Judastee III

Gespeichert von eloroke am Do., 16.03.2023 - 21:18

Diese Erinnerung verfolgt mich bis heute, doch unabhängig von Miladas Betrug oder Eliots frommem Engagement im Frauenchor, konnte ich an einem Freitagmorgen unmöglich bis Sonntag warten, bis ich ihn wiedersehen würde: »Wann hast Du Dienstschluss?«, fragte ich deswegen, ohne weiter auf seine Einladung zum Gottesdienst einzugehen. Eliot lachte zunächst nur, weil er glaubte, ich würde Witze machen, bevor wir uns schließlich nach einigem Hin und Her für vier Uhr in der Lesehalle der Münchner Stadtbibliothek verabredeten …

… wo ich von dem Duft der dicht an dicht wachsenden Blumen und Kräuter überwältigt wurde. Die Wärme verstärkte den Geruch. Es roch nicht unbedingt gut, aber doch irgendwie interessant. Als Anna ihre späte und unerwartete Kundschaft bemerkte, zögerte sie einen Moment, doch dann ließ sie alles stehen und liegen, um mich zu begrüßen und mich mit unzähligen Fragen über das Wetter und die Arbeit in ein Gespräch zu verwickeln. Glücklicherweise musste ich nur abwechselnd mit Ja oder Nein antworten, bis sie mich schließlich zu einer Tasse Tee einlud. Ich fand den Gedanken an eine kurze Teepause in diesem urigen Wald aus tausend Farben, Formen und Düften verlockend, bedankte mich und folgte ihr zu einer unaufgeräumten niedrigen Werkbank am hinteren Ende des Gewächshauses.

Der Tee war bereits gekocht und gut durchgezogen. Anna rieb mit einem Zipfel ihres Pullovers eine Tasse sauber und schenkte mir ein. Ich legte meinen Mantel ab und setzte mich auf einen Schemel. An den Blumenduft hatte ich mich immer noch nicht ganz gewöhnt. Er lag wie ein schwerer Samtvorhang über dem zerbrechlichen Teegeschmack. Im Gegensatz zu den Rosen und Orchideen, die mit lauten Stimmen und grellen Farben durcheinanderschrien, bettelte das heiße Getränk in meiner Tasse zurückhaltend und leise um meine Aufmerksamkeit. Ich genoss diese Ruhe in kleinen Schlückchen und dankte Anna für den leckeren Tee. Doch sie lachte nur und stellte eine Pappschachtel mit Beuteltee vor mir ab. Auf dem Etikett prangte ein einprägsamer Werbespruch, der zwar nicht die beste Qualität versprach, aber das Produkt dafür als unschlagbar günstig anpries. Ich dachte an den Tee mit Gütesiegel und Reinheitszertifikat in meiner Hosentasche und nickte nachdenklich.

»Du bist wirklich der komische Kauz, von dem alle Welt erzählt«, sagte Anna.

»Erzählt man sich das?«, fragte ich überrascht und tat so, als ob ich zum ersten Mal davon hören würde.

»Ja, ein selbstversunkener und wortkarger Kauz, sagt man, der immer das Gegenteil von dem tut, was jeder andere tun würde. Ernst, wenn alle lachen, aber dafür über die anspruchlosesten Dinge amüsiert. Generell einfach ein bisschen melancholisch, verkrampft und verbissen«, zählte Anna fleißig auf.

Ich zuckte nur mit den Schultern. Ich wollte nicht über mich reden: »Tee ist der Moment, in dem Wasser, Feuer und Erde aufeinandertreffen«, erklärte ich deswegen mit der mir nicht ganz zu Unrecht nachgesagten Verkrampftheit: »Dieser Moment besteht jedoch nicht nur aus dampfendem Leitungswasser und getrockneten Blättern. Der Moment ist …« Ich musste überlegen und versuchte dabei Annas skeptischen Blick zu ignorieren: »Der Moment ist«, wiederholte ich deswegen gedehnt: »alles.«

»Alles? Was alles?« Anna runzelte herausfordernd die Stirn. So einfach wollte sie mich nicht davon kommen lassen.

