Schnee Richtung Gästehaus. Ich war kurz unschlüssig, stiefelte ihm dann aber doch rasch hinterher.

Als wir endlich den schmalen und dunklen Hausflur von Eliots Unterkunft betraten, klopfte er unverzüglich den Schnee aus seinen Hosenbeinen und zückte ein Taschentuch, um damit seine Schuhe trocken zu tupfen. Ich trampelte hingegen einfach mit meinen schweren Bergstiefeln ein wenig auf dem Schneegitter herum und schmirgelte das robuste Obermaterial an den rauen Borsten der Fußmatte sauber. Als Ellis Blick auf mein klobiges Schuhwerk fiel, runzelte er amüsiert die Stirn und schüttelte den Kopf. Ich hob verteidigend die Hände und schob dem Wetter die Schuld für meine Aufmachung in die Schuhe. Die Prognose für das Starnberger Seenland habe zu festem Schuhwerk geraten. Eliot nickte schmunzelnd und machte sich an den Vorstieg in den zweiten Stock. Seine halbhohen Schnürschuhe klapperten dabei leise auf den Holzdielen. Ich schlich auf meinen quietschenden Gummisohlen hinterher.

Eliots Zimmer lag am Ende eines labyrinthartig verwinkelten Flurs und war mit einem störrischen Türriegel verschlossen. Er benötigte mehrere Versuche, bis der Schlüssel endlich griff und sich im Schloss drehen ließ. Als die Tür dann endlich aufsprang, schlüpfte ich schnell an ihm vorbei, machte Licht, durchmaß den Raum mit langen Schritten, legte den Flötenkoffer und die Notenblätter auf einen kleinen Beistelltisch ab und ließ mich in den daneben stehenden schweren Ohrensessel fallen. Ich bin durch Falks harte Schule gegangen und weiß, wie man sich aufdrängt.

Eliot schaute mich verdutzt an: »Tut mir leid, dass ich Dich in die Sache mit reingezogen habe, aber ich möchte Dich nicht unnötig aufhalten.«

Ich versicherte ihm, dass ich froh war, der Feier für eine Weile entkommen zu sein, und ließ mich ein wenig tiefer in den Sessel sinken. Auf sein Fieber konnte ich keine Rücksicht nehmen. Eliot ergab sich seinem Schicksal, schloss die Tür, zog einen Rucksack unter dem Bett hervor und reichte mir eine Dose Limonade: »Ich habe zum Glück immer eine eiserne Reserve an Flüssignahrung vorrätig.« Er bediente sich ebenfalls an seinem Getränkevorrat und zeigte auf das Etikett, auf dem der Hersteller mit einer Liste von Vitaminen für sich Werbung machte: »Damit bin ich bald wieder auf den Beinen.«

Skeptisch beäugte ich den bunten Dosenaufdruck und bezweifelte, dass dieser Punsch aus künstlichen Farben und Aromen zu Ellis Genesung beitragen würde. Er könne bereits von Glück reden, wenn sie ihn nicht umbrächte.

»Ach!« Elli machte eine abfällige Handbewegung: »Was bedeuten schon Worte wie ›künstlich‹ oder ›natürlich‹. Für mich ist ein künstliches Produkt lediglich eine verbesserte Version der Natur.«

Ich zog meine Augenbrauen zusammen. Seine Logik leuchtete mir nicht recht ein.

»Die Zeiten der Jäger und Sammler sind vorbei«, klärte mich Elli auf: »Glücklicherweise sind die Menschen bereits vor Urzeiten auf die Idee gekommen, die Natur nach ihren Nöten zu formen, indem sie zum Beispiel Land bestellten und aus den Erträgen Brot und Marmelade herstellten.«

Er spreche von Landwirtschaft und Marmelade wie von einer Auflehnung gegen die Gesetze der Natur, wunderte ich mich.

»Aber genau das ist es ja auch. Und das ist, wozu diese Weiterentwicklung am Ende geführt hat.« Er zeigte auf die Limonadendose: »Alles ist natürlich, selbst das scheinbar Unnatürliche oder Künstliche. Dies alles sind nur verschiedene Zustände der Natur und wir sind als Teil dieser Natur genauso wie alle anderen Lebewesen auf diesem Planeten dazu berufen, sie nach unseren Wünschen und Nöten zu formen.« Er öffnete die Dose und trank einen großen Schluck. Die unverwüstliche Selbstsicherheit, mit der er seinen Irrtum vertrat, imponierte mir. Ich fragte ihn, ob seine Theorie auch ökologischen Raubbau und nukleare Zerstörung miteinschließe.

»Selbstverständlich«, antwortete er, ohne zu zögern: »Nur, nenn es nicht Raubbau und Zerstörung, sondern einfach Veränderung. Hat sich der Mensch erst einmal selbst vernichtet, wird eine andere Spezies an seine Stelle treten. Von einem übergeordneten Blickwinkel aus betrachtet spielt es keine Rolle, ob dieser Planet von Menschen, Bakterien, Dinosauriern oder freischwebenden Isotopen beherrscht wird.«

Das hieße wiederum, dass Hungersnot, Ausbeutung und Krieg ebenfalls natürliche Zustände wären, gab ich zu bedenken.

»Schon«, gab er zu, »aber es gibt andere, ebenfalls natürliche Zustände, die den von Dir genannten vorzuziehen sind.«

Ich verlangte eine Erklärung für diese scheinbar willkürlichen Vorlieben.

»Hunger, Ausbeutung und Krieg sind ungerecht und verursachen großes Leid«, argumentierte er: »Man muss bei der Bewertung von verschiedenen Zuständen immer die Summe des dabei entstehenden Leids in Betracht ziehen.«

Die Kette seiner Argumentation schien mir nicht ganz schlüssig. Ich fragte, woraus sich diese moralische Ansicht ableiten lasse?

»Das habe ich im Gespür«, war seine denkfaule Antwort. Ich lachte und warf ihm vor, zu sehr mit dem Herzen zu denken.

»Pragen sagt, dies sei meine Stärke«, rechtfertigte er sich schließlich.

Wenn Pragen das sagte, konnte ich schlecht widersprechen. Deswegen nickte ich nur und prostete ihm versöhnlich zu. Als ich jedoch die Dose an meine Lippen hielt, kniff ich reflexartig die Augen zusammen und zuckte erschrocken zurück. Die aus dem Getränk aufsteigenden Luftblasen prickelten auf meiner Haut, als ob mir jemand eine Handvoll Schnee ins Gesicht geworfen hätte.

Eliot wartete ab, ob ich den Schluck überleben würde, und setzte sich, als ich außer Lebensgefahr war, zu mir und begann mit der Reinigung seiner Flöte. Aus sicherer Entfernung lauschte ich dem Gluckern und Zischen im Inneren meiner Getränkedose und beobachtete dabei, wie er das Instrument in drei Teile zerlegte und das Kondenswasser aus dem Kopfstück tropfen ließ, um anschließend alles mit einem langen Stab und einem Baumwolltuch sorgsam trocken zu reiben und zu polieren. Nachdem er die Einzelteile zum vollständigen Austrocknen auf das Innenfutter des Flötenkoffers gebettet hatte, hängte er den Baumwolllappen über den bis zum Anschlag aufgedrehten Heizkörper, kauerte sich wieder auf das gemütliche Polster seines Sessels und nippte an seiner Limonade: »Wie hat es Dich auf unsere Jahresabschlussfeier verschlagen?«

Ich versuchte mich damit herauszureden, dass ich Pragens Einladung nicht habe ablehnen können. Elli lachte: »Ja, Pragen, er ist wundervoll, nicht wahr?« Eliot schien das ernst zu meinen, weswegen ich nicht gleich antwortete, sondern eine Weile herumdruckste, bis ich schließlich doch zugab, dass ich Pragen vor allen Dingen anstrengend fand.

»Ich mag ihn und Cecilia sehr«, entgegnete Eliot, woraufhin ich mir die Frage nicht verkneifen konnte, wer diese Cecilia eigentlich sei.

»Das weiß niemand so genau«, lachte Elli wieder: »Es gibt zwar etliche Spekulationen darüber, in welchem Verhältnis die beiden zueinander stehen, aber ich halte keine davon für wirklich glaubhaft. Sie sind jedenfalls weder miteinander verwandt noch ein Liebespaar, kennen sich aber anscheinend schon seit ihren frühesten Kindheitstagen. Ihre Beziehung ist ein ebenso geheimnisvoller Umstand wie die Tatsache, dass Pragens urkundlicher Vorname auf Kajetan-Lewin lautet, er sich aber stets als Marcus vorstellt. Auch Cecilia nennt ihn so. Ich habe inzwischen allerdings aufgehört, mir den Kopf darüber zu zerbrechen. Trotz dieser Ungereimtheiten ist Pragen in unserer Dienststelle sehr beliebt. In demselben Maße wie Bonn und Köln ihn mit Schikanen und militärbürokratischer Borniertheit triezen, wird er von seinem Münchner Stab geliebt und verehrt. Ich gestehe, ich neige dazu, ihn zu idealisieren und auch ein wenig einen Vater in ihm zu sehen.«

Diese unvermittelte Ehrlichkeit erstaunte mich. Ich fragte ihn nach seinem leiblichen Vater.

»Lange tot«, antwortete er. Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, doch noch ehe ich ihm meine Anteilnahme kundtun konnte, winkte Elli verächtlich ab: »Bitte kein Beileid, sein Tod hat mich nicht berührt, denn auch zu seinen Lebzeiten hatte es keine Berührungspunkte zwischen uns gegeben. Er war die meiste Zeit dienstlich unterwegs und gab mich in die Obhut meiner Großeltern oder verschiedener Internate und Hauslehrer. Das Einzige, was mich mit ihm verband, waren die Postkarten, die er mir aus allen Winkeln dieser Welt schickte und die neben ein paar unverbindlichen Grüßen bisweilen auch den einen oder anderen Lebensratschlag enthielten.«

Ich nickte. Diese Art der Fernerziehung kam mir vertraut vor. Meissmann hatte auch jahrelang lediglich über Grußkarten und Briefe mit mir kommuniziert. Sie hatten jedoch nie mehr als dem jeweiligen Anlass entsprechend zurechtgebogene Standardfloskeln enthalten. Dennoch waren diese Schreiben während meines ersten Jahres in Deutschland das Einzige, woran ich mich hatte festhalten können. Ich war damals mit vierzehn Jahren in die neunte Klasse des Gymnasiums eingeschult worden, hatte viereinhalb Jahre Schulstoff aufzuholen und musste im Jahr darauf die mittlere Reifeprüfung bestehen, um in die Oberstufe aufgenommen werden zu können.

Der Direktor der Schule stellte mir dazu die Lehrplanvorgaben des Kultusministeriums zur Verfügung. Vieles davon kannte ich bereits – enzyklopädisches, historisches Wissen und verschiedene sozialwissenschaftliche Themen hatte ich mir über die Jahre hinweg über die Institutsbibliothek, eine Hinterlassenschaft aus einer vorhergehenden Nutzung des Institutsgebäudes als deutsche Schule, angelesen. Milada hatte mir den Schlüssel für die Bibliothek gegeben und ich hatte quer durch den gesamten Buchbestand durchgelesen. Ethik, Deutsch und Sport waren ohnehin kein Problem und auch in den Fächern wie Geschichte, Biologie, Chemie oder Musik konnte ich dem Unterricht, wenn ich mich nicht gerade wegen der schleppenden Geschwindigkeit zu Tode langweilte und wie in Trance auf den Sekundenzeiger der Wanduhr starrte, aufgrund meiner Vorkenntnisse ebenfalls mühelos folgen.

Mir fehlten jedoch zwei Fremdsprachen und mit Mathematik und Physik hatte ich bis dahin ebenfalls wenig zu tun gehabt. Meine spärlichen Sprach­kennt­nisse in Nepalesisch, Russisch und Lettisch halfen mir genauso wenig weiter wie mein kleines Einmaleins. Ich lernte Latein an der Kasseler Akademie für alte Sprachen, wo ich trotz der imposanten Klassenstärke von dreißig Schülern der einzige Minderjährige war, und an den Wochenenden besuchte ich die Intensivkurse der Volkshochschule für englische Sprache und Geschichte. Wegen meiner übrigen Bildungslücken – wie die Erwachsenen das unbedingt und ständig beim Namen nennen mussten – nahm mich mein damaliger Klassenlehrer unter seine Fittiche und erteilte mir jeden Tag nach Schulschluss eine private Nachhilfestunde. Kunst hingegen blieb bis zuletzt eine ungelöste Problematik für sich.

Eigentlich war ich durch die ganze Lernerei viel zu beschäftigt, um mich unglücklich zu fühlen, aber dennoch plagte mich eine stete Sehnsucht nach dem Institut. Mein Sehnen hatte jedoch keine klare Kontur. Ich vermisste weder die Einsamkeit noch die inhaltsleeren Tage oder die anstrengenden Experimente. Ich denke, ich hatte einfach Heimweh und die unbestimmte und vage Hoffnung, dass eine Rückkehr ins Institut auch ein Wiedersehen mit Tomo bedeuten könnte.

Meine Pflegeeltern hatten damals steif und fest behauptet, Professor Meissmann nicht zu kennen, um mich von ihm oder ihn von mir fernzuhalten. Doch ich kam ihnen eines Tages auf die Schliche, als ich zufällig ein Telefonat zwischen meinem Vater und dem Professor belauschen konnte. Es fielen während des Gesprächs zwar keine Namen, doch erkannte ich an der Art, wie sich die Gegenseite nach meinem Fortschritt und Wohlergehen erkundigte, dass es niemand anderes als Professor Meissmann sein konnte. Da unser damaliger Telefonapparat jedoch weder eine Rückruftaste noch eine Wahlwiederholungsfunktion, sondern nur eine einfache Wählscheibe besaß, machte ich mich zunächst auf die Suche nach Professor Meissmanns Telefonnummer. Auf die Idee, mich über das Sanitätskommando der Bundeswehr weiterverbinden zu lassen, kam ich damals nicht und so durchforstete ich heimlich sämtliche Adressbücher, Postschreiben, Ablagefächer und Notizzettel meiner Eltern, bis ich endlich auf einem Schreiben, in dem es um die monatliche Finanzierung meiner Lebenshaltungskosten ging, eine Nummer mit einer seltsamen Vorwahl entdeckte. Es stand kein Name dabei, aber wie sich später herausstellte, war es die Durchwahl von Meissmanns damaligem Sekretariat im Zentrallazarett der Bundeswehr in Koblenz.

Ich wartete eine günstige Gelegenheit ab, um unbemerkt bei Professor Meissmann anrufen zu können. Mit zittrigen Fingern wählte ich die Nummer, lauschte ängstlich in die Hörmuschel und zählte das ferne Tuten, bis endlich jemand abnahm und mich mit einem endlosen Schwall aus unzusammenhängenden Phrasen begrüßte: »Bundeswehrzentralkrankenhaus – Koblenz – Zentrale Abteilung – Medizinisches Laboratorium – Neurochirurgie.« So etwas in der Art muss es gewesen sein. Außerdem stellte sich die Stimme am anderen Ende der Leitung mit Dienstgrad und Namen vor und fragte nach, was sie für mich tun könne. Ich war sehr erleichtert, als ich endlich meinen lang geübten Satz in den Hörer flüstern konnte – ich hatte ihn mir extra auf ein Blatt Papier geschrieben, damit ich mich nicht vor Aufregung verhaspelte: »Hier ist Wilhelm Fenner und ich muss dringend den Professor sprechen.«

Nach einigem Hin und Her vernahm ich tatsächlich Meissmanns Stimme am anderen Ende der Leitung. Aufgeregt flüsterte ich mein Anliegen in die Sprechmuschel: Ich wollte keine Eltern, die mir morgens ein Schulbrot schmierten, nachmittags meine Hausaufgaben kontrollierten, pünktlich zur Sesamstraße ein Abendbrot mit allen erdenklichen Leckereien auftischten, mich mit warmem Schokopudding oder frisch gebackenen Salzbrezeln überraschten, Freunde zum Spielen einluden, mich zum Schwimmunterricht schickten, mir ein wöchentliches Taschengeld zusteckten und am Wochenende mit mir Ausflüge in den Zoo, in den Wald oder in den Vergnügungspark unternahmen. Das alles machte mir Angst und überforderte mich. Ich wollte einfach nur wieder nach Hause ins Institut, damit alles wieder so sein konnte, wie es immer gewesen war.

