Welt aus Wasser

Gespeichert von eloroke am Do., 16.03.2023 - 21:29

Einen Monat lang hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Eine Ewigkeit. Vielleicht keine ganze Ewigkeit, aber doch Zeit genug, um zu bereuen, seine Einladung zu dem Scharfschützenlehrgang ausgeschlagen zu haben. Vielleicht wäre es gar nicht so schlimm gewesen, zehn Tage lang durch den Schlamm zu robben, im nassen Gras zu liegen und sich von einem amerikanischen Drillfeldwebel anbrüllen zu lassen, bis einem das Blut zu den Ohren rauskommt. Denn immerhin hätten wir die Quälereien gemeinsam durchstehen können. Ich hatte jedenfalls erwartet, dass sich Eliot nach dem Lehrgang bei mir melden würde, um mich wissen zu lassen, was mir entgangen war, aber der Lehrgang war gestern auf den Tag genau seit einer Woche vorbei und ich hatte nichts von ihm gehört.

Nun gut, ich hatte meine Chance verpasst und, als wäre ich damit nicht gestraft genug, solidarisierte sich Eliot mit dem Schicksal. Deswegen nahm ich gestern Morgen mein Glück selbst in die Hand und borgte mir, nachdem ich mich bei den Gessners mit Brot und Milch eingedeckt hatte, Heidts Wagen, um nach München fahren, und zwar nicht irgendwohin nach München, sondern zu ihm. Eine verrückte Idee. Aber das wurde mir erst klar, als ich auf dem großen leeren Parkplatz hinter dem luxuriösen Feldwebelwohnheim den Motor abstellte. Ich wusste noch nicht einmal, wie ich ihn begrüßen sollte: »Hallo Eliot, wie geht’s? Ich habe Brot und Milch mitgebracht. Wollen wir zusammen frühstücken? Dann kannst Du mir von Deinem Lehrgang erzählen.« So etwa?

Ich beschloss, es damit zu probieren, und klingelte. Als jedoch sowohl zu meiner Enttäuschung als auch zu meiner Erleichterung niemand öffnete, blieb ich eine Weile unschlüssig vor dem großen Klingelbrett stehen. In dem Gebäude gab es offenbar über hundert Apartments, aber nur die wenigsten Klingelschilder waren beschriftet. Neben Eliots Namen las ich den Namen Jan Lechter. Vermutlich waren er und sein bester Freund direkte Nachbarn. Ich überlegte, ob ich es bei Jan probieren sollte, als die große Glastür aufgerissen wurde. Ich wirbelte herum und grüßte laut, als ich ein Paar mit Eichenlaub verzierte Schulterklappen sah. Ein antrainierter Reflex. Der Offizier beäugte kurz meine Aufmachung aus Pullover und Kniebundhosen, grüßte mit verkniffnen Lippen zurück und eilte zur Straße hinunter, wo eine schwarze Limousine auf ihn wartete. Als ich mich wieder dem Gebäude zuwandte, schaffte ich es gerade noch einen Fuß in die Tür zu bekommen.

Der Eingangsbereich war von beängstigender Luxuriösität, doch zum Glück war die große Halle verlassen. Sogar der Empfangsschalter war unbesetzt. Er war aus rotbraunem Holz und von hohen Topfpflanzen umgeben. Gegenüber plätscherte ein künstlicher Wasserfall aus der Wand. Vor den Fahrstühlen lagen dicke Teppiche auf dem Boden und die hellen Deckenstrahler brachten die gesprenkelten Marmorfließen unter meinen Füßen zum Glitzern. Alles roch und glänzte wie neu. Ich fühlte mich fehl am Platz und war froh, als ich den Zugang zum Treppenhaus entdeckte.