»Alles, was uns umgibt und durchdringt. Was wir sehen, was wir riechen, was wir hören und die Gedanken in unserem Kopf. Seien es Gedanken über das Universum oder das tägliche Klein-Klein des Lebens.« Ich deutete auf unsere Tassen und erklärte ihre Schlichtheit zum perfekten Gegenpol des bunten Glasgartens, dessen schillernde Aura uns von allen Seiten bedrängte und dabei fast die Luft zum Atmen nahm. Auch diese Tassen, erklärte ich weiter, seien ein Teil von allem und somit ein Teil des Moments.

Anna lächelte und mit dem Lächeln verschwanden ihre skeptischen Stirnrunzeln. Sie drehte nachdenklich die Tasse zwischen ihren Händen, und begann in einem im Gegensatz zu ihrer hektischen Begrüßung und ihren verschmitzten Sticheleien sanften und geradezu vertraulichen Tonfall zu erzählen. Die beiden Tassen stammten aus dem Hausrat ihrer Eltern. Ein Überbleibsel von einem alten Teeservice, das vermutlich schon ihrer Großmutter gehört hatte. Hätte Anna die Tassen nicht mit ins Glashaus genommen, wären sie vermutlich längst weggeworfen worden oder auf einem Polterabend gelandet. Ich verzog das Gesicht und dachte an mein Gespräch mit Eliot über die Bremer Stadtmusikanten: »Etwas Besseres als den Tod«, sagte ich leise. »Etwas besseres als den Tod«, wiederholte Anna nachdenklich und schenkte mir mit einem versöhnlichen Lächeln nach. Es war, als ob uns der Tee und der Tod miteinander versöhnt hätten, ohne dass wir einander hatten um Vergebung bitten müssen.

Nachdem Anna ihre eigene Tasse ebenfalls nachgefüllt hatte, schlenderten wir durch den Glasgarten. Anstatt ihre anstrengende Fragerei von zuvor fortzusetzen, erklärte sie mir nun die Dinge: die Blumen, die Erde, das Licht, die Wärme und das Zusammenspiel von allem, damit der Garten gut gedieh. Nichts war dem Zufall überlassen, sondern jeder Samen, jeder Wassertropfen, jeder Strich auf der Temperaturskala war sorgfältig geplant. Anna zeigte mir ihr Gartentagebuch, in dem sie all ihre Versuche und Fehlversuche festhielt. Es erinnerte mich an die Laborjournale in Meissmanns Institut.

Eines von Annas Projekten weckte mein besonderes Interesse. Obwohl der Versuch, Edelweiß zu züchten, in ihrem Tagebuch als gescheitert eingetragen war, ließ ich mir das Ergebnis zeigen und war erstaunt, eine ganze Tischbank voller Edelweißstauden vor mir zu sehen. Die Blüten waren allerdings etwas mickrig und es fehlte der filzige Flaum. Obwohl diese Pflanzen normalerweise sehr anspruchslos sind und nichts weiter als einen kargen, hochgelegenen Felssims zum Wachsen brauchen, schienen sie sich in Annas Blumenwunderland nicht besonders wohlzufühlen. Es tat mir plötzlich leid, dass diese unglücklichen Kreaturen nichts weiter als ein Tagebucheintrag mit dem Vermerk ›gescheitert‹ sein sollten. Ich berührte die Stängel und die Blütenblätter und merkte gar nicht, wie Anna mir meine leere Teetasse aus der Hand nahm, um sie zu der unaufgeräumten Werkbank zurückzutragen. Als ich schließlich aufsah, war ich mir nicht sicher, wie viel Zeit vergangen war. Da ich durch die spiegelnden Glasscheiben des Gewächshauses nicht nach draußen schauen konnte, war es schwer, die Zeit abzuschätzen. Ich hatte jedoch das Gefühl, dass zu viel davon vergangen war. Ich bedankte mich nochmals für den leckeren Tee und griff eilig nach meinem Mantel.

Als mich Anna daraufhin ganz enttäuscht fragte, ob ich denn nichts gefunden hätte, fuhr ich erschrocken zusammen. Ich hatte ganz vergessen, dass ich ja Kundschaft war. Hastig, aber nicht vollkommen willkürlich deutete ich auf eine buschige Staude mit weißen Blüten und bat darum, mir davon einen Strauß zusammenzubinden. Anna machte sich sofort ans Werk und fragte mich ständig, wie es denn gerne hätte, doch ich überließ alles ihrem fachmännischen Gespür. Nur als sie beim Schneiden der Blumen bis sieben zählte, bat ich um eine weitere. Anna hatte sich bereits so sehr daran gewöhnt, dass ich zu allem nur Ja und Amen sagte, dass sie verwundert aufschaute: »Bist Du etwa abergläubisch?«, fragte sie und lachte. Ich überlegte eine Weile, bevor ich den Kopf schüttelte: »Acht ist eine immergute Zahl«, erklärte ich schließlich.