Meissmann ließ mich geduldig ausreden und hörte aufmerksam zu, bevor er feierlich versprach, sich um mein Anliegen zu kümmern, wenn ich nur brav die Schule besuchen und meinen Abschluss ordentlich absolvieren würde. Zum Zeichen, dass er sein Versprechen halten würde, wollte er sich regelmäßig zu allen heiligen Festen bei mir melden. Ich hingegen musste ihm versprechen, ihn nicht mehr anzurufen.

So geschah es. Ich rief ihn nicht wieder an und erhielt fortan zu jedem Weihnachts- und Osterfest sowie zu Mariä Himmelfahrt eine kleine Erinnerung an sein Versprechen. Meistens schickte er mir einfach eine Postkarte mit einem Gruß und seiner Unterschrift. Manchmal hatte er auch ein paar aufmunternde Worte und Ermahnungen parat. Er wünschte mir Erfolg bei den Prüfungen und erinnerte mich daran, dass ich versprochen hatte, mich zu benehmen und in der Schule gute Leistungen zu erbringen. Hin und wieder schickte er mir sogar ein Geschenk: ein Mikroskop mit einem Sammelkästchen verschiedener Gewebepräparate, warme Unterwäsche für die kalte Jahreszeit oder ein Jahresabonnement für die Kammerkonzerte der Musikhochschule.

Je älter ich wurde, desto weniger bedeuteten mir Meissmanns Nachrichten, und seine Geschenke trafen ohnehin nie meinen Geschmack. Nachdem ich mich mit meiner neuen Welt arrangiert hatte und mich nicht mehr vor meiner Umgebung fürchtete, verließ mich die Sehnsucht nach einer Rückkehr ins Institut recht schnell. Ich glaubte auch längst nicht mehr daran, dass ich Tomo im Institut wiedersehen würde, sondern hatte inzwischen begriffen, was das Wort ›endgültig‹ bedeutet. Die Sache mit Tomo war endgültig vorbei. Auch das hatte ich inzwischen kapiert.

Ich verdrängte Meissmann zunehmend aus meinen Gedanken und aus meinem Leben. Seine Grüße zu den heiligen Festen überflog ich wie die Schlagzeilen der Tageszeitung. Ich untersuchte die Briefumschläge nach Geldscheinen und gab den Rest in die Altpapiersammlung. Umso überraschter war ich, als mich Meissmann an meinem letzten Schultag wie versprochen vor dem Schulgebäude abholte.

Sein autoritäres Auftreten duldete keine Widerworte, also stieg ich in seinen Wagen, wo er mir, nun da schon fast ein richtiger Mensch aus mir geworden sei und man sich mit mir endlich vernünftig unterhalten könne, seine Zukunftspläne für mich auseinandersetzte. Nachdem er sich mein Zeugnis durchgelesen und mich für meine guten Leistungen und Auszeichnungen gelobt hatte, redete er mir alles aus, was uns die Berater vom Arbeitsamt nahe gelegt hatten, und riet mir dazu, mich recht schnell in die Armee einzuschreiben. Militärischer Staatsdienst sei ohnehin Bürgerpflicht und mit etwas Geschick, Verstand und Disziplin könne man dort jeden seiner Träume verwirklichen. Da ich keine Träume hatte und ohnehin nichts Gescheites mit meinem Leben anzufangen wusste, Meissmanns Argumentation für den Soldatenberuf hingegen so pragmatisch war wie seine Geschenke zu den heiligen Festen, gab ich recht schnell nach und ließ mich sogar richtiggehend für eine Vereidigung als Offiziersanwärter begeistern.

Da sich auch späterhin bei mir keine Träume einstellten, blieb ich in Ermangelung einer besseren Idee auf diesem Weg bis zum heutigen Tag. Das Leben ist so einfach, wenn man keine Träume hat.

»Hast Du die Postkarten von Deinem Vater aufgehoben?«, fragte ich nachdenklich.

»Ja, denn sie gaben mir das Gefühl, kein Waisenkind zu sein. Ich besitze noch immer die gesamte Sammlung, fast einhundert Stück: Bilder von Eishöhlen, Gletschern, Berggipfeln, Wäldern, Meeren, Küstenstreifen – immer wunderschöne Motive, manchmal sogar in Übergröße. Nur einige der allerfrühesten Exemplare habe ich irgendwann einmal verschlampt.« Nach einem kurzen Zögern ging er zu seinem Nachttisch, holte eine Ansichtskarte mit leicht abgestoßenen Ecken hervor und gab sie mir. Das Motiv auf der Vorderseite zeigte die Dorfgemeinden des Starnberger Sees in einer winterlich gekleideten Landschaft vor den fernen schneebedeckten und eisigen Alpen. Ich drehte die Karte um und las: ›Lieber Sohn, ich wünsche Dir ein beschauliches und friedliches Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr 1981. Bleib weiter brav. Wir sehen uns Ostern. Lys.‹

»Mein Vater war, wenn es um Themen jenseits seines wissenschaftlichen Spezialgebiets ging, kein Mann großer Worte«, erklärte Eliot: »Ich verstehe bis heute noch nicht, wie dieser fantasielose Mensch meine Mutter vor den Traualtar komplimentiert haben soll. Womit hat er sie betört und umgarnt? Mit chemischen Formeln, seinen monatlichen Fachartikeln in der Lanzette oder einem deutschen Pass?« Als er bemerkte, wie er sich ereiferte, bändigte er seinen Zorn: »Dafür freuten mich die schönen Landschaftsbilder umso mehr. Als ich hörte, dass wir unsere Jahresfeier am Starnberger See abhalten würden, durchsuchte ich meine Sammlung nach einer Postkarte von der hiesigen Umgebung und nahm sie mit, um die Wirklichkeit mit der Fiktion zu vergleichen. Ich erkenne jedoch nichts wieder. Ich schätze, es hat sich zu viel verändert, seit mein Vater vor nun bald zwanzig Jahren hier gewesen war.«

Ich legte die Postkarte auf dem kleinen Tisch zwischen uns ab und erklärte Eliot, dass sich die Zeiten so schnell doch nicht ändern würden und dass ich teilweise Routenbeschreibungen und Kletterführer verwendete, die vor mehr als zwanzig Jahren geschrieben wurden, deswegen aber noch lange nicht ausgedient hätten. Selbst hundert Jahre alte Tourenbücher von Bergsteigern und Naturwissenschaftlern beschrieben dieselben Formationen, die in unveränderter Würde auch heute noch über uns thronten. Es sei bisweilen sogar fast schon unheimlich, erzählte ich weiter, wenn man einen Mauerhaken finde, der hundert Jahre zuvor in die Wand geschlagen worden sei.

Ich zeigte ihm auf der Postkarte das Karwendelgebirge, zu dessen Füßen die Garnisonsstadt meines Gebirgsjägerbataillons lag, und die Bayerischen Voralpen mit ihren schrulligen Namen: Rabenkopf, Herzogstand, Jocheralm, Heimgarten. Weiter westlich im Wettersteingebirge lagen die fast dreitausend Meter hohe Zugspitze mit ihren Nebengipfeln und der nur geringfügig niedrigere Hochwanner. Eliot nickte, ging nochmals das gesamte Alpenpanorama von links nach rechts durch und wiederholte dabei die Namen der Gipfel. Ich garantierte ihm, dass es sich bei den Bergen vor seinem Fenster um dieselben Höhenzüge handelte, die sein Vater 1980 hier vor Augen gehabt hatte. Er könne sich gleich am nächsten Morgen davon überzeugen. Er brauche dazu nur Richtung Süden zu schauen.

Eliot lachte und warf die Postkarte wieder in die Schublade seines Nachttischs wie etwas, das nicht zu ihm gehörte. Die Geste war ebenso zynisch wie sein Lachen und ich war mir nicht sicher, ob er damit sich selbst meinte oder mich.

»Ich hatte mir vorgenommen, einmal all die Orte zu bereisen, die ich nur von Postkarten her kannte. Vielleicht sogar gemeinsam mit meinem Vater. Lysander hielt das auch für eine gute Idee, verschob es aber immer auf später, bis es zu spät war und er mich durch seinen plötzlichen Tod zu einer Vollwaise machte.« Eliots Tonfall klang noch immer zynisch, aber sein Gesichtsausdruck war betrübt. Ich erlaubte mir die Frage, was zu dem verfrühten Tod seiner Eltern geführt habe.

»Mein Vater hat immer behauptet, dass meine Mutter eines Tages ohne große Vorankündigung beschlossen habe, zu sterben. Man sollte von einem Mediziner eine wissenschaftlichere Erklärung erwarten, aber in diesem Fall hat er es sich ausnahmsweise sehr einfach gemacht. Ich glaube, sie starb an einer unglücklichen Mischung aus Heimweh und der Sehnsucht nach einem ihr ewig vorenthaltenen Europa. Dabei war sie trotz ihrer japanischen Abstammung europäischer als jeder Europäer. Leider hat sie Europa nie kennengelernt, nur Lettland.«

Ich fand, dass man Lettland durchaus zu Europa rechnen könne.

»Kann man nicht«, korrigierte mich Eliot, »wenn man neben seiner Muttersprache fließend Deutsch, Englisch und Französisch spricht. Ich bin mir sicher, dass meine Mutter ein anderes Europa im Sinn gehabt hatte, als sie ihre Heimat verließ, um meinem Vater in den Westen zu folgen.«

Ich verstand seine Einwände und vermied, das Thema zu vertiefen. Wir hatten genug über Lettland geredet. Ich fragte ihn stattdessen, woran sei Vater gestorben sei.

»An seinem Beruf. Ein Laborunfall. Vor ungefähr sechs Jahren. Es gab ein großes Feuer. Nicht einmal sein Leichnam konnte geborgen werden, aber er hat dennoch ein Staatsbegräbnis bekommen und wurde zudem posthum in den Rang eines Generalarztes gehoben«, antwortete Eliot knapp, aber wahrscheinlich gab es da auch nicht viel mehr zu erzählen. Auf meine Frage, ob sein Generalvater ihn zum Militärdienst genötigt habe, antwortete er mit einem belustigten Nein: »Er weiß überhaupt nichts von meiner Karriere als Lakai des Ministeriums, wie Du das gerne zu nennen pflegst, und hätte dies sicherlich nicht befürwortet. Er hat allerdings nie wirklich etwas zu meiner Erziehung beigetragen, außer grob die Richtlinien vorzugeben. Er wollte, dass ich ein naturwissenschaftliches Fach oder Medizin studiere. Um ihn zu ärgern, schrieb ich mich dann in die Fächer Germanistik und Soziologie ein.«

Eine boshafte Entscheidung, wie ich fand. Obwohl ich seine Beweggründe verstand, kam ich nicht umhin, ein wenig Mitleid mit seinem Vater zu empfinden.

»Ja«, pflichtete er mir sofort bei: »Ich war ein schlechter Sohn, aber da mein alter Herr ein mindestens ebenso schlechter Vater war, fällt mein Verstoß gegen das fünfte Gebot wohl nicht groß ins Gewicht.«

Dieses simple Aufwiegen von Sünden klang selbst in den Ohren eines Atheisten nach einer Milchmädchenrechnung, aber viel mehr als Ellis Sündenregister interessierte mich, wie sein Vater die rebellische Studienwahl aufgenommen hatte.

»Relativ gleichmütig«, antwortete er: »Sein distanzierter Umgang mit allem, was mich betraf, gehörten ohnehin zum Luvschen Standardprotokoll. Daran vermochte auch meine Studienwahl nichts zu ändern.« Ellis Stimme klang deprimiert. Vielleicht war es aber auch nur der Kampf seines Immunsystems gegen die feindlichen Invasoren, der seiner Stimme diesen schwermütigen Klang verlieh. Ich fragte ihn, wie es nach dem gescheiterten Putsch gegen die Gleichgültigkeit seines Vaters weitergegangen sei.

Eliot lächelte: »Nach dem Tod meines Vaters war ich ziemlich orientierungslos und habe zeitweise sogar mit dem Gedanken gespielt, ernsthaft mit dem Trinken anzufangen. Ich ließ das Studium schleifen, um stattdessen jeden neuen Tag mit einer Flasche Rotwein zu feiern, Flöte zu spielen und Voltaire zu lesen. Nachdem ich für das Studentenwohnheim untragbar geworden war, suchte ich mir eine Einzimmerwohnung in einem ruhigen Wohnviertel am Rande der Stadt, wo ich mich abseits jeglichen gesellschaftlichen und akademischen Verpflichtungen in meiner Einsamkeit suhlen konnte. Ich richtete mich dort jedoch nie häuslich ein, sondern verzichtete auf Möbel und sonstigen Hausrat, damit sich der Klang meiner Flöte frei in den leeren Räumen entfalten konnte. Ich verkaufte sogar alle meine Bücher und riss den Teppichboden von den Holzdielen, alles für eine bessere Raumakustik. Neben der Totentafel meiner Mutter und der Postkartensammlung behielt ich nur eine Handvoll Kleider zum Wechseln und eine Matratze zum Schlafen. Bücher lieh ich bei der Stadtbibliothek, die Küche blieb meistens kalt. Ich gab mein Geld hauptsächlich für teure Weine und Notenbände aus. Die Notenbände kaufte ich jeweils doppelt, riss die Seiten heraus und tapezierte damit meine Wände. So musste ich beim Spielen niemals mehr eine Seite umblättern. Meine Flöte war mein bester Freund und mein einziger. Sie schlief nachts in einem mit schwarzem Samt ausgeschlagenen Sarg, den ich günstig über eine Kleinanzeige in der Sonntagszeitung erstanden hatte – eine ausgediente Bühnenrequisite von einer kleinen Theatergruppe, nichts Morbides also. Das unbehandelte Holz roch sogar noch nach frischem Harz. Ich hatte mir immer vorgenommen, ihn schwarz zu streichen, aber dazu kam es nie.« Eliot biss sich auf die Lippen und starrte auf das schwarze Fensterglas. Ich folgte seinem Blick und betrachtete unser verzerrtes Spiegelbild, das die nebligen Lichter der Winternacht überlagerte. Wir schwiegen eine Weile, bis ich ihn schließlich mit meiner Frage, wieso es am Ende nicht zu dem geplanten Farbanstrich gekommen sei, aus seinen Gedanken riss.