Ich kletterte mehrere hundert Stufen hinauf bis zu dem Stockwerk, auf dem ich Eliots Apartment vermutete, und betrat einen endlos langen Korridor, der an einen Kasernenblock erinnerte. Auch hier roch alles neu, die Farbe an den Wänden, der Teppich unter meinen Füßen und die quadratischen Deckenplatten, an denen die Neonlichter aufgehängt waren. Da es keine Namensschilder an den Türen gab, machte mich auf die Suche nach der Nummer, die ich am Haupteingang neben Eliots Klingelschild gelesen hatte. Das Nummernsystem war schnell durchschaut, aber als ich an einem breiten Durchgang zu einer wohnlich eingerichteten Küche vorbeikam, aus der friedliches Klappern von Kaffeetassen und verschiedene Stimmen zu hören waren, erblickte ich plötzlich Eliot.

Es handelte sich allerdings um einen anderen Eliot als den, den ich bisher kennengelernt hatte. Vor mir stand weder der Oberfeldwebel im dunklen Dienstanzug noch der Flötist von der Weihnachtsfeier am Starnberger See oder der in dicke Winterkleidung vermummte Dreikönigswanderer, sondern einfach nur Eliot.

Er trug schwarze Jeans. Der Saum an den Hosenbeinen war zerschlissen und die Knie ausgebeult. Auf seinem schwarzen T-Shirt war ein Hofnarr in einem langen Frack abgebildet, der auf einem Bein stand und Flöte spielte. Der verschnörkelte Schriftzug darunter war so stark ausgewaschen, dass man ihn nicht mehr lesen konnte. Ich erkannte Eliot fast nicht wieder. Nur seine Haare hingen ihm wie immer wirr ins Gesicht, während er mit einem Glas Limonade in der Hand an Spüle lehnte und mich erstaunt anblickte. Ich hätte an dieser Stelle meinen zurechtgelegten Satz aufsagen können, doch plötzlich befürchtete ich, mich damit nur lächerlich zu machen. Deswegen sagte ich vorsichtshalber erst einmal nichts außer: »Hallo.«

»Hallo, hallo, hallo«, tönte es mir gleich mehrstimmig entgegen. Eine Stimme davon gehörte Jan. Die anderen Personen waren mir fremd.

Eliot verzichtete auf ein Hallo, aber er lächelte mir kurz zu, bevor er mich den anderen als seinen Freund Wilhelm vorstellte. Die Bezeichnung ›Freund‹ gefiel mir. Es war, als hätte ich einen neuen Dienstgrad verliehen bekommen, eine Beförderung von ›Hauptmann Fenner‹ zu ›Freund Wilhelm‹. Ich grinste breit in die Runde. Man bot mir Kaffee an. Ich lehnte dankend ab.

Außer Eliot und Jan gehörten noch ein Unteroffizier, ein Fahnenjunker, zwei Leutnante und eine junge Generalstochter zu der geselligen Kaffeerunde. Die Generalstochter studierte in München, und bewohnte eine der sündhaft teuren Penthousewohnungen auf dem Dach des Feldwebelwohnheims. Außerdem suchte sie ständig Streit und plapperte in einem fort: »Mein Papa dies, mein Papa jenes, und wenn mein Papa«, kurz: Sie war unerträglich. Dennoch riskierten die anderen, die mit ihr am Tisch saßen, nur selten mehr als ein gelegentliches Augenrollen.

Viel mehr als ihre Streitsucht störte mich an der Generalstochter jedoch, dass ihre schlechte Laune offenbar daher rührte, dass aus ihrer kurzen Liebelei mit Eliot nichts Ernstes geworden war. Jedenfalls reimte ich mir das so zusammen. Sie beließ es bei vagen Andeutungen und Eliot machte sich nicht die Mühe, etwas auf ihre Sticheleien zu erwidern. Er sagte während des gesamten Gesprächs überhaupt nichts. Weder zu den persönlichen noch zu den politischen Fragen. Er stand nur an das Spülbecken gelehnt, goss sich zwischendurch Limonade nach und schwieg.

Ich hingegen war die ganze Zeit über nervös, denn Kaffeerkränzchen liegen mir nicht. Sie bringen nur meine Idiotie zum Vorschein. Alle reden durcheinander, machen Witze und lachen, während ich nur schleppend hinterherkomme. Elliots Ruhe war mir dieses Mal keine Hilfe. Besonders nicht, als die Frage aufkam, ob es sinnvoll sei, die Regierung und sämtliche Bundesbehörden nach Berlin umzusiedeln, wie es im Sommer des vergangenen Jahres beschlossen worden war und nun langsam in die Tat umgesetzt wurde.