»Immergut?«, fragte Anna nach und schnitt wie gewünscht eine weitere Blüte von dem Strauch.

»Eine immergute Zahl lässt sich immer wieder durch zwei teilen, bis am Ende eine glatte Eins übrigbleibt.« So hatte es mir Tomo jedenfalls erklärt. Anna kniff die Augen zusammen und rechnete nach: »Verstehe«, sagte sie schließlich und drückte mir den fertigen Blumenstrauß in die Hand. Sie erlaubte mir jedoch nicht, ihn zu bezahlen, sondern bezeichnete es als Einstandsgeschenk für einen zukünftigen Stammkunden und bat mich darum, ihre Dienste weiterzuempfehlen. Ich bedankte mich vielmals und sah sie einen Augenblick lang nachdenklich an. Wir hatten weder über Falk noch über Eliot geredet, obwohl das wahrscheinlich der heimliche Grund meines späten Besuchs gewesen war.

»Mach Dir keine Sorgen«, sagte Anna plötzlich: »Das wird sich alles wieder einrenken.« Ich blickte sie misstrauisch an. Das waren auch Eliots Worte gewesen. Hatten wir durch diesen einen Satz am Ende doch über Falk und Eliot geredet?

Ich fragte jedoch nicht weiter nach, sondern rief mir verschiedene Abwehrtechniken aus meiner Ausbildung als Einzelkämpfer ins Gedächtnis, als mir Anna plötzlich zwei Küsschen auf die Wangen drückte und mit beiden Händen durch die Haare struwwelte. Doch sie lachte nur über meine vergeblichen Abwehrversuche und sagte, ich solle bald mal wieder auf ein Tässchen Tee vorbeikommen. Ich nickte überfordert und drehte mich noch einmal nach den Edelweißstauden um. Ich wollte etwas sagen, aber Anna hatte meinen Gedanken bereits erraten und kam mir zuvor: »Etwas Besseres als den Tod finden wir überall«, sagte sie und lächelte. Ich bemühte mich ebenfalls um ein Lächeln und floh nach einem letzten steifen Soldatengruß hinaus in die kalte und klare Luft. Ich war froh, der brütenden Wärme und den erdrückenden Düften des Glashauses entronnen zu sein. Als mir jedoch der Blumenstrauß in meiner Hand auffiel, wurde ich plötzlich ganz aufgeregt. Ich hatte ein Geschenk für Eliot gekauft. Er würde es zwar niemals erhalten, aber allein der Gedanke daran, dass die Blumen in meiner Hand für ihn waren, stimmte mich euphorisch.

Nach einem ziellosen Zickzacklauf durch die verschneite Bergwelt entlang der Isar erreichte ich schließlich eine Aussichtsplattform an einem Wasserfall, von wo aus man beobachten konnte, wie der reißende Gebirgsfluss zu dem zahmen Wasserlauf wurde, der nur wenige Kilometer flussabwärts durch die Einkaufsstraße im Dorf plätscherte. So zahm, dass man, ohne Anlauf zu nehmen, von einer Flussseite auf die andere springen konnte. Ich lehnte mich an das Geländer und starrte wie gebannt hinunter in das weiße Tosen. Die Ruhe des zu Eiszapfen erstarrten Wassers und die Wildheit der aufspritzenden Gischt passten zu dem chaotischen Durcheinander in mir.

Ich stand lange Zeit einfach nur da und dachte an nichts. Erst als es in der Ferne eins schlug, erwachte ich aus meiner Versunkenheit und warf die Blumen mit einem letzten Gruß und einem angedeuteten Kuss in die rauschende Schlucht, von der aus sich der Fluss auf den Weg Richtung München machte.

~ Wilhelm Fenner

Freitag, 31. Jan.. 1992
Bezugsdatum
Freitag, 31. Jan.. 1992
Kapitel
11
Dateinummer
1106