»Ich verließ das Haus nur noch, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ. Anstatt die ausgeliehenen Bücher in die Bibliothek zurückzubringen, las ich sie einfach noch einmal von vorne und an manchen Tagen ging ich selbst dann nicht vor die Tür, wenn ich nichts mehr zu essen im Haus hatte. War das Brot alle, trank ich eben Wein. Erst wenn der ebenfalls leer war, wagte ich mich nach draußen, in die feindliche Welt. Die einzige Person, die mich außer dem Verkäufer vom Feinkostladen noch regelmäßig zu Gesicht bekam, war der Musikhändler ein Stück weiter die Straße hoch. Im Erdgeschoss verkaufte er alle möglichen Instrumente, von der Blockflöte bis zum Konzertflügel, aber im Keller hatte er ein riesiges Archiv aus gebrauchten Noten, wo man alles Mögliche finden konnte, ein Einzelstück aus der Kaiserzeit in bestem Zustand oder einen zerfledderten Klassensatz mit einem Schulstempel von nur einem Jahr zuvor. Die Partituren quollen aus den Regalen und stapelten sich auf dem Boden. Ich verbrachte dort viele Stunden. Zu jener Zeit entwickelte ich jedoch eine Licht- und Geräuschempfindlichkeit, die bald so schlimm wurde, dass ich nur noch bei Kerzenschein las und sogar meinen Kühlschrank verkaufte, weil ich das Summen des Motors nicht mehr ertragen konnte. Selbst im Zwielicht trug ich eine Sonnenbrille, und wenn ich schlafen wollte, stopfte ich mir Wachs in die Ohren, um nichts mehr außer meinem Herzschlag zu hören. Ich gewöhnte mir an, tagsüber zu schlafen und nachts zu Flöte zu spielen, Voltaire zu lesen und Wein zu trinken. Bald wurde die Nacht mein Tag und der Tag meine Nacht. Deswegen riss mich der Gerichtsvollzieher, der eines Tages in Begleitung zweier Polizisten in meiner Wohnung auftauchte und kräftig an meiner Schulter rüttelte, mitten aus dem Schlaf. Sie hatte meine Wohnung aufgebrochen, weil ich nicht auf das Läuten reagiert hatte. Man nahm mir meine Flöte ab und sperrte mich, obwohl ich relativ klar bei Verstand war, für den Rest des Tages und die Dauer der darauffolgenden Nacht in eine Ausnüchterungszelle. Der Sarg und die entlang der Fußbodenleiste meines Zimmer aufgereihten leeren Weinflaschen mussten die Polizei zu voreiligen Schlüssen verleitet haben. Als sie mich am nächsten Morgen auf freien Fuß setzten, stand ich auf der Straße. Die über Monate hinweg ungelesene Post hatte anscheinend mehrere Mahnungen wegen Ruhestörung und versäumter Hausordnung enthalten. Mein bescheidener Hausstand befand sich in einer Lagerhalle für Wohnungsauflösungen und konnte dort gegen die Entrichtung einer stattlichen Gebühr abgeholt werden. Ich begnügte mich mit der Postkartensammlung, der Holztafel mit dem Namen meiner Mutter, meinem Instrument und noch ein paar Kleinigkeiten.«

Verblüfft schaute ich auf das Instrument, das noch immer zum Trocknen auf dem Koffer lag: »Dieses Instrument?«

»Ja, dieses Instrument«, antwortete Elli: »Sie hat auch einen Namen: Amaterasu. Oder um genau zu sein: Kopfstück von Amaterasu, Mittelstück von Amaterasu und Fußstück von Amaterasu. Darf ich bekannt machen, Amaterasu?«, sagte er plötzlich zu seinem Instrument: »Wilhelm Fenner.«

Ich grüßte verhalten und fragte Eliot, ob Pragen diesen turbulenten Teil seiner Biografie kannte.

»Ja, natürlich«, sagte er zunächst beherzt, setzte dann jedoch abmindernd hinterher: »Vielleicht nicht alle Details, aber er weiß, dass ich mein Studium abgebrochen habe.«

Nun musste ich doch über die ganze Geschichte lachen, wunderte mich aber, wieso er mit seinem musikalischen Talent nicht in das Musikkorps der Bundeswehr eingetreten war.

»Militärmusikdienst?« Elli strafte mich mit einem strengen Blick: »Meine Flöte ist doch kein Orchesterinstrument. Außerdem besitze ich kein wirkliches Talent, sondern nur eine Art ungestüme Neigung. Ich verhasple mich ständig und versuche, meine Patzer mit Improvisation zu kaschieren. Mein Spiel ist viel zu chaotisch für die strengen Fesseln der Militärmusik. Amaterasu versteht sich auch nicht besonders gut mit Oboen, Klarinetten oder gar anderen Flöten. Nein, ich möchte auch die Stimmen spielen dürfen, die gemäß der klassischen Orchesterbesetzung anderen Instrumenten vorbehalten sind. Ich möchte allegro spielen, auch wenn die Partitur andante vorgibt, und umgekehrt. Morendo statt scherzando. Forte statt diminuendo al niente. Und manchmal möchte ich auch einfach gar nicht spielen.«

Ich nickte. Obwohl ich noch immer wie ein Blinder vor seinem Gemälde stand, glaubte ich, das Wesen seines Spiels nun ein klein wenig besser zu verstehen. Ich fragte, was ihn zu seiner Berufswahl veranlasst habe wenn nicht die vorbildliche Karriere seines Vaters oder die Aussicht auf einen Platz in unserem Blasorchester.

»Kornbluth, der Anwalt und Nachlassverwalter meines Vaters, hat mir damals ordentlich die Leviten gelesen und mich zur Armee geschickt«, erklärte Elli: »Er war damals mit der Regelung aller Erbschaftsangelegenheiten betraut und da war ich eben ein Teil davon. Mein Vater schürte mit unzähligen Eisen in mindestens ebenso vielen Feuern. In Berlin hatte er einen Verlag gegründet, um seine Werke kostengünstiger publizieren zu können, während er sich gleichzeitig Aktien eines medizinischen Monatsjournals sicherte, wo er gelegentlich auch eine Rolle als Autor oder Mitherausgeber spielte. Er besaß mehrere Wohnungen und unterhielt einen Sonderforschungsbereich an der damals noch sehr jungen Konstanzer Universität. Ich bat Kornbluth, alles aufzulösen, abzustoßen, zu verkaufen und mir den Erlös auf ein einfaches Sparbuch gutzuschreiben. Ich wollte mit dem ganzen Gerümpel nichts zu tun haben. Gesagt, getan. Das Einzige, was sich nicht so einfach in Bares umwandeln ließ, war Lysanders Dauerleihgabe an den Forschungsbetrieb der Konstanzer Akademie für Biochemie. Dieser Kredit wurde in einen Stiftungsfond umgewandelt, aus dem die zugehörigen Fakultäten nun Stipendien, Seminare und Kleinprojekte finanzieren können. Die zugehörige Stiftung trägt den unglücklichen Namen ›Luv und Söhne‹. Dabei bin ich sein einziger Sohn. Trotz Kornbluths väterlichen Rats, nur den Grundwehrdienst als Läuterung abzuleisten, um anschießend mein Studium wiederaufnehmen zu können, habe ich mir von meinem Wehrberater einen Zeitvertrag aufschwatzen lassen und ging zu den Fernspähern.« Elli machte eine wegwerfende Handbewegung, zuckte mit den Schultern und erzählte weiter, dass er sich bereits während seiner Zeit als Schütze mit Jan angefreundet und sein altes Leben bald weit hinter sich zurückgelassen habe. Der militärische Drill habe ihm den Rotwein ersetzt und Jan den Voltaire. Nur die Flöte habe ihn weiterhin und unverändert begleitet. Kornbluth hätte damals seine Entscheidung für die Armee zwar sehr bedauert, sei aber dennoch freundschaftlich mit ihm verblieben und kümmere sich noch heute sowohl um sein Wohlergehen als auch um seine Einkünfte und Barschaften sowie alle behördlichen, vertraglichen und rechtlichen Angelegenheiten.

Als ich ihn fragte, wie es ihn letzten Endes zum Abschirmdienst verschlagen habe, war er allerdings um eine Antwort verlegen. Pragen habe ihm damals das Gefühl gegeben, sagte er nachdenklich und griff nach der kleinen Goldnadel an seinem Jackenkragen, dass es auf der Welt nichts Seligeres gäbe, als im Münchner Geheimstab dienen zu dürfen. Er habe damals sogar seine Kameraden aus der Hammelburger Scharfschützeneinheit versetzt, wo er bereits für die Besetzung eines begehrten Ausbilderpostens vorgesehen gewesen war. Seine damaligen Ausbilder und Vorgesetzten hätten diese Entscheidung zutiefst bedauert, doch er habe sich nicht umstimmen lassen.

»Wenn man die verschiedenen Etappen meines Lebens betrachtet, muss man mich für einen Volltrottel halten.« Eliot schaute mich an, als ob er mir eine Frage gestellt hätte.

»Ein wenig schon«, gab ich zu, behielt jedoch für mich, wie sehr ich ihn mochte und dass er mir durch sein Bekenntnis nur noch mehr ans Herz gewachsen war. Wir mussten beide lachen und ich nutzte die ausgelassene Stimmung, um die neugierige Frage nach seiner genauen Tätigkeit beim Abschirmdienst loszuwerden.

»Laut der Tätigkeitsbeschreibung in meiner Personalakte: allgemeine Stabsarbeit. Laut unserer Broschüre, die ja in jeder ordentlich geführten Kommandoeinheit der Bundeswehr auszuliegen hat: personelle, organisatorische und materielle Absicherung, Zusammenarbeit mit anderen inländischen Nachrichtendiensten sowie mit ausländischen Sicherheitsbehörden, Observation, Spionageabwehr, Einsatzabschirmung–«

Ich fiel ich ihm ins Wort, um die Wiedergabe des Broschürentexts ein wenig abzukürzen, und fragte, was das denn genau heiße, was er den lieben langen Tag so mache.

»Du lässt mich ja nicht ausreden«, sagte Elli eingeschnappt und fuhr nach einem kurzen Zögern fort: »Ich gehöre erst seit etwas mehr als einem Jahr zu Pragens Stab und mein Dienstalltag besteht zum einen aus einer ewigen Blutfehde mit dem Getränkeautomaten im Keller unserer Dienststelle, der entweder Pappbecher oder Getränke – selten beides zusammen – ausspuckt, zum anderen aus der Lektüre von Verfassungsschutzberichten, dem Recherchieren von Personendaten, dem Erstellen von Fallakten und was mir Pragen sonst so auf den Tisch legt. Meine Hauptaufgabe besteht dabei aus dem Anfertigen von Randnotizen und Motivationsprofilen, weswegen ich des öfteren einfach nur Berge von Akten, Berichten und Protokollen sichte oder Vorladungen und Befragungen beisitze. Ein klassischer Lakaienjob eben. Du hast sicherlich nichts anderes erwartet.« Obwohl sich mir bei den Worten ›Vorladung‹ und ›Befragung‹ der Magen umdrehte, ging ich nicht weiter darauf ein, sondern fragte nur, was ich mir unter dem Anfertigen von Randnotizen und Motivationsprofilen vorzustellen habe.

»Der Versuch, zu erklären, warum wir die Dinge tun, die wir tun.«

Ich stellte die Augen. Ich wusste nicht, wovon er sprach, aber es hörte sich wenig berauschend an. Ich fragte, ob ihn das glücklich mache.

»Glück?«, lachte Elli: »Wir reden von Glück? Ich dachte, wir reden von meinem Dienstalltag. Glück ist eines der großen Geheimnisse dieser Welt. Selbst Märchen über Kinderfresser, böse Hexen und verzauberte Kröten enden in dem Moment, in dem die Gefahr abgewendet wird und Glück einkehrt. ›Sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage‹, heißt es dann und das wars. Ich habe nie behauptet, dass es ein Traumjob wäre, aber in meinem Traumberuf als Dichter waren damals keine Stellen frei.«

»Dichter?«, wiederholte ich neugierig. Doch meine Frage machte ihn verlegen. Er schien sogar zu bereuen, überhaupt davon angefangen zu haben. Trotzdem fragte ich weiter: »Du dichtest?«

»Eigentlich nicht. Nicht richtig jedenfalls. Nicht das, was man normalerweise unter Dichten versteht«, gab er umständlich zu.

»Aber irgendwie doch?«, fragte ich weiter.

»Nur kleine Textfetzen«, gestand er schließlich: »Meistens fehlt der Anfang. Oder das Ende. Oder beides.«

»Und über was schreibst Du so?«

»Über nichts Besonderes. Nur über die kleinen Dinge, die mich umgeben.« Eliot hantierte nervös mit seinen Händen herum und schaute zum Fenster, um mir auszuweichen. Als sich unsere Blicke jedoch in der spiegelnden Fensterscheibe trafen, lächelte er verlegen: »Der Dienst unter Pragens Kommando ist mit Sicherheit keine Poesie, aber im großen Ganzen in Ordnung«, kehrte er zum Thema zurück: »Ich schätze Pragen sehr und teile mir mein Büro mit meinem besten Freund Jan. Mit den richtigen Leuten könnte man zur Not sogar einen Tag im Geschäftszimmer einer Ausbildungskompanie aushalten, ohne vor Stumpfsinn wahnsinnig zu werden.«

»Aber nur einen!«, merkte ich an.

»Allerhöchstens!«, pflichtete mir Elli aufrichtig bei, bevor er mich mit einem durchdringenden Blick musterte und den Spieß umdrehte: »Jetzt bist Du dran«, sagte er streng. »Wie kam es zu Deinem Faible für Olivgrün? Was waren Deine Sünden? Und Deine Eltern, leben sie noch?« Er schaute mich erwartungsvoll an, während sich meine Gedanken überschlugen. Ich war hin- und hergerissen und wusste nicht, an welche Version meiner Lebensgeschichte ich mich nun halten sollte: An Miladas fantastische Märchenerzählungen über eine Schneeprinzessin, zwei Engel und einen roten Blütenregen inmitten einer ewigen Eislandschaft oder an die eigens für die Akten des Einwohnermeldeamtes lancierten Lügen über das im fernen Osten Europas verschollene Ehepaar Fenner? Eine echte Wahrheit gibt es nicht. Es sei denn tief unten in Meissmanns dunklen Kellern.

»Nein«, presste ich nach einer angespannten Schweigeminute schließlich hervor.

»Nein? Was nein?«, fragte Elli.

»Nein, ich glaube nicht, dass meine Eltern noch am Leben sind«, erklärte ich stockend, fast stotternd, und dachte dabei an die Grabkammer meiner Mutter. Ich habe die Kammer nie betreten, sondern kenne nur die schwere, verriegelte Eisentür und das von innen abgeblendete Sichtfenster aus mit Stahlfäden durchwirktem Panzerglas. Eliot stutze und bat um Entschuldigung für seine Neugierde, doch ich schüttelte nur den Kopf. Zu gerne hätte ich ihm von meiner Mutter und ihrem fernen Königreich aus Eis und Schnee erzählt, da mir diese Geschichte selbst am gegenwärtigsten ist. Doch ich schwieg und Elli verzieh mir mein Schweigen.

»Das Gute daran, keine oder nur tote Eltern zu haben«, sagte er plötzlich, »ist, dass man ihnen keinen Kummer mehr bereiten kann.« Er nickte mir auffordernd zu, als bedürfe seine Erkenntnis meiner feierlichen Zustimmung. Obwohl mich der hinter seinem zynischen Trotz versteckte Schmerz mit Bedauern erfüllte, nickte ich. Vielleicht hatte er trotz seiner eigenwilligen Protesthaltung gegen das Schicksal und das Leben am Ende doch ein klein wenig Recht.