»Hauptmann Fenner«, sagte die Generalstochter plötzlich an mich gewandt. Sie hatte meine Unsicherheit bemerkt und schien Gefallen daran zu finden, mich in die Bredouille zu bringen: »Verraten Sie uns Ihre Meinung? Es wäre interessant zu wissen, wie man in ländlichen Gegenden darüber denkt.« Sie siezte mich, obwohl ich ihr zu jenem Zeitpunkt bereits mehrere Male das Du angeboten hatte. Auch dass ich Wilhelm hieß, wusste sie. Trotzdem nannte sie mich Hauptmann Fenner. Ihre Art ärgerte mich, aber da ich vor Eliot nicht wie auf den Kopf gefallen dastehen wollte, gab ich mir Mühe, ihre Frage zu beantworten: »Ich glaube …«, sagte ich vorsichtig, während ich versuchte, meine Gedanken zu sortieren, doch sie brachte meine Gedanken mit einem lauten Kichern noch mehr durcheinander.

»Ich glaube«, wiederholte ich deswegen langsam, um Zeit zu gewinnen, »dass auch ein Volk eine Seele hat.« Das brachte mir jedoch nur einen zornigen Augenaufschlag der Offizierstocher ein: »Das ist doch keine Antwort«, sagte sie. Also führte ich meinen Gedanken näher aus: »Und ich glaube­­–«, doch sie unterbrach mich wieder mit einem lauten Kichern: »Sie glauben eine ganze Menge, Hauptmann Fenner.«

Ich versuchte, ihren Einwurf zu ignorieren, und beendete meinen Satz: »–dass die deutsche Seele seit Jahren eine schwere Psychose durchleidet. Ihr Berlin als echte Hauptstadt zu schenken, ist, als würde man einem kranken Kind ein Spielzeug kaufen. Vielleicht wirkt die Freude darüber besser als die vom Arzt verschriebene Medizin.«

»Und das Geld? Das ganze Geld, das wir dabei ins Nichts blasen? Wir werden das nächste Jahrzehnt mit sinnlosen Umzügen beschäftigt sein, anstatt uns um die Nöte des Landes zu kümmern«, widersprach der Unteroffizier laut. Aber einer der Leutnante fiel ihm ins Wort und bald waren alle so rege miteinander ins Gespräch vertieft, dass sie meine Anwesenheit darüber vergaßen. Als mir Eliot ein Lächeln schenkte, war ich erleichtert. Er schien mit meiner Antwort zufrieden. Das allein war mir wichtig. Berlin oder Bonn hingegen vollkommen egal.

Ich geriet jedoch sofort in die nächste Bredouille, als Eliot sein leergetrunkenes Glas ausspülte und sich zum Gehen bereit machte. »Ciao, ciao«, sagte er in die Runde, schlüpfte in seine schwarze Strickweste, die zuvor über einer Stuhllehne gehangen hatte, und ließ mich mit den anderen in der Küche zurück.

Irritiert schaute ich ihm hinterher, was das Fräulein dazu veranlasste, mich erneut und dieses Mal aus voller Brust auszulachen. Die anderen hielten sich zurück, warfen mir jedoch ebenfalls belustigte Blicke zu. Ich muss einen ziemlich idiotischen Eindruck gemacht haben. Erst als Eliot wieder im Türrahmen erschien und mir durch ein Winken zu verstehen gab, dass ich ihm folgen sollte, kam Leben in meine Glieder. Ohne mich zu verabschieden, eilte ich hinter ihm her.