Elli wechselte das Thema und ging noch einmal im Geiste alle Berggipfel durch, die wir zuvor auf der Postkarte entdeckt hatten. Er zeichnete sie mit vagen Umrissen in die Luft und sagte ihre Namen auf, als wollte er sicherstellen, dass seinem Gedächtnis keiner davon abhandengekommen war. Nachdem er sie alle fehlerfrei aufgesagt und sich selbst Beifall gespendet hatte, fragte er mich, ob ich dort überall schon gewesen sei.

Unzählige Male hatte ich die Berggipfel meines Standorts und der Umgebung bereits besucht – allein schon von Berufswegen, aber auch privat. Ich erzählte ihm ein wenig von meiner Mittenwalder Wahlheimat, von der Schönheit und Tücke der Jahreszeiten und davon, wie uns die Berge an ihrem geistigen und irdischen Busen nährten. Ich erzählte von Anna, die im Sommer den kargen Boden der Außenanlage ihres Gewächshauses zum Blühen bringt und im Winter Skikurse leitet. Von Andrés Eltern, die sich mit der Bewirtschaftung einer Hochalm gerade so über Wasser halten. Von Gunnars Engagement zur Erhaltung der letzten Refugien von wilder Flora und Fauna. Von den Hochweiden und Sennereien, wo ich mich einmal die Woche mit frischem Brot und Milch eindecke. Von den jungen Rekruten, die wir jedes Jahr zu Alpinisten ausbilden müssen. Von den ausländischen Touristen, die sich gerne mit einem waschechten Gebirgsjäger vor einem Panoramablick ins Tal oder auf die hoch aufragende Bergwelt fotografieren lassen. Von den Wanderern, von den Skifahrern, von den Extremkletterern und von den Unglücklichen, deren Leichname manchmal erst im nächsten Frühling geborgen werden können.

Elli fragte, ob es viele derartig tragische Unfälle in den Bergen gebe. Ich überlegte kurz. Ein Großteil der Arbeit meiner Stabsabteilung besteht aus der Prüfung solcher Unglücksfälle sowie ihrer statistischen Auswertung und der Ausarbeitung praktikabler Vermeidungsstrategien. »Jeder ist einer zu viel«, sagte ich endlich: »Die Berge behalten jedes Jahr etwa fünfzig Seelen ein und geben sie nicht mehr heraus.«

»Fünfzig?« Eliot war entsetzt.

»Das sind weit weniger Todesopfer, als auf den schwarzen Listen der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft vermerkt sind. Das Wasser fordert jedes Jahr sechshundert Opfer. In den Bergen sind es immer wieder die gleichen Fehler: mangelhafte Ausrüstung, fehlende Kondition, Selbstüberschätzung. Dennoch gehen die meisten Bergrettungen glimpflich aus«, versicherte ich ihm und erzählte ihm eine kleine Geschichte. Sie ereignete sich vor mehr als zwei Jahren. Eine Frau mittleren Alters war von ihrer Mittenwalder Gastgeberin vermisst gemeldet worden und der Koordinator der alpinen Rettungstruppe schickte trotz Anbruch der Dunkelheit und trotz der nur vagen Vermutung über den Verbleib des verlorenen Kurgastes vier Bergretter auf unterschiedlichen Wegen durchs Dammkar, um nach der Vermissten zu suchen. Ich war einer jener Bergretter, und zwar derjenige, der nach einer geglückten Rettung den anderen Entwarnung und einen schönen Feierabend funken durfte.

Sie war ganz kleinlaut und den Tränen nahe, als ich sie auf einem schmalen Wandsims fand – ohne Sicherung, ohne Wasservorräte, ohne ausreichende Kleidung für eine unbarmherzige Nacht auf zweitausend Metern Höhe, ohne Taschenlampe zur Sendung eines Notfallsignals, einfach ohne alles. Ich musste jedoch lachen, als ich sie da so sitzen sah. »Wie sind Sie denn da hingekommen?«, fragte ich sie, während ich meinen Abseilstand baute.

»Nennen Sie mich Inja und hören Sie auf mich zu siezen!« Gespielte Empörung klang aus ihrer Stimme und vertrieb ein wenig ihre Angst. Das war gut. Sie fasste sich und erzählte mir, dass sie betört von der Freiheit und der Unendlichkeit der Natur immer weiter hinausgelaufen sei und gar nicht gemerkt habe, wie sich der Grat unter ihren Füßen stetig verjüngte. Erst als die Dämmerung kam, sei sie sich ihres Wagnisses bewusst geworden. Eine schreckliche Angst habe sich ihrer bemächtigt und sie in die Knie gezwungen. Das Übliche: Die Leute laufen blindlings, soweit sie ihre Füße tragen, ohne an den Rückweg zu denken. Und plötzlich wird es Nacht oder das Wetter schlägt um oder sie haben sich in eine unwegsame Situation manövriert, wo es weder vorwärts noch rückwärts geht. Alles, was Inja jedoch brauchte, war eine Portion Selbstvertrauen.

»Ich bin Wilhelm«, rief ich ihr zu: »Versuche den Klettergurt aufzufangen, Inja!« Ich pendelte ihr ein an einem Seilende befestigten Brustgurt zu, der ihren erschöpften Kampfgeist wachrufen sollte, und stieg zu ihr hinab. Das Klirren von Karabinern, die Berührung einer Bandschlinge aus stabilem Nylon und das Wissen um die Anwesenheit eines Retters wirken manchmal Wunder und die Menschen retten sich plötzlich selbst. Nachdem Inja den Brustgurt angelegt hatte, wies ich sie an, sich sitzend zu einer etwas breiteren Stelle des schmalen Bergsimses vorzuarbeiten, um sich dort in die Höhe stemmen und vorsichtig zu mir kraxeln zu können. Sie leistete meinen Anweisungen strikt Folge und schien, all ihre Ängste überwunden zu haben.

»Halt Dich an mir fest, Inja«, rief ich, als sie mich fast erreicht hatte. Sie ging noch drei vorsichtige Schritte und ergriff dann endlich meine Hand. Ihre Haut war durch die Dehydrierung, den schroffen Kalkfels und den kühlen Höhenwind rau, schrundig und steif gefroren, doch ihr Griff war fest wie von jemandem, der überleben möchte. Erleichtert seilte ich sie an mir fest – sie wog keine fünfzig Kilo – und kletterte mit ihr nach oben.

Als das Gröbste überstanden war und wir wieder festen Boden unter den Füßen hatten, zündete sie sich eine Zigarette an. Ich blieb sprachlos stehen: Da rettete ich ihr das Leben und sie warf es auf dem Weg ins Tal gleich wieder weg, indem sie ihren Körper mit Nikotin vergiftete. Sie ließ sich durch meine Empörung jedoch nicht aus der Ruhe bringen, sondern hielt mir eine kurze Standpauke, was ihr aufgrund ihrer längeren Lebenserfahrung vielleicht sogar zustand: »Mein lieber junger Mann! Wilhelm, ich habe nur wenige Sehnsüchte und Wünsche. Manche davon sind so groß wie die Berge, andere so klein, dass sie in einer Zigarettenschachtel Platz finden. Ich danke Dir von Herzen, dass Du heute mein Leben gerettet hast. Denn jetzt kann ich weiterhin neben all den unzähligen Beschwernissen des Lebens auch die Dinge tun, die mich glücklich machen. Deswegen werde ich nun weiter meine Lieblingsmarke rauchen und nächstes Jahr wiederkommen, um mich an der Schönheit der Berge zu berauschen. Und dann wird mich wieder einer von Euch retten. Oder auch nicht, denn irgendwann werde ich die letzte Zigarette rauchen oder zu weit hinaus gehen. Dann wird mich niemand mehr retten können. Aber bis dahin …«

Dieses Erlebnis liegt zwar inzwischen über zwei Jahre zurück, ist mir jedoch gegenwärtig, weil mich Gunnar, unser Truppenpoet und passionierter Gipfelbuchleser, vergangenen Sommer wie aus heiterem Himmel fragte, ob ich eine gewisse Inja kenne. Auf meinen erstaunten Blick hin fügte er hinzu, dass sie mir eine Nachricht auf dem Gipfel der Viererspitze hinterlassen habe. Ich machte mich noch am selben Tag auf, um der Sache auf den Grund zu gehen und tatsächlich: ›Lieber Wilhelm‹, schrieb sie: ›Siehst Du, ich bin zurückgekehrt! Weder die Berge noch ein geringeres Laster konnten mir etwas anhaben. Inja – 28. August 1991.‹

Elli sagte nichts. Er nur legte den Kopf ein wenig schräg und lächelte teils fiebrig, teils versonnen vor sich hin.

Auch ich schwieg, denn ganz unvermittelt erkannte ich die Antwort auf Pragens Frage. Sie stand mir so klar vor Augen geschrieben, dass ich mich wunderte, nicht eher darauf gekommen zu sein: Die Berge machen sich demjenigen zum Geschenk, der ihnen seinen Leben anvertraut und sogar bereit wäre, es dort zu verlieren – sowohl dem Hüttenwirt, dessen Familie sie ernähren, als auch dem Städter, der mit komplett falschem Schuhwerk, aber voller Sehnsucht seinen Pfad zum Gipfel sucht.

Eliot streckte sich, rieb seine Augen und strich sich die Haare zurück. Erschöpfung und Müdigkeit zeichneten seine Gesichtszüge dunkel nach. Seine Wangen und Lippen und seine Nasenspitze waren hingegen blass. Ich merkte, dass es an der Zeit war, zu gehen, aber das konnte ich unmöglich tun.

Als ich ihn fragte, ob die Wirkung des Fiebermittels nachlasse, zeigte mir Elli nach einem verschwörerischen Griff in seine rechte Hosentasche die beiden Tabletten vor. Er hatte sie nicht genommen und hatte es auch nicht vor. Er wollte lieber meinen Rat befolgen und ruhen. Ich nickte und entschuldigte mich dafür, dass ich ihn vom Schlafen abgehalten hatte, doch er schüttelte entschieden den Kopf und bedankte sich dafür, dass ich ihm Gesellschaft geleistet hatte. Ich war mir nicht sicher, ob er das aus reiner Höflichkeit sagte oder ob ihm meine Anwesenheit tatsächlich etwas, und sei es auch nur das Allergeringste, bedeutete. Der Rauswurf war jedoch unmissverständlich und ich spürte, wie wir auf ein weiteres ›Vielleicht und später‹ zusteuerten.

Deswegen stellte ich mich vorerst taub und dachte nach, wie ich den bevorstehenden Abschied hinauszögern konnte. Mein nachdenkliches Schweigen machte die Sache jedoch nicht besser und das angestrengte Grübeln schien mir nicht besonders gut zu stehen, denn Eliot schaute mich plötzlich besorgt an. Ich lachte, um seine Sorge zu zerstreuen und um Zeit zu gewinnen, aber Eliot stimmte nicht in mein Lachen mit ein. Als er stattdessen seine Getränkedose schüttelte und der letzte Tropfen ein helles, rasselndes Geräusch machte, schob ich schnell mein unangerührtes Getränk zu ihm hinüber.

»Du hast nicht davon getrunken?«, fragte er überrascht.

Ich machte ein entschuldigende Geste.

»Etwas anderes habe ich leider nicht anzubieten«, sagte er.

Ich sagte, es sei nicht weiter tragisch, und bot ihm an, eine Tasse Tee zusammen zu trinken. Ich war mir sicher, dass ich in der Küche welchen bekommen konnte.

»Ich habe seit meiner Kindheit keinen Tee mehr getrunken«, wandte er ein, musste sich jedoch von mir daran erinnern lassen, dass er nur drei Monate zuvor mit mir zusammen Tee getrunken hatte.

»Das war eine Ausnahme«, sagte er und verzog das Gesicht: »Aber vielleicht hätte ich am nächsten Morgen sogar noch eine zweite Tasse getrunken.«

Ich bot ihm, an die versäumte Tasse unverzüglich nachzuholen.

»Ich fühle mich nicht besonders«, erklärte er.

Ich bestand jedoch darauf, dass ihm der Tee gut tun würde, nahm seinen Zimmerschlüssel und machte mich, ohne weitere Widerworte abzuwarten, auf den Weg in die Küche. Ich versuchte, gelassen zu wirken, doch innerlich hatte ich das Gefühl zu schwimmen. Ich hielt den Schlüssel zu Eliots Zimmer so fest in der Hand, dass es weh tat.

Schwimmen bedeutet für mich, mit aller Kraft um mich zu treten und zu schlagen, um nicht unterzugehen. Im Wasser denke ich an nichts anderes als an Wasser. Ein großer Fehler laut Admiral Witt. Seiner Meinung nach ist Schwimmen keine Frage der Kraft, sondern der inneren Ruhe, und um schwimmen zu lernen, braucht man nicht mehr als einen Liter Wasser, genug für eine gute Kanne Tee. Der Admiral hat mir damals nicht nur das Teetrinken beigebracht und mein erstes Teeset geschenkt, sondern war beständig darum bemüht, mich in seine kleine Idee von der großen Ruhe einzuweihen. Eine Ruhe, so groß, dass man sogar im Angesicht des Todes lächeln konnte. Der gebürtige Ostfriese hatte zu Zeiten Tee getrunken, als die Lebenden mit den Toten zusammengesessen und gelacht haben. Ich lernte ihn kennen, als ich im Rahmen eines Wasserkampf- und Überlebenslehrgangs für angehende Heeresoffiziere mit ungefähr zwanzig weiteren Landratten zu einem Marinestützpunkt an der äußersten Kante der Bundesrepublik geschickt wurde, wo ich mich um den unrühmlichen Beinamen Wasserleiche verdient machen sollte. Gleich am ersten Tag sorgte ich für Aufregung, als ich bei der Aufgabe, mich aus einem gesunkenen Schiff zu befreien, kläglich versagte. Das gesunkene Schiff wurde durch eine Kapsel simuliert, die mithilfe eines Krans in ein fünf Meter tiefes Wasserbecken gelassen wurde. Nachdem die Kapsel auf dem Grund des Beckens lag, begann die Kammer mit Wasser vollzulaufen. Wer aus dem gesunkenen Schiff entkam, ohne dabei verräterische Luftblasen an die Oberfläche steigen zu lassen, bekam Extrapunkte.

Ich erhielt allerdings keine Extrapunkte. Denn als ich an der Reihe war und in der Kapsel auf den Grund des Wasserbeckens hinabgelassen wurde, bildete ich mir plötzlich ein, keine Luft mehr zu bekommen, und als der Innenraum schließlich mit Wasser vollgelaufen war, geriet ich durch den Druck auf meinen Augen, Ohren und Lungen in so sehr Panik, dass ich, anstatt die Luke zu öffnen, gegen die Wände der Kapsel zu treten begann. Kurz darauf ertrank ich. Ein scheussliches Gefühl.

Ich wurde zwar sofort aus dem Becken gefischt, wiederbelebt und für den Rest des Tages von den überfürsorglichen Sanis ins Lazarett verlegt, aber der Ausbildungsleiter, ein herrischer Kapitänleutnant, war damals ziemlich sauer. Er dachte, ich wollte ihn auf den Arm nehmen, zumal sich dieses Szenario von nun an täglich wiederholen sollte: Wenn wir nicht gerade Theorieunterricht hatten oder Trockenübungen absolvierten, ertrank ich. Die Ausbilder, vier drahtige und kräftige Schwimmathleten im Rang eines Oberbootsmannes, lachten schon, wenn sie mich sahen. Sie retteten mir während der vier Wochen mehrfach das Leben und gaben mir am Ende den guten Rat, auf einen Eintrag in meiner Dienstakte über den Besuch des Lehrgangs zu verzichten, um das Bild meiner bisherigen Leistungen nicht zu ruinieren. Auch der Kapitänleutnant zeigte sich am Ende versöhnlich und überreichte mir eine Ehrenurkunde, auf der die gesamte Kompanie unterschrieben hatte. Die Urkunde verlieh mir die scherzhafte Auszeichnung, 100%ig wasseruntauglich zu sein.

Wassertauglichkeit lernte ich in Eckernförde also nicht, dafür aber das Teetrinken. An den Trainingstagen war ich gut beschäftigt. Morgens stand ich noch vor allen anderen auf, um mich mit einem einsamen Morgenlauf durch die salzige Seeluft auf die bevorstehende Quälerei des Tages einzustimmen, und abends sank ich vollkommen erschöpft von der vielen Schwimmerei in einen tiefen und gierigen Erholungsschlaf, um nur vier Stunden später wieder aus dem Zimmer zu schleichen und zum Strand hinauszulaufen. So wiederholte sich das Tag für Tag.

Doch wie fast nicht anders zu erwarten, folgte auch im hohen deutschen Norden auf fünf Tage Plackerei das unselige Wochenende. Da die Zugreise von Kiel nach Mittenwald zwischen zehn und vierzehn Stunden in Anspruch nahm, fuhr ich übers Wochenende nicht nach Hause, sondern blieb in Eckernförde. Ich hielt dies zunächst für eine gute Gelegenheit, um mir das Meer anzusehen und das Küstenland zu durchstreifen. Doch dort oben am Rande der Welt sehnte ich mich recht schnell nach dem tröstlichen und schützenden Schoß der Berge zurück. Denn anstatt mit der Isar, den Gämsen und Sonne und Mond um die Wette zu laufen, saß ich mit meinem Windanorak an einem unendlich weiten, unendlich flachen und unendlich sandigen Strand, zählte die Dinge und ließ mir von den Möwen meine mitgebrachten Brote klauen.

In diesem desolaten Zustand stöberte mich eines Tages Admiral Witt auf und erbarmte sich meiner, indem er mich von da an jedes Wochenende zu sich nach Hause zum Essen einlud. Nach und nach lernte ich dabei seine gesamte Familie kennen und einmal nahm er mich sogar mit auf die Ostfriesischen Inseln, wo er mir seinen Geburtsort zeigte und beibrachte, wie man sein Vesper erfolgreich gegen aufdringliche Möwen verteidigte. Obwohl ich keinen Familiensinn besitze und alles, was damit zu tun hat, für gewöhnlich als unangenehm empfinde, fühlte ich mich im Schoß von Admiral Witts Familie wohl und wünschte mir fast, sie hätten mich adoptiert und dabehalten.

Der Admiral hatte in seiner Jugend Zeiten erlebt, die ich nur aus Büchern und Gedenkreden kannte: das Ende des großen Krieges, ein böses Erwachen, ein Leben in Trümmern und einen neuen Kampfgeist. Er erzählte mir viel vom Leben, vom Krieg, vom Tee und vom Tod. Bei ihm lernte ich alles über die ostfriesische Teetradition, von der Auswahl des Geschirrs und der Sorte über das Geheimnis der Zubereitung bis zu hin zu den unterschiedlichsten Formen des Genießens. Im deutschen Norden macht der Tee die Menschen lebendiger als anderswo ein ganzes Festaufgebot an kopfstarken Getränken. Man trinkt den Tee nicht zu einer bestimmten Zeit oder nach strengen Ritualen, sondern einfach immer und überall: zu Hause wie im Büro, draußen bei Regen und Sturm wie in der Behaglichkeit einer warmen Stube, zum Einschlafen wie zum Frühstück.

Admiral Witt erzählte mir, er habe besonders während der letzten beiden Kriegsjahre, in denen der Tee rationiert und teilweise sogar in Gold aufgewogen worden sei, mit vielen Menschen Tee getrunken, die danach ausgezogen waren, um zu sterben. Oder zu töten. Oder beides. In einer solch angespannten Lage, entfalte der Tee eine besondere Kraft. Er schweißt das bisschen Menschlichkeit, das in solch harten Zeiten noch übrig ist, zusammen, wappnet gegen Leid, tröstet über den Verlust hinweg und kultiviert den Witz. Man reagierte damals auch feinfühliger und hellhöriger auf die Zeichen des Tees. Denn dieser schien bisweilen die geheimen Gedanken, Ängste und verbotenen Wünsche der Menschen auszusprechen: Man horchte auf, wenn ein Kandisbrocken zerbrach, und beobachtete still, wie die Sahne auf den Grund der Tasse sank oder wie ein einsamer Tropfen die Tülle der Kanne hinabrann. Niemand wagte, diese Zeichen zu deuten oder zu kommentieren. Sie sprachen für sich selbst und vielleicht in jedem Kopf ein anderes Wort.

Auf dem Weg in die Küche rief ich mir Admirals Witts Worte ins Gedächtnis: »Keine Sache ist so groß, dass sie sich nicht mit einer kleinen Tasse Tee in den Griff kriegen ließe. Merk Dir das.« Die Atemnot und Panik, die sich bei mir unter Wasser einstellten, erklärte er, seien nur die natürliche Reaktion eines überraschten Organismus auf übersäuertes Blut, auf die plötzliche Untätigkeit der Atemmuskeln und auf den ungewohnten Druck in den Nasennebenhöhlen und Gehörgängen. Damals schaffte ich es nicht, mich auf Witts Worte zu verlassen. Ich blieb ein hoffnungsloser Fall. Aber dieses Mal gelang es mir. Ich trank im Geiste eine Tasse Tee und wurde ganz ruhig. Anstatt zu schwimmen, flog ich plötzlich. Den Schlüssel hielt ich dabei locker in der Hand, denn mit einem Mal hatte ich keine Angst mehr, ihn zu verlieren. Endlich hatte ich das Prinzip hinter Admiral Witts Idee von der inneren Ruhe verstanden.

Als ich zehn Minuten später mit einer Tasse heißem Wasser, einer halben Zitrone und vier Zuckerwürfeln zurückkehrte, hatte sich Eliot bereits umgezogen und unter seine Decke verkrochen. Es war kalt in dem Zimmer. Das Fenster stand auf kipp und die Heizung war heruntergedreht. Ich setzte mich auf die Bettkante, entließ den Saft der Zitrone in den aus der Teetasse aufsteigenden Nebel und genoss dabei Eliots Aufmerksamkeit. Die Krankheit stand ihm nun noch deutlicher ins Gesicht geschrieben als zuvor. Seine Stimme klang müde und schwach, als er sich für meine Mühe bedankte und sich erneut für seine Unpässlichkeit entschuldigte. Ich erwiderte nichts, sondern widmete mich voll und ganz der vor mir liegenden Aufgabe, die Gegensätze Feuer und Wasser, sauer und süß miteinander zu verbinden. Als ich Eliot das mit Zucker angereicherte Zitronenwasser reichte und ihn ermahnte, den Tee heiß zu sich zu nehmen, nickte er zwar artig, machte aber keine Anstalten, zu trinken, sondern stellte den Becher vor sich auf der Bettdecke ab.

Wir schwiegen. Wie damals in Oberstdorf. Ein mystischer, wortloser Dialog. Jeder in sich selbst zurückgezogen und doch miteinander verbunden. Eliot sah seinem Tee im schwachen Schein der Nachtischlampe beim Abkühlen zu. Ich saß auf seiner Bettkante und beobachtete die Nacht draußen vor dem Fenster. So vergingen Minuten und ich befürchtete fast, dass Eliot bereits eingeschlafen sein könnte, als er mich plötzlich fragte, was ich zu Weihnachten bekommen hätte. Ich wandte mich zu ihm um und fing an, in meinen Gedanken zu kramen.

André hat wie jedes Jahr sein Weihnachtspaket mit uns allen geteilt. Es war voller Plätzchen aus der großelterlichen Weihnachtsbäckerei und saftigen, aber extrem saueren Äpfeln aus der Klunkerwirtschaft seiner Eltern. Nachdem wir uns alle an den Leckereien gütlich getan hatten, blieben ihm selbst nur zwei Paar dicker, handgestrickter Wollsocken und ein Paar grober, mit Lammfell gefütterter Wildlederfäustlinge. Die Socken schenkte er, da er inzwischen angeblich genügend davon besaß, an mich weiter. Ich versuchte zwar, dankend abzulehnen, doch er bestand darauf, dass sich die Handarbeiten seiner Mutter bereits im schlimmsten Eis und Schnee bewährt hätten und mir gehören sollten. Zum Beweis krempelte er seine olivgrünen Kniestrümpfe so weit um, bis darunter die bunte Wolle aus der Strickstube seiner Mutter zum Vorschein kam. Die Fäustlinge verstaute er mit einer liebevollen, fast andächtigen Geste in der Innentasche seines Mantels. Ich habe ihn die Handschuhe bisher jedoch nie tragen sehen.

Das nächste Weihnachtsgeschenk bekam ich von Heidt, als er mich nach unserer letzten Stabssitzung beiseite nahm, um, weil Weihnachten ist, meine für den nächsten Sommer geplante Hochgebirgsexpedition ins Ausland zu genehmigen. Er sei sogar bereit, fügte er augenzwinkernd hinzu, die Ausgaben für die fehlende Ausrüstung aus dem Etat der Stabskompanie für das auslaufende Jahr zu decken. Außerdem würde der Besoldungsplan im neuen Rechnungsjahr meinen Antrag auf eine Stellenzulage für die beiden Feldwebelposten meiner Stabsabteilung berücksichtigen und die Zulagen als Bergführer um eine finanzielle Anerkennung für besondere Ausbildertätigkeiten im Außendienst ergänzen. Und zwar mit Rückwirkung zum letzten Quartal. Er habe sich diesbezüglich bereits mit dem Personalstab und der Haushaltsmittelverwaltung auseinandergesetzt und die Nachzahlung erfolge bereits im Januar. Heidt ist unberechenbar. Sein Geiz hat schon manch einen zu der irrigen Annahme verleitet, dass er die Kosten des Standorts aus seiner eigenen Tasche bestreiten müsste. Doch hin und wieder ergreift ihn eine Welle der Großzügigkeit und er wirft mit Scheinen nur so um sich.

Über die Bewilligung der Sonderzulagen freute ich mich am meisten, denn das bedeutet sozusagen eine kleine Gehaltserhöhung für meine beiden Feldwebel. Als Falk davon erfuhr, fiel er mir gleich um den Hals. Da er seine Familie in Freising unterstützt, kommt er selbst trotz geradezu asketischer Lebensweise auf keinen grünen Zweig und tatsächlich hatte ich den Antrag ursprünglich nur seinetwegen gestellt. Meine wahre Motivation braucht er jedoch nicht zu wissen. Deshalb befreite ich mich aus seinem Würgegriff und stellte nur fest, dass es keinen Grund zum Dank gebe, da es sich bei besagten Sonderzulagen keinesfalls um mildtätige Almosen handle. Ausnahmsweise verstand er meinen Wink, salutierte und machte sich an die Arbeit.

Meissmanns Geschenke blieben mir glücklicherweise die letzten Jahre über erspart. Auch ansonsten meinten es die Leute gut mit mir und hielten sich mit Geschenken und dergleichen zurück. Bis auf die Werbegrußkarten der Hüttenwirte, die Weihnachtsangebote der Sporthäuser und die Süßigkeiten, die mir Gudrun gegen meinen Willen immer wieder zusteckte, hatte ich nichts weiter auszustehen. Da ich außer meinem einen Wunsch keine weiteren Sehnsüchte hege, kann man es mir ohnehin nicht recht machen. Ich fragte Eliot, ob er Wünsche hätte, doch auch er hatte, wie erwartet, keine.

»Außer vielleicht …«, wandte er plötzlich ein und schaute mich nachdenklich an: »Weltfrieden.«

»Weltfrieden?« Ich war erstaunt.

»Ja, Weltfrieden«, sagte er nun bestimmt: »Eine Welt ohne Hunger, Elend und Krieg. Das wünschte ich mir schon als Kind.«

Ich fragte ihn, ob ihm klar sei, dass wir in solch einer Welt auf der Straße stünden.

»Nicht nur wir. Viele andere auch.« Er klang von der Vorstellung sichtlich angetan, griff meine Idee auf und spann sie auf seine Art und Weise weiter: »Wir müssten uns dann eben etwas anderes, etwas Vernünftiges überlegen. Ich würde zum Dichter umschulen und Du …« Eliot überlegte kurz: »Du könntest als Bergführer und Skilehrer arbeiten.« Ich befürchtete, dass sein Fieber gestiegen sei, und fühlte besorgt nach.

»Ich weiß, ich rede Unsinn«, wehrte er sich gegen meine fürsorgliche Geste: »Aber die Grundidee ist doch nur vernünftig. Weißt Du, Wilhelm, eigentlich bin ich Pazifist.«

Ich runzelte die Stirn und fragte ihn, ob er wisse, wer sein Arbeitsgeber ist.

»Das Bundesministerium für Verteidigung«, gab er ein wenig trotzig zurück, woraufhin ich sofort weiterfragte, ob er dabei als Pazifist keinen Konflikt sehe, doch Eliot erzählte etwas von einem Verteidigungsauftrag und humanitären Einsätzen im Rahmen unserer Friedensbündnisse.

Ich runzelte erneut die Stirn. Das konnte er nicht nichts ernstlich meinen. Ich verlangte von ihm eine klarer Abgrenzung zwischen den beiden Begriffen Verteidigung und Krieg. Für mich war es dasselbe. Es kam nur darauf an, welche der kriegsführenden Parteien man zum Sündenbock und welche man zum Unschuldslamm erkläre. Eliot nannte mich destruktiv und einen Pessimisten. Die Menschen hätten es geschafft, Sklaverei und Leibeigenschaft zu überwinden, ereiferte er sich plötzlich. Es sei von daher nicht abwegig, zu glauben, dass Krieg und Gewalt ebenso überwunden werden könnten. Das deutsche Militär existierte in Eliots Gedankenwelt nur der Form halber. Ein romantischer Volksglaube und ein politisches Hobby. Wie das britische Königshaus oder die Mona Lisa im Louvre. Ich fand seinen Vergleich an den Haaren herbeigezogen, doch Eliot ließ nicht locker und verstieg sich so sehr in seine Traumwelt aus humanitären Einsätzen und Friedensbündnissen, dass er sich zu der mit seinem Diensteid unvereinbaren Aussage hinreißen ließ, niemals eine Waffe gegen ein lebendiges Wesen führen zu wollen, und mich damit zu der Frage nötigte, ob er bei seiner Eignungsprüfung als Unteroffizier der Bundeswehr nicht seine Bereitschaft zu töten habe zu Protokoll geben müssen.

»Nein«, sagte er: »Sie stellten mir nur ein paar allgemeine Fragen zur aktuellen politischen Lage in Deutschland, ließen mich die Mitgliedsstaaten der NATO auf einer Karte zeigen, quälten mich mit langweiligen Schulaufgaben aus den Fächern Mathe, Deutsch und Geschichte und gaben mir sinnlose Rätsel auf: Wenn heute Dienstag sein soll, welcher Tag wäre dann drei Tage nach vorgestern? Oder: Apfel, Birne, Pflaume, Kirsche, Taschenmesser – welches Wort passt nicht zu der Gruppe?«

»Die Birne«, sagte ich, ohne zu zögern.

»Warum gerade die Birne?«

»Alles andere würde ich für eine Bergtour in meinen Rucksack packen.«

»Und warum keine Birne?«, fragte Eiot.