Im Flur tippte ich Eliot auf die Schulter und deutete auf das Gelächter, das uns aus der Küche nachhallte: »Wer ist sie?«, fragte ich, doch Eliot schüttelte nur den Kopf und wechselte das Thema: »Ich habe ja noch immer die bunten Wollstrümpfe, die Du mir während des Dreikönigsmarschs geborgt hast. Hast Du sie vermisst?« Das waren die ersten vollständigen Sätze seit meiner Ankunft und er fragte tatsächlich, ob ich ein Paar Socken vermisst hatte. Ihn hatte ich vermisst, warme Wintersocken besaß ich genug. Dennoch antwortete ich: »Du kannst Dir nicht vorstellen, wie sehr.« Eliot lachte und drehte den Schlüssel im Schloss herum.

Seine Wohnung war sehr klein, aber dennoch geräumig. Gleich hinter der Eingangstür betrat man einen winzigen Flur, von dem eine kleine Kochnische und ein ebenfalls sehr kleines Badezimmer abzweigten. Geradeaus befand sich ein längliches Zimmer, das jedoch durch die Position der Möbel in drei separate Bereiche aufgeteilt war: Ein großer unaufgeräumter Schreibtisch reservierte einen Teil des Zimmers als Arbeitsbereich, Gegenüber befand sich das Wohnzimmer mit einem Sofa, zwei Sesseln und einem niedrigen Tisch und am fernen Ende unter dem Fenster standen ein Bett, ein Nachttisch, ein Plattenspieler und ein Fernsehgerät.

Neugierig sah ich mich um und sog alles in mich ein: die Unordnung, die verkümmerten Topfpflanzen, die Staubschicht auf der Fensterbank, die zerwühlten Kissen, das fleckige Laken, die Sitzkuhle im Sofapolster, die losen Kabel auf dem Computertisch sowie die im Gegensatz zu dem übrigen Chaos sorgfältig auf einen Garderobenbügel gespannte Dienstuniform, die gemeinsam mit den blitzblank polierten Anzugsschuhen ungeduldig auf den nächsten Arbeitstag wartete. Ich war so fasziniert von all den Kleinigkeiten um mich herum, dass ich kaum bemerkte, wie Eliot sämtliche Winkel nach dem plötzlich verschwundenen Sockenpaar absuchte.

Ich streifte durch seine Wohnung wie durch ein Museum und berührte heimlich die ausgestellten Stücke. Elli hielt mich nicht auf. Er war damit beschäftigt, nach den Socken zu suchen, und schwor, dass er sie noch am Morgen gesehen habe. Ich sagte, er solle sich keine Umstände machen, und spähte neugierig auf den Plattenteller: Tschaikowski. Ich hatte den Namen schon einmal gehört.

Vor dem Fenster waren zwei Notenständer aufgebaut. Der eine war aus Holz und wirkte aufgrund seiner Verzierungen wie eine kostbare Schnitzarbeit aus einem Antiquitätenladen, der andere war hingegen schlicht: ein dürres Drahtgestell aus Teleskopstangen und Metallbügeln, die mit breiten Flügelmuttern zusammengeschraubt waren, vermutlich dasselbe, das ich damals während unserer Flucht aus der Festhalle am Starnberger See in meinen Armen getragen hatte. Die Notenblätter waren mit Büroklammern aneinander geheftet. Von Amaterasu fehlte jede Spur.

Der Fernseher diente hauptsächlich als Ablage für zerlesene Zeitschriften übers Fotografieren und über Computerspiele. Auf dem Boden vor dem Fernseher stand ein seltsamer grauer Apparat, aus dem viele Kabel herausführten. Es war jedenfalls kein Videorekorder. Wie Videorekorder aussehen, weiß ich.

Ich lehnte mich über das Bett, um mir die über dem Kopfende an die Wand gepinnte Postkartensammlung anzusehen. Anscheinend war sein Vater des öfteren in Frankreich, England und der Schweiz sowie in allen mir bekannten deutschen Großstädten unterwegs gewesen.

»Und das sind bei Weitem noch nicht alle«, erklärte Elli plötzlich: »Aber ich habe von jedem Ort nur eine Karte aufgehängt.« Er setzte sich aufs Bett und zog einen alten Schuhkarton darunter hervor.