»Ich mag keine Birnen«, erklärte ich. Eliot lachte, sah mich jedoch kurz darauf streng an: »Was magst Du noch nicht?« Ich sagte, ich könne ihm aus dem Stegreif einhunderteinundzwanzig Dinge aufzählen, die ich nicht mochte, alphabetisch sortiert. Als er mir das nicht glauben wollte, legte ich los. Ich begann mit ›Achtung!‹ und einer Atempause und arbeitete mich daraufhin, ohne erneut Luft zu holen, durch das gesamte Alphabet. Als ich endete, sah mich Eliot skeptisch an: »Das waren nur einhundertzwanzig Punkte. Einer zu wenig.«

»Du hast mitgezählt?«, fragte ich erstaunt. Eigentlich hatte ich ihn beeindrucken wollen, stattdessen beeindruckte er nun mich. Zögerlich gab ich zu, dass ich den letzten Punkt unterschlagen hatte. Als ich jedoch selbst auf Eliots forschenden Blick hin eisern schwieg, lachte er schließlich: »Auf jeden Fall waren die Fragen der Eignungsprüfung denkbar einfach. Die moralischen Verhöre führen sie nur mit den Verweigerern durch.« Ich kam aus dem Stirnrunzeln nicht mehr heraus: Spätestens als man ihm gezeigt habe, wie man eine Waffe lade, entsichere und abfeuere, sei ihm doch wohl ein Licht aufgegangen.

Eliot beharrte jedoch auf seinem naiven Standpunkt und glaubte, mich damit überzeugen zu können, dass die zurückliegenden Friedenseinsätze der Vereinten Nationen im Ausland das Gebot der absoluten Friedfertigkeit zur Genüge bewiesen hätten. Er fing an, ein um die andere Friedensmission auszurollen, und vergaß auch nicht darauf hinzuweisen, dass die Blauhelme für ihr Engagement zur Sicherung des Weltfriedens sogar den Friedensnobelpreis erhalten hätten.

Die friedenserzwingenden Maßnahmen einer durch das unerfüllbare Mandat der Vielvölkerei handlungsunfähigen Gruppe seien nun also seine Vorstellung von Weltfrieden, fragte ich ungläubig. Und überhaupt: Wie wolle man denn bitte schön Krieg, Gräuel und Ungerechtigkeit verhindern, stellte ich ihn stellvertretend für die Vereinten Nationen zur Rede, wenn man sich bereits im Vorfeld durch eine selbst auferlegte Tatenlosigkeit jeglichen Handlungsspielraum verbaue. »Aktiv oder passiv, am Ende klebt Blut an Deinen Fingern, ob Du nun einen davon gekrümmt hast oder nicht. Allein schon von Berufs wegen«, schloss ich meine aufbrausende Rede.

Elli wollte jedoch partout keines meiner Argumente gelten lassen. Trotz sprach aus seinem Blick und aus seiner Stimme. Vielleicht war es aber die Angst vor dem nur durch stures Leugnen vermeidbaren Zugeständnis, dass ich Recht hatte, und die damit verbundenen moralischen Konsequenzen. Oder verlangte ich doch zu viel von jemandem, der an Kobolde glaubte, sich zum Dichter berufen fühlte und den Versprechungen auf dem Etikett eines Limonadenherstellers vertraute? Seine kindische Widerrede erinnerte mich an die unzähligen Auseinandersetzungen, die ich über die Jahre hinweg mit Tomo ausgefochten hatte. Tomo stand stets für das Gute und Heilige ein, während mein Job zunehmend darin bestand, ihm seinen Gutglauben auszureden und seine Heiligtümer zu entweihen.

»Es ist grausam, wenn man einer Fliege den Kopf vom Rumpf trennt! Vielleicht wird dabei auch ihre Seele zerschnitten«, hatte Tomo damals protestiert, als ich mich mit Gummihandschuhen, Laborbrille, Mundschutz, Weißkittel, Pinzette und Skalpell bewaffnet über das auf einen Objektträger geklebte Lebendpräparat hermachen wollte.

»Tomo, man kann doch keine Seele zerschneiden«, sagte ich streng, um ihm zu verstehen zu geben, dass er gerade etwas sehr Dummes gesagt hatte, und spannte das hilflos zuckende Insekt unter das Objektiv meines Mikroskops. Ich hatte die Wissenschaftler unzählige Male bei derlei Prozeduren beobachtet: Man bestrich einen Objektträger mit einer klebrigen Lockpaste und führte das derart präparierte Glasplättchen in das Fliegenterrarium ein. Sobald sich eine der ahnungslosen Fliegen, darauf niedergelassen hatte, saß sie in der Falle und konnte für Versuchszwecke entnommen werden.

»Was passiert dann mit der Seele?«, piesackte mich Tomo weiter. Es hatte mich bereits all meine Überredungskunst gekostet, ihn überhaupt dazu zu bewegen, mit mir in eines von Meissmanns Labore zu schleichen, um dort Tierexperimente durchzuführen. Doch nun gefiel ihm nicht, dass ich die Tierchen in Hälften schneiden, unter eine Vakuumglocke sperren oder irgendwelchen giftigen Substanzen aussetzen wollte. Die Experimente, die Tomo vorschlug, passten wiederum mir nicht in den Kram. Er wollte die Fliegen freilassen und beobachten, wohin sie flogen, oder herausfinden, ob man ihnen Schokolade verfüttern konnte. Das war mir jedoch zu kindisch, zu unoriginell, zu passiv und zu langweilig. Ich erklärte ihm, dass bei einem echten Experiment auch echte Laborutensilien und Apparate zum Einsatz kommen müssten, also Zwicker und Pinzetten, Glasschälchen und Reagenzgläser, chemische Substanzen, Mikroskope, Brenner und Vakuumpumpen. Ich versuchte Tomos Bedenken bezüglich der Seele zu zerstreuen und redete beschwichtigend auf ihn ein. »Die Seele bleibt nach der Sektion entweder im Kopf oder im Rumpf zurück. Glaubst Du denn etwa auch, dass ein Teil Deiner Seele verloren geht, wenn man Dir Blut abnimmt?« Natürlich hatte ich überhaupt keine Ahnung, wovon ich da sprach, aber meine selbstsichere und großsprecheriche Art brachte Tomo ins Grübeln. Er gestand, dass er darüber noch nie nachgedacht habe, aber doch glaube, dass auch das Blut voller Seele sei, wie könnte man sonst Blutsbrüderschaft schließen.

Ich wurde ungeduldig und widersprach ihm: »Wenn das Blut voller Seele wäre, wie verhält es sich dann mit den Tränen? Oder wenn man sich schnäuzt? Oder wenn man aufs Klo muss?« Obwohl er meine Argumente nicht entkräften konnte, beharrte er darauf, dass man ein lebendiges Insekt nicht in zwei Hälften schneiden dürfe. Das sei Quälerei. Keine Quälerei, gab ich zurück, sondern Wissenschaft. Die Laboranten machten das jeden Tag. Tomo schüttelte den Kopf und schaute panisch zu, wie ich die Leuchte des Mikroskops anknipste und mich mit meinem Silberbesteck über das zappelnde Wesen beugte.

Dass ich ihn zu sehr mit meinen Ideen bedrängt hatte, bemerkte ich erst, als ich etwas sanft auf den Laborfliesen aufschlagen hörte. Erschrocken ließ ich Pinzette und Skalpell fallen, sprang von meinem Stuhl und versuchte, Tomos Hand zu greifen. Aber dazu war es bereits zu spät. Tomos Körper hatte seine feste Substanz verloren. Der weiße Laborkittel, den er sich übergeworfen hatte, war durch ihn hindurch zu Boden gefallen und lag nun wie eine abgestreifte Schlangenhaut zu seinen Füßen. Mein Griff nach seiner Hand ging ins Leere. Er verlor zunehmend an Kontur, bis nicht mehr von ihm übrig war als ein formloser Schatten, der wie eine dunkle Flamme hilflos in der Luft flackerte, bevor er schließlich ganz erlosch. Das hatte ich nicht gewollt, das hatte ich nie gewollt, egal wie uneins wir uns gewesen waren. Seine Stimme drang leise und wie von fern zu mir. Es klang als würde er hinter vorgehaltener Hand schreien. Dann war er plötzlich weg. Das passierte oft oder zumindest nicht selten, dennoch mochte ich mich nicht daran gewöhnen, vor allen Dingen, wenn die Nacht noch jung war und wir uns so viel vorgenommen hatten.

Ohne je darüber gesprochen zu haben, hatten wir uns darauf geeinigt, die mysteriösen Umstände unseres Zusammenseins niemals zu tief zu hinterfragen, da wir fürchteten, dass zu viel Wissen alles zerstören würde, so wie einst Adam und Eva im Tausch gegen die Erkenntnis über ihre Existenz der Garten Eden genommen worden war. Dennoch gab es feste Grundregeln, die wir recht schnell verstehen lernten und an die wir uns halten mussten: Tomos Erscheinen folgte einer nicht immer ganz durchschaubaren kosmischen Willkür. Seine Besuche waren auf die Nacht beschränkt, dauerten jeweils nur wenige Stunden und es durfte währenddessen kein Dritter zugegen sein. Anfangs war Tomo mehr Schatten als Körper, eine dunkle Luftspiegelung ohne Sprache und ohne fassbare Gestalt, doch er lernte bald, sich in meiner Welt nahezu genauso zu verhalten wie ein gewöhnlicher Mensch – mit den wohl auffälligsten Ausnahmen, dass er einerseits schweben, dafür aber keine Türen öffnen konnte, und wenn uns während unseres Zusammenseins eine zu große Distanz voneinander trennte, tauchte er plötzlich wie durch einen Zauber neben mir auf. Wenn er hingegen unter extremen Stress geriet, löste er sich einfach auf, ohne dass einer von uns beiden sein Verschwinden auch nur im geringsten beeinflussen oder gar aufhalten konnte.

Nachdem wir dieses Grundprinzip verstanden hatten, mieden wir stressige Situationen, und wenn Tomo zu zappelig oder aufgeregt wurde, hielt ich ihn an der Hand, um ihn ja nicht an den Rand des Verschwindens driften zu lassen. In jener Nacht hatte ich die Zeichen jedoch zu spät erkannt und blieb allein mit dem seinem vorzeitigen Tode harrenden Insekt zurück. Ich führte den Versuch dennoch zu Ende und fand nach einem kurzen präzisen Schnitt heraus, dass die Seele weder im Kopf noch im Rumpf verblieb, sondern bei Eintritt des Todes beide Körperteile nahezu gleichzeitig verließ. Das lebendige Glitzern erlosch und zurück blieb, wie von mir nie anders erwartet, ein toter Fliegenkörper. Genauso tot oder lebendig wie der Objektträger, auf dem er festgeklebt war. Als ich Tomo in der darauffolgenden Nacht davon berichtete, staunte er nicht schlecht und ließ sich alles ganz genau und detailliert erzählen. Zu weiteren Experimenten ließ er sich jedoch nicht überreden. Dabei hatten wir noch so viele andere Tiere im Labor.

Tomo und ich stritten uns oft, wenngleich auf unsere kindliche Art und Weise, über Recht und Unrecht, Tod und Töten und andere komplizierte Dinge. Doch das Gesetz zwang uns dazu, Eskalationen zu vermeiden und unsere Kleinkriege recht schnell beizulegen. Vielleicht war es mein Gedenken an Tomo, vielleicht aber auch ein einfaches Bedürfnis nach Harmonie, was mich versöhnlich stimmte, als Elli die Streiterei beiseiteschob und sich einen stillen Wunsch von der Seele betete, den ich ihm schwer verübeln konnte. Er hoffe von Herzen, dass ich mich irre, weil er nicht glaube, jemanden töten zu können. Obwohl ich mir noch immer sicher war, dass meiner pessimistischen Einschätzung eher zu trauen war als seiner frommen Hoffnung, nickte ich und erinnerte ihn daran, dass wir uns ohnehin längst darauf geeinigt hätten, die Hoffnung eine gute Seele zu nennen. Ich deutete sein schiefes Lächeln als ein Zeichen dafür, dass er sich an unser Gespräch von vor drei Monaten erinnerte. Er wurde jedoch sehr schnell wieder ernst und fragte mich, ob ich mich des Tötens fähig glaube. Dass ich des Tötens fähig bin, ist bei mir längst keine Glaubensfrage mehr, sondern auf Erfahrung gründende Gewissheit.

Ich spreche dabei nicht von der Enthauptung einer kleinen Fruchtfliege aus Meissmanns Labor – das war nur eine Kinderei – sondern von literweise quellendem Blut, gurgelndem Röcheln und einem pulsierenden Körper, der ganz langsam kalt wird. Die Geschichte ereignete sich vor noch nicht einmal einem Jahr, im vergangenen Frühling, Ende März, kurz nach Sebastians Freifall. Auf Eliots eindringliche Bitte hin weihte ich ihn in den Hergang der Dinge ein, die mich damals erst zum Mörder und dann zum Helden gemacht hatten: Die Mittenwalder waren damals noch immer von den vorangegangenen Geschehnissen um Sebastian Grünlindt traumatisiert. Dennoch oder vielmehr gerade deswegen hielt ich streng an allen geplanten Terminen fest und folgte mit einem achtzehn Mann starken Zug der Einladung unserer Berchtesgadener Kameraden zu einem gemeinsamen Wintermarsch.

Es waren auch österreichische Gebirgsjägereinheiten eingeladen. Gemeinsam sollte unser Tross aus ungefähr einhundert Kameraden drei Tage und Nächte lang quer durch die Alpen ziehen. Neben der vollzähligen Belegschaft meiner Stabsabteilung hatte ich noch acht Leute aus Andrés Hochgebirgsjägerzug und Strefler im Schlepptau. Die Österreicher hatten hauptsächlich junge Rekruten geschickt, doch ihre Zugführer – oder besser Zugkommandanten, wie man das dort drüben nennt – waren uns bereits von verschiedenen Wettkämpfen und gemeinsamen Veranstaltungen der vergangenen Jahre vertraut. Die Aktion stand unter der Schirmherrschaft des Bad Reichenhaller Gebirgsjägerbataillons und das Kommando führte Hauptmann Albrecht mit mir als seinem Stellvertreter.

Eine hervorstechende Besonderheit des Bad Reichenhaller Standorts ist die dort stationierte Gebirgstragtierkompanie mit ihren zum Transportieren von schweren Lasten durch unwegsames Gelände verwendeten Maultiereinheiten und ihren berittenen Haflingerzügen. Die Tiere dort werden von ihren Tragtierführern geliebt und verehrt. Sie erhalten ihre Namen nach Geburtsjahr. Ich hatte während jener Tour die Ehre, die treuen Gefährten Siggi, Tornado, Merkur und Alyssa kennenlernen zu dürfen. Sie liefen mit ihren Führern an der Spitze des Zuges und spurten eine bequeme Schneise für die nachfolgenden Soldaten in den etwa kniehohen Schnee. Unsere Bad Reichenhaller Gastgeber hatten die Route vorausschauend geplant und führten den Tross stringent, aber ohne große Quälerei durch die üblichen Tücken eines nur widerwillig ausklingen wollenden, aber alles in allem recht sanftmütigen Winters. Auch die Truppe war gut aufgelegt und trällerte ein Liedchen nach dem anderen, als übten sie für einen Liederwettbewerb. Selbst als vereiste Firnfelder unseren Marsch so sehr verlangsamten, dass unser Zeitbudget zum Bau des Nachtlagers empfindlich zusammenzuschrumpfen drohte, wurde kräftig weitergesungen.

Wir hatten erst die Hälfte unserer Marschroute hinter uns gebracht, aber bereits Dreiviertel des Tageslichts verbraucht, als wir eines unserer Tiere verloren. Alyssa, eines der Mulis, Spurtreter und Lastenträger, stürzte mit einem grausamen Getöse in die Tiefe. Ihre schwer beladenen Körbe schrappten knirschend an dem rauen Kalk entlang und schlugen dabei dicke Eiszapfen und kleine Gerölllawinen los, bevor sie sich von der Sattelvorrichtung lösten und ächzend auf einem breiten, schneebedeckten Sims in der oberen Hälfte der Wand zum Liegen kamen. Alyssas Fall hingegen wurde erst etwa vierzig Meter tiefer von einem hervorstehenden Felsdorn aufgefangen, der so scharfkantig und glatt war, dass weder Schnee noch Eis es bisher geschafft hatten, dort Fuß zu fassen. Wir hörten einen dumpfen Schlag, das Brechen von Wirbeln und das Rasseln des Saumzeugs. Dann war alles bis auf den in die Schlucht hinabrieselnden Schnee still.

Als Albrecht mir signalisierte, den zum Stehen gekommenen Tross aus hundert schreckensbleichen Gesichtern wieder in Bewegung zu setzen und schnellstmöglich aus der unwegsamen Passage herauszubringen, erteilte ich den Zugführern das Kommando zum zügigen Durchmarsch, blieb selbst jedoch an der Absturzstelle zurück, wo ich mich an der Felskante sicherte und in die Tiefe spähte. Alyssa lebte noch. Ich zweifelte jedoch, dass sie bei Bewusstsein war, da sie bis auf das seichte Pulsieren ihrer Flanken vollkommen reglos dalag.

Die griff- und trittarme Wand fiel bis auf die unregelmäßig verteilten Mulden, Rinnen und Wülste fast senkrecht nach unten in die Tiefe und war in großen Teilen vereist. Kein gutes Eis allerdings. Zu dünn, um sich mit den Hauen der Eisgeräte daran festzuhalten, aber zu dick, um mit dem darunter liegenden Fels arbeiten zu können, zudem hatte der Frühling das Eis porös werden lassen und teilweise mit losen Schneemassen, die vermutlich aus den höheren Lagen abgerutscht waren, bedeckt. Man musste nur scharf in die Schlucht hinabsehen, um bereits kleine Lawinen aus pampigem Schnee und löchrigen Frostklumpen von der Wand zu schlagen. Aber das war im Grunde alles kein Problem, da wir ja von oben sichern konnten. Gerade als ich mich wieder aufrappeln wollte, klinkte sich ein zweites Karabinergeschirr in meine Sicherung ein.

»Schon einen günstigen Zustieg gefunden? Brauchen wir Eisgeräte?«, fragte mich Falk und lehnte sich nach vorn, um die Klettermöglichkeiten der Wand zu inspizieren. Beim Anblick des seltsam über den Mauervorsprung gefalteten Tierkörpers zuckte er heftig zusammen und stöhnte vor Mitleid auf, fing sich aber sogleich wieder und fragte, ob er einen Abseilstand anlegen solle. Ich schüttelte den Kopf und löste meine Sicherung.

Da die Entscheidungsgewalt nicht bei mir lag, schlug ich mich auf dem schmalen Steig bis zu Albrecht vor und erklärte ihm die Situation. Er zeigte sich davon jedoch völlig ungerührt und meinte, dass sich eine Bergungsmannschaft am nächsten Morgen um den toten Kameraden und die verlorene Fracht kümmern würde. Tot? Ich dachte, Albrecht hätte meine Meldung nicht richtig verstanden, doch als ich ihm die Sachlage erneut auseinandersetzen wollte, schnitt er mir das Wort ab und sagte bestimmt: »Ich spreche von morgen früh und morgen früh wird sie tot sein.« Da mich Albrechts praktische Überlegungen ebenso wenig überzeugten, wie er sich von meinen frommen Prinzipien beeindrucken ließ, er aber keinen Gebrauch von seiner Befehlsgewalt machte, gerieten wir in einen kleinen Disput.

Albrecht war nicht bereit, den Marsch zu unterbrechen, nur weil eines der Mulis ausgefallen sei. Der Verlust sei tragisch, aber kompensierbar. Die Verzögerung, die wir durch die Bergung in Kauf zu nehmen hätten, würde das geplante Marschziel sowie die Termine für den nächsten Tag ins Wanken bringen. Er bedauere zwar, dass mit Alyssas Fracht die komplette Frischnahrung verloren gegangen sei, sehe jedoch kein Problem darin, die Truppe mit Konservennahrung vorlieb nehmen zu lassen, anstatt sie mit Obst und Brötchen zu verhätscheln. Noch nicht einmal einer medizinischen Notversorgung des Verletzten wollte er zustimmen, da die Stelle schwierig zu klettern sei und somit eine Gefahr für Menschenleben darstelle. Alyssas Sturz sei der Beweis für die Tücke dieser Passage. Auch für einen Hubschrauber sei die überhängende Wand in der schmalen Schlucht schwer anzufliegen. Um Mann und Material erfolgreich bergen zu können, müssten diese zuvor von einem Rettungstrupp an eine frei zugängliche Stelle evakuiert werden.

Als sich Falk einmischen wollte, ermahnte ich ihn mit einem strengen Blick, Ruhe zu bewahren. Sein Opfer würde der Lage auch nicht dienen. Wenn Albrecht seinen Willen durchsetzen wollte, würde er das ungeachtet Feldwebel Falk Theodor Kastls ehrenwerter Meinung auch tun. Schlimmstenfalls würde er dem vorlauten Mittenwalder Hitzkopf sogar noch eine förmliche Rüge einbrocken. Es genügte, dass ich mit meiner beständigen Widerrede möglicherweise die Saat für unterschwelligen Unmut zwischen den beiden Gebirgsjägerstandorten streute, obwohl mich Heidt vor meiner Abreise eindringlich darum gebeten hatte, mich zu benehmen und nicht ständig zu widersprechen.

Ich war bereits auf eine Eskalation oder ein abruptes Machtwort gefasst, als mich Albrecht nach einigem Hin und Her mit seinem Segen überraschte. Er wies jedoch nachdrücklich darauf hin, dass die Verzögerung durch die Rettungsaktion einen Weitermarsch für mich und meine freiwilligen Helfer unmöglich machen würde. Die Tage seien zu kurz und das Wetter reine Spekulation. Ich versicherte ihm, dass ich mir der Konsequenzen meiner Entscheidung bewusst sei, und bat um Mann und Material für die bevorstehende Bergungsaktion. Ich hielt es für das Klügste, den Rettungstrupp aus beiden deutschen Gebirgsjägerbataillonen zu rekrutieren, und brauchte sowohl angelernte Veterinärmediziner als auch fähige Kletterer.

»Sie nehmen von den Lebenden und werfen es vor die Toten, Hauptmann Fenner«, tadelte mich Albrecht, stellte mir jedoch sogleich zwei Leute zur Seite, denen das Wohlergehen des verunglückten Tieres so sehr am Herzen lag, dass sie sich freiwillig zur Umkehr meldeten: Leutnant Soiren, ein junger Offizier aus dem Veterinärzug der Tragtierkompanie, und Obergefreiter Gladstein, Alyssas Führer. Falk, Strefler und ich stellten die Mittenwalder Fraktion.

Auch an Ausrüstung ließ Albrecht es uns nicht mangeln, sondern lud uns mächtig viel Zeug auf die Schultern: von den benötigten Seillängen über das medizinische Versorgungsmaterial bis hin zu Handseilwinde und Funkgerät. Die Österreicher borgten uns ihre für den Marsch ohnehin nicht benötigten Steigeisen und Eisgeräte, damit wir uns leichter in den Eisrinnen und an den verglasten Wänden bewegen können würden. Bevor Albrecht uns ziehen ließ, handelte er noch schnell alle protokollarischen Formalitäten ab, drückte mir ein schwarzes Kästchen in die Hand und versicherte mich nachdrücklich Leutnants Soirens veterinärmedizinischer Fähigkeiten.

Die anschließende Bergungsaktion verlief nur wenig überraschend. Jedem war klar, dass unsere Mission bestenfalls darin bestehen konnte, Alyssa den Gnadentod zu schenken und unser Gewissen zu erleichtern, indem wir uns einredeten, es wenigstens versucht zu haben. Als wir den Mauervorsprung erreichten, sahen wir auf beiden Seiten Rinnsal aus Blut, das den Fels entlang rann, um entweder als zähe Tropfen in die Tiefe zu stürzen oder an der Unterkante des Vorsprungs zu dunkelroten Eiszapfen zu gefrieren. Alyssas Rippen hatten zerfranste Löcher in das rhyolithbraune Samtfell gestoßen und ragten mit stumpf zersplitterten Enden in den Himmel. Ein leise röchelndes Schnaufen drang durch ihre Nüstern. Ihre Augen waren geschlossen. Wir dachten zunächst, sie hätte das Bewusstsein verloren, da weder das Klappern der Karabiner noch das Setzen der Wandnägel, das Scharren der Steigeisen an den eisfreien Felsplatten oder unsere Unterhaltungen auch nur die geringste Regung auf ihrem trotz der tragischen Umstände noch immer edlen und schönen Gaulgesicht hervorgerufen hatten. Erst als Gladstein vorsichtig ihren Kopf streichelte, kam Leben in den bis dahin reglosen Körper. Die Vorderläufe zappelten unkrontrollier in der Luft und das leise Röcheln verwandelte sich in ein gequältes, gurgelndes Stöhnen, dessen Echo tausendfach durch die Schlucht hallte. Der Hinterleib verharrte hingegen still, als sei er schon gestorben.

Als sich Alyssas Augen öffneten und starr und traurig in den weißen Himmel blickten, glaubte ich ein stummes Klagelied zu hören. Ein immerwährendes Lebewohl und eine Verabschiedung von allem Diesseitigen. Ich schämte mich für mein Glück, weiterleben zu dürfen, und hoffte, dass Alyssa mir dieses Glück verzieh. Ungeachtet ihrer unkontrollierten Tritte nahm Gladstein sie in den Arm und redete beruhigend auf sie ein, während der Veterinär nicht viel für sie tun konnte, außer mir das Offensichtliche in Medizinerdeutsch wiederzugeben. Doch selbst der Laie verstand, dass Alyssa nur durch einen raschen Tod von ihren Leiden erlöst werden konnte. Darum zögerte ich nicht, sondern nahm meinen Helm und meine Mütze ab und nickte Soiren zu.

Falk bekreuzigte sich und Gladstein weinte in Alyssas struppige Mähne, während sich Soiren an die Arbeit machte. Ich bot ihm meine Hilfe an, doch er wimmelte mich ab und zog mit sicherer, fachkundiger Hand die Spritzen auf.

Schweigend hingen wir in der Wand und warteten auf den Tod. Ich war mit meinen Gedanken jedoch schon längst nicht mehr bei der Sache, sondern stand unbequem mit den vorderen Zacken meiner geborgten Steigeisen auf einem schmalen Felstritt und ging im Geiste die nächsten Punkte der Tagesordnung durch. Das Wetter bereitete mir ein wenig Sorgen. In demselben Maß, wie das Tageslicht nachließ, zogen Wind und Kälte an, der Himmel war weiß und die Luft rau und dünn. Ich hoffte jedoch auf Unterstützung durch das Hubschrauberregiment, denn ich hatte Strefler am Anseilpunkt zurückgelassen, um sich wegen des Abtransports und der Verbringung der Bergungsmannschaft mit den Heeresfliegern in Verbindung zu setzen.

Soiren meldete Alyssas Tod und nach einer obligatorischen Schweigeminute beendete ich das Zeremoniell, indem ich mir meine Mütze und meinen Helm überstülpte und mich mit einem kurzen ›Danke Leute!‹ für die nicht unbedingt selbstverständliche und deswegen tapfere Freiwilligenarbeit erkenntlich zeigte. Ich wollte gerade das weitere Prozedere bekannt geben, als sich ein roter Helm über die hohe Kante der Wand schob.

Es war Strefler. Er signalisierte mir, dass das Hubschrauberregiment der Entsendung eines leichten Transporthubschraubers zugestimmt habe, der uns in genau zwei Stunden an den von mir vorgeschlagenen Koordinaten abholen würde. Die Bergung des vorerst am Berg verbleibenden Leichnams sowie des Sattelzeugs und der Fracht sei ebenfalls bereits für den folgenden Morgen angesetzt. Das waren gute Neuigkeiten. Alles schien nach Plan zu verlaufen. Ich zollte auch Strefler meinen Dank und verteilte die Rollen neu: Während ich die Mittenwalder mit der Sicherung des auf dem höher gelegenen Mauersims gestrandeten Lastenkorbs beauftragte, sollten Gladstein und Soiren zunächst den Leichnam an der Wand vertauen und anschließend ihre beiden Kameraden bei der Bergung von Alyssas Traglast unterstützen. Ich selbst wollte mich nochmals persönlich mit den Fliegern in Verbindung setzen, um mich einerseits der Details unserer Hals über Kopf geplanten Luftevakuierung zu vergewissern und andererseits weitere Absprachen bezüglich unserer Verbringung zu treffen. Ich hatte nicht ohne Grund auf unsere Kameraden von der Fliegertruppe gesetzt, sondern hoffte, dass sie uns anstatt ins Tal auszufliegen über dem Biwak unserer Marschkompanie abwerfen würden.

Es entbrannte jedoch eine hitzige Diskussion über meine Entscheidung. Falk wollte nicht einsehen, warum er sich um die Bergung eines Lastenkorbes kümmern sollte, während der tote Körper seines Trägers eine einsame, kalte Nacht am Berg verbringen musste. Es war wie zuvor zwischen mir und Albrecht, nur dass ich nun Albrechts Standpunkt vertrat und Falk die Rolle des Querulanten übernahm. In Anbetracht des schmalen Zeitfensters, das uns bis zum Eintreffen der Hubschrauber verblieb, gab ich nach und versprach mich der Entscheidung der Truppe unterzuordnen. Sie sollten unter sich ausmachen, ob sie lieber den Leichnam bergen würden, um ihm bis zu seiner Entsorgung in der Tierkörperbeseitigungsanlage einen Totenschrein auf dem schmalen Bergabsatz, von dem sie abgerutscht war, zu errichten. Oder ob sie lieber Alyssas Tragekörbe bergen wollten, die Frischverpflegung für die Truppe enthielten. Ich gab ihnen vier Minuten und sie hatten vier Stimmen: Soiren, Gladstein, Falk und Strefler. Wenn sie sich nicht einigten, würde meine Stimme den Ausschlag geben.

An dieser Stelle unterbrach ich meine Erzählung und ermahnte Elli, endlich seinen Tee zu trinken, der inzwischen schon stark abgekühlt war. Elli schnupperte skeptisch an der Tasse und zog seine Stirn kraus: »Sie entschieden sich für das Versorgungspaket«, räsonierte er selbstsicher und trank trotz seines argwöhnischen Blicks einen kräftigen Schluck. Ich wollte wissen, wie er zu seiner, wie ich eingestehen musste, vollkommen richtigen Annahme gekommen war. Eliot schüttelte sich heftig, um den saueren Geschmack loszuwerden, und prustete: »Die beiden Veterinäre sind Mediziner, fachkundige und erfahrene Realisten, die eventuell bereits andere tragische Situationen haben durchstehen müssen: Unfälle, Fehlgeburten, Todesspritzen für kranke Tiere. Ich bin mir sicher, dass sie Alyssa sehr verbunden waren und nicht wollten, dass sie die Versorgungsmittel umsonst den Berg hinaufgeschleppt hatte«, analysierte Elli und lag auch damit vollkommen richtig. So ähnlich hatten Soiren und Gladstein tatsächlich argumentiert.