Die Kiste sah aus wie eine Schublade aus einem Verwaltungsregister, nur dass sie nicht mit Karteikärtchen, sondern mit Postkarten bestückt war. Ich setzte mich zu Eliot auf die Bettkante. Er schien mich jedoch nicht zu bemerken, sondern nahm eine um die andere Postkarte heraus und sagte etwas dazu, bis er abrupt innehielt, mir den Karton auf den Schoß setze und sich seufzend erhob: »Ich kenne die Sammlung bereits auswendig. Es hat keinen Wert, dass ich sie mir erneut anschaue.«

Obwohl sich mein Bedürfnis, die Postkarten zu sehen, in Grenzen hielt, wanderte ich mit meinen Fingern durch die zu touristischen Bildikonen erstarrte Welt: Genf, Avignon, London und dazwischen immer wieder prominente und mir wohl vertraute Bundeswehrstandorte wie Koblenz, Köln und Bonn. Die Fotografien von Landschaften, Gebäuden und Naturphänomenen schafften es schließlich doch, mein Interesse für die Postkartensammlung zu wecken. Deswegen schaute ich mir einige Karten genauer an oder las mir sogar die kurzen Grußfloskeln auf der Rückseite durch, bis ich zwischen der goldumrandeten Kutte des Münchner Kindls und dem Glockenturm von Bagnols-sur-Cèze einen pastellfarbenen Briefumschlag entdeckte. Er hatte weder einen Adressaten noch einen Absender, und als ich ihn umdrehte, sah ich, dass die Lasche, die man mit Spucke zukleben konnte, nur an einer Stelle an dem Kuvert haftete.

Ich überlegte, ob der Briefumschlag an dieser Stelle feucht geworden war oder ob er einmal zugeklebt gewesen war, aber die Klebewirkung mit der Zeit nachgelassen hatte. Eine glänzende Schicht auf dem Kuvert ließ mich Letzteres vermuten. Ich fragte mich jedoch, warum Eliot einen verschlossenen Briefumschlag zwischen seinen Karten aufbewahren sollte. Als ich, um sicherzugehen, die Klebeschicht mit dem Finger berührte, löste sich die Lasche plötzlich ganz. Ich schaute mich kurz nach Eliot um, bevor ich das Kuvert öffnete und die auf ein Stück festes Papier geschriebene Nachricht herausnahm: »Wo bist Du und was denkst Du gerade? Das Leben ist so schrecklich leer, einsam und sinnlos ohne Dich. Ich hoffe, Du bist gesund und glücklich. Dein Heinrich. Winter 1985.« Sechs Jahre, dachte ich.

»Diese Nachricht stammt noch aus der Zeit, die ich mit Voltaire verbracht habe«, kommentierte Eliot plötzlich meinen nachdenklichen Blick.

»Voltaire? Du hast Voltaire einen Liebesbrief geschrieben?«, fragte ich erstaunt und auch ein bisschen eifersüchtig, doch Eliot schüttelte den Kopf: »Nein, der Brief ist nicht an Voltaire, sondern an die Person, die mir bestimmt ist und der ich bestimmt bin.«

Ich runzelte die Stirn: »Das klingt ziemlich verzweifelt.«

»Nein, ganz im Gegenteil«, wandte Elli ein: »Diese Person gibt es ja bereits. Sie atmet, denkt und fühlt, gerade jetzt, in diesem Moment. Aber wo? Und vor allen Dingen, wer ist sie? Ich frage mich manchmal, wie es ihr gerade geht und was sie gerade tut. Vielleicht denkt sie gerade an mich. Vielleicht auch nicht. Vielleicht geht es ihr schlecht und ich wäre jetzt besser bei ihr. Und wenn ich sie dann endlich gefunden haben werde, gebe ich ihr diesen Brief und sage: ›Siehst Du? Ich habe schon damals an Dich gedacht und Dich vermisst. Ohne zu wissen, wie Du aussiehst oder wie Du heißt‹. Das ist keine Verzweiflung, sondern der reinste Optimismus und der kindliche Glaube an ein gutes Ende. Jetzt weißt Du’s, Wilhelm, ich bin eigentlich doch ein Schwärmer. Auch wenn ich es nicht gerne zugebe«

»Vielleicht kennst Du diese Person ja auch schon.« Ich lächelte verlegen. Natürlich nicht ich, dachte ich und: Natürlich ich, Wer sonst? Eliots Bekenntnis für das Leben und die Liebe hatte mich für einen kurzen Augenblick mit Hoffnung angesteckt.

Eliot nickte: »Ja, Du hast recht, vielleicht kenne ich sie bereits, aber vielleicht wohnt sie auch auf der anderen Seite der Welt und wir werden uns erst noch begegnen.«

Ich überlegte, wo ich im Winter 1985 gewesen war, als sich Elli so einsam gefühlt hatte. Ich hätte mich am liebsten dafür entschuldigt, dass ich ihn so lange hatte warten lassen, aber natürlich tat ich nichts dergleichen. Stattdessen sah ich tatenlos zu, wie Eliot mir das Kuvert und den Brief aus der Hand nahm. Er steckte Nachricht in den Umschlag zurück und klebte ihn mit einem Streifen braunen Paketklebeband zu. Er stopfte das verunstaltete Kuvert wieder zwischen die Postkarten und verstaute den Pappkarton unter dem Bett. Er hätte kaum deutlicher zum Ausdruck bringen können, dass die Nachricht nicht für mich bestimmt war.

Ich raffte mich auf, trat ans Fenster, starrte in den Himmel und malte dabei Kreise in den Staub auf der Fensterbank. Eine graue Wolkendecke verwehrte mir den Blick auf die Unendlichkeit, da ein kräftiger Nordwestwind gegen die unnachgiebigen Gebirgszüge der Alpen anstürmte und die Nordstaulagen bis nach München reichten. Es würde jeden Moment zu regnen anfangen.

Eliot stellte sich neben mich und hielt mir die Socken unter die Nase. Er lachte, weil er am Ende doch über seine eigene Unordnung triumphiert hatte. Mein Sinn für Humor lag jedoch unter einer dicken Schicht aus Enttäuschung und Pessimismus begraben. Ich fühlte mich plötzlich leer und wäre am liebsten davongelaufen.

Als Eliot meine niedergeschlagene Stimmung bemerkte, versuchte er, mich ein wenig aufzuheitern, ich war jedoch zu sehr damit beschäftigt, nicht die Hoffnung zu verlieren, um mich für irgendetwas anderes als mein Elend zu begeistern. Eliot hatte jedoch Geduld mit mir und versuchte, meine Laune schließlich aufzubessern, indem er mir die Jacke seines grauen Dienstanzugs zeigte, auf der sein neu erworbenes Scharfschützenabzeichen prangte. Ich fuhr mit dem Finger über das Abzeichen und sah ihn schließlich anerkennend an: »Wie viele haben das geschafft?«, fragte ich.

»Einer.«

»Einer von vierzig?«

»Einer von vierzig.« Eliot hängte die Jacke zurück in den Schrank: »Obwohl«, korrigierte er sich: »Da sich die Teilnehmerzahl kurz nach Beginn des Lehrgangs halbiert hatte, war es genau genommen einer von zwanzig.«

Ich musste lachen. Es freute mich, wenigstens in einem Punkt recht behalten zu haben. »Hat es wehgetan?«, fragte ich.

»Es war die Hölle«, erwiderte Eliot und lachte ebenfalls: »Aber es muss wehtun, damit es heilen kann.«

Ich nickte. Noch ein Punkt, in dem ich richtig gelegen hatte. Meine Stimmung besserte sich langsam: »Lass uns ein wenig raus gehen«, seufzte ich schließlich. Ich wollte immer noch davonlaufen, aber ich wollte ihn mitnehmen.

»Es regnet«, wandte Eliot nach einem prüfenden Blick aus dem Fenster ein.

»Hast Du keine Regenjacke?«, fragte ich daraufhin und wie auf ein geheimes Kommando prusteten wir plötzlich lauthals los. Wir lachten so