»Falk«, fuhr Elli fort, »hat das Ganze sicherlich etwas emotionaler gesehen, aber auch er wird sich letzten Endes für das Versorgungspaket entschieden haben, weil er seinen Kameraden durch Alyssas Lastkörbe den toten Freund ins Gedächtnis rufen und eine Art Totenschmaus zelebrieren wollte. Außerdem wollte er sich sicherlich einerseits bei den immerhungrigen Kameraden beliebt machen, sowie andererseits bei seinem Vorgesetzten einen guten Eindruck hinterlassen, indem er eine rationale Entscheidung traf, die allen am meisten nützte.« Wieder lag Elli richtig, bis auf die Fehlannahme, dass Falk sich bei mir in ein gutes Licht hätte rücken wollen. Im Gegenteil, Falk lässt keine Gelegenheit ungenutzt, meine Schmerzgrenzen bis aufs Äußerste auszureizen.

»Und Du«, spann Elli weiter, als spräche er von einem Dritten: »Du hast diese Abstimmung doch nur zugelassen, weil Du von vorneherein wusstest, wie sie ausgehen würde. So konntest Du Deinen Willen durchsetzen, ohne als Despot zu gelten. Du wolltest mit einer Siegestrophäe zum Tross zurückkehren und da machte eine Truppenration Frischverpflegung eben mehr her als die Bergung einer Leiche. Es ging um die Ehre, ums Prinzip und ums Kleinkarierte: Hauptmann gegen Hauptmann, Wort gegen Wort, ein Gebirgsjägerstandort gegen den anderen.«

Ich wehrte mich gegen seine Unterstellungen, aber Eliot grinste nur: »Außerdem ist es urmenschlich, das Versorgungspaket zu wählen. Erst der politisch zurechtgestutzte Gedanke zieht die Bergung des toten Körpers überhaupt in Betracht.«

»Und Du?«, wollte ich wissen: »Wie hättest Du Dich entschieden?«

»Ich?«, fragte er, als ob ich jemand anderen gemeint haben könnte, und tat ganz überrascht, um Zeit schinden.

»Du hättest für die Bergung des toten Mulis plädiert, nicht wahr?«, unterbrach ich seine vorgeschobene Grübelei. Er sah erstaunt auf: »Wie kommst Du darauf? Nur weil ich mich zuvor selbst einen Pazifisten nannte?«

»Nein«, sagte ich, »sondern weil ich glaube, dass Du Dich vor der moralischen Verantwortung scheuen würdest. Stattdessen würdest Du Dich lieber am Rockzipfel Deiner vagen Vorstellung von Recht und Unrecht festhalten und anderen die Entscheidung überlassen, indem Du Deine Stimme in eine leere Waagschale wirfst, wohl wissend, dass Du damit sowieso nichts bewirken würdest.« Ich rechnete mit ihm genauso bitterböse ab wie er zuvor mit mir.

»Was?«, fuhr er plötzlich lebhaft auf, als hätte er seine Krankheit vergessen, und schaute mich vorwurfsvoll an. Eigentlich hätte ich vor Angst, dass er mich gleich aus dem Zimmer werfen würde und nie mehr wiedersehen wollte, kleinlaut kapitulieren müssen, doch stattdessen lachte ich ihn vor Freude über meine Punktlandung aus: »Ich habe ins Schwarze getroffen, nicht wahr?«

Elli schüttelte den Kopf und ließ sich zurück in seine Kissen sinken: »Gar nichts ist wahr«, sagte er: »Am allerwenigsten Deine an den Haaren herbeigezogene Charakteranalyse über mich. Erzählst Du mir jetzt die Geschichte zu Ende oder frönst Du lieber weiter Deiner menschlichen Irrtümer?« Ich versprach das Frönen zu lassen, wenn er nur endlich seinen Tee austränke. Trotzig nahm er einen weiteren Schluck und verzog das Gesicht.

Wie aufgescheuchte Schneehasen suchten unsere Kameraden Deckung in ihren Iglus, Zelten und Windverschanzungen als der Luftpanzer der Heeresflieger den friedlich vor sich hindösenden Biwakplatz mit einem Trommelfeuer aus Schnee und Eis unter Beschuss nahm. Nur Albrecht stand gelassen in den peitschenden Schneewehen und zeigte dem Piloten, wo dieser die an dem langen Kabel der Seilwinde befestigte Fracht ablassen konnte. Anschließend löste Albrecht die Sicherungsschlingen von dem Lastenkorb und gab Zeichen, das Stahlseil einzuholen.

Während die Seilwinde surrend ihre Tätigkeit aufnahm, machten wir uns klar zum Ausstieg. Die Maschine konnte auf dem unebenen, abschüssigen und schmalstreifigen Gelände nicht landen, manövrierte jedoch so nah an den Biwakplatz heran, wie es die teils überhängende Bergwand und die aufwirbelnden Schneemassen zuließen. Auch Albrecht hatte inzwischen Zuflucht hinter einer Schutzwand aus Geröll und Schnee gesucht, als wir zunächst unsere Ausrüstung über Bord warfen und schließlich hinterher sprangen.

Nachdem der Pilot abgegrüßt und die Rotorblätter des Luftpanzers in sichere Höhen gelenkt hatte, legte sich der Schneesturm. Die Mannschaft kroch wieder aus ihren Unterschlüpfen hervor und Albrecht und ich gaben uns versöhnlich die Hand. Da alle bereits gespannt auf Neuigkeiten warteten, war Falk nun ganz in seinem Element: abenteuerliche Heldengeschichten erfinden. Ich ließ ihn erzählen und inspizierte inzwischen das Iglu, das Albrecht für uns hatte bauen lassen. Es war tadellos.

Wie Eliot am Ende meiner Erzählung richtig feststellte, hatte ich nicht selbst getötet, sondern töten lassen, und keinen Mord begangen, sondern palliative Abhilfe geleistet. Als ich jedoch darauf bestand, dass dies auf den Umstand des Tötens reduziert keinen Unterschied mache, stimmte er mir vorbehaltlos zu und fragte, ob es mir schwergefallen sei.

»Nein, es war ganz einfach«, gestand ich reumütig. Ellis Gegenwart machte mich verlegen und zum ersten Mal befiel mich beim Erzählen dieser Geschichte ein Gefühl von Scham und Schuld über meine kaltherzige Entscheidung – nicht über die Entscheidung an sich, sondern über die Kaltherzigkeit daran. Wieso kenne ich kein Mitleid mit den Dingen?

Nach einem nachdenklichen Nicken fügte Elli hinzu, dass er hoffe, niemals in solch eine Situation zu geraten. Er wolle weder über Leben und Tod entscheiden, noch einen Leichnam ungeweiht zurücklassen müssen. Ich schwieg, hoffte jedoch dasselbe für ihn. Wenn ich recht überlege, hätte Tomo wohl auch für die Bergung des gefallenen Kameraden anstatt des Vesperkorbs plädiert. Und zwar nicht aus moralischer Feigheit, wie ich sie Elli unterstellt hatte, sondern aus reiner Herzensgüte – einer Herzensgüte, die meinem stumpfen Empfinden schlicht unbegreiflich ist. Wahrscheinlich ist auch Elli kein Feigling.

»Vielleicht haben Dein Befehl und Dein Votum am Ende alle erlöst. Wie ein stummes Sühnopfer.« Eliot schaute mich versöhnlich an. Ich zuckte zuerst nur mit den Schultern, schloss dann aber doch meinen Frieden mit ihm, mit mir selbst und mit dem ganzen Rest. Er hatte womöglich Recht. Selbst mit der Rückendeckung aller Protokolle, Gesetze und Expertenmeinungen der Welt, muss es am Ende jemanden geben, der die Schuld auf sich nimmt und sich im Namen aller ans Kreuz nageln lässt.

Eliot stemmte sich auf seine Ellenbogen und suchte nach einem Platz, wo er seine Tasse abstellen konnte. Als ich die Sachen auf dem Nachttisch zusammenschob, fiel mir ein kleiner Stapel Visitenkarten ins Auge.

»Die waren für die Tänze gedacht«, erklärte Eliot sofort und lachte: »Aber daraus ist nun leider nichts geworden.« Ich streckte meine Hand danach aus, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne und griff stattdessen nach der Tasse, um sie auf dem Nachttisch abzustellen. Danach wanderte mein Blick wieder zu den Visitenkarten. Eliot nahm daraufhin davon eine vom Stapel und hielt sie mir hin: »Pragen hat mich dazu überredet.« Ich nahm sie in die Hand und schaute sie genau an. Sie war aus dünnem weißem Papier und vermutlich mit einem einfachen Bürodrucker ausgedruckt. Im Gegensatz zu den Visitenkarten meiner Stabsabteilung besaß sie jedoch Visitenkartenformat und die Ränder waren gerade abgeschnitten. Ellis Stimme klang müde, als er mich wissen ließ, dass ich die Karte nicht auswendig lernen müsse, sondern behalten dürfe.

Ich hatte mir die Nummer längst gemerkt. Dennoch steckte ich die Visitenkarte tief in meine Tasche und achtete beim Herausziehen meiner Hand darauf, dass ich nicht aus Versehen das Stück Papier mit herausriss. Wie oft habe ich bereits Telefonnummern mit anderen Bergsteigern und Sportlern getauscht. Man trifft sich in den Trainingslagern der Winterwettkämpfe, auf Berghütten oder in vermeintlich menschenleer geglaubten Regionen fernab der Zivilisation, wo man sich seine Lebensgeschichte in Form von zurückliegenden Gipfelbesteigungen, bevorzugten Kletterstilen und geplanten Touren erzählt. Wenn man sich nicht auf Anhieb im höchsten Grade unsympathisch ist, schreibt man anschließend seinen Namen und Telefonnummer auf eine Konservenbanderole oder das Preisetikett der nagelneuen, atmungsaktiven, wasserdichten, wind- und wetterabweisenden Winterhandschuhe oder was auch immer man gerade zur Hand hat und verabschiedet sich mit einem zwar ernst gemeinten – denn gute Kletterpartner sind rar – aber unverbindlichen: ›Meld Dich mal!‹ Man sieht sich jedoch in ziemlich genau hundert Prozent der Fälle nie wieder.

Einige dieser Bekanntschaften nahmen zwar tatsächlich später wieder Kontakt zu mir auf, doch ließ sich entweder kein gemeinsames Ziel oder kein passender Termin finden. Ich muss gestehen, dass derlei gemeinsame Unternehmungen zumeist an meiner Lethargie scheiterten. Ich bin kein Globetrotter, kein Höhensüchtiger, kein Todsuchender und mag generell keine Menschen um mich herum. Selbst bei der Wahl von Seilgefährten bin ich eigenbrötlerisch und versuche, Gesellschaft zu vermeiden. Doch mit Elli war alles anders. Wir hatten uns weder über zurückliegende Kletterpartien noch über geplante Höhenabenteuer unterhalten, sondern er hatte mir trophäenheischenden Größenwahn und Geltungssucht unterstellt und ich ihn einen moralischen Feigling genannt. Wir müssen uns auf jeden Fall wiedersehen.

Als ich mich wieder Eliot zuwandte, waren seine Augen geschlossen. Deswegen sprach im mit gedämpfter Stimme: »Schlafen Sie, Schütze Luv.« Er bewegte seine Lippen, ohne die Augen zu öffnen: »Aye, aye, Jäger Fenner.« Nach einem letzten Lächeln, das ihn erhebliche Mühe zu kosten schien, verkroch er sich so tief unter seine Decke, wie es deren für seine Körpergröße knapp bemessenen Ausmaße zuließen. Ich blieb jedoch noch ein paar Minuten ruhig an seiner Bettkante sitzen, und dachte über die verlorene Zeit und die verpassten Gelegenheiten nach, die in den Begriffen Schütze und Jäger begraben lagen.

Während ich darauf wartete, dass er fest eingeschlafen war, sah ich mich vorsichtig um. Er hatte seine Kleidung wie zur Auslage in einem Modegeschäft auf einem Stuhl drapiert und seine Schuhe darunter aufgestellt. Auf dem Nachttisch lagen die Dinge, die ich beiseite geräumt hatte: seine Geldbörse, sein Schal, eine kleine Tüte Salbeibonbons, ein gefaltetes Taschentuch und der Visitenkartenstapel. Ich streckte meine Hand aus und berührte jeden Gegenstand mit der Spitze meines Zeigefingers.

Als mir sicher war, dass er schlief, sammelte ich das Teegeschirr ein, knipste die Nachttischlampe aus und erhob mich vorsichtig. Aller Umsicht zum Trotz ließ es sich nicht vermeiden, dabei die Matratze in Bewegung zu setzen. Eliot raunte etwas in die Dunkelheit.

Ich verhielt mich still und wartete einen Moment, er schien jedoch, nicht aufgewacht zu sein. Nachdem ich die Tür sachte hinter mir zugezogen hatte, schlich ich das Treppenhaus hinunter, brachte das Teegeschirr zur Gastwirtschaft im Nebenhaus und rannte über die schneebeladene Wiese und den planierten Parkplatz zurück zum Festheim. Der Schnee unter meinen Füßen glühte, denn nach dem gelungenen Wurf spielte es keine Rolle mehr, dass die Cherubim der gefallenen Eva den Zugang zum Paradies verwehrten, da ich nun selbst ein Cherub war.

Es gibt so viel mehr von diesem Abend zu berichten: Wie ich den Drang zu singen verspürte, aber den Text nicht kannte, wie sich meine Mittenwalder Landsmänner mit der Münchner Haute-Volée versöhnten, wie Pragen es immer wieder schaffte, meinen Fragen über Cecilias Identität auszuweichen, und wie Falk die gesamte Festtagsbagage in Staunen versetzte, mich eingeschlossen. Aber es ist bald fünf Uhr morgens und um sechs Uhr habe ich eine Verabredung mit Heidts Familie. Ich soll ihn und seine beiden Frauen auf einer gemütlichen Schneewanderung – und Heidts Betonung lag auf dem Wort ›gemütlich‹ – von Pignia über die Alp Neaza und den Pass Colmet führen, damit sie den Jahresausklang im Marienheiligtum Ziteil am Osthang des Piz Curvér mit Rosenkranz und feierlicher Andacht begehen können. Zuvor muss ich jedoch noch meine Sachen packen und Gurtzeug, Skier, Felle und Seile für die geplante Tour aus den Kammern der Winterkampfschule borgen.

Während der nächsten vier Tage werde ich nun mit dem Heidtschen Dreigespann wallfahren, beichten, beten, singen, fasten und mich mit sündigen Gedanken auf meiner harten und klammen, dafür aber heiligen Rosshaarmatratze im Pilgerhaus herumwälzen. Dabei bin ich noch nicht einmal getauft. Aber wenn ich am Mittwochabend beizeiten nach Hause komme, werde ich ihn sofort anrufen. Ich werde ihm vielleicht ein gutes neues Jahr wünschen. So als Auftakt und dann lade ich ihn zu unserem Königsmarsch ein. Alles ein bisschen kurzfristig, aber jetzt erst mal genug davon, sonst komme ich am Ende noch zu spät.

~ Wilhelm Fenner

Sonntag, 29. Dez.. 1991
Bezugsdatum
Samstag, 28. Dez.. 1991
Kapitel
7
Dateinummer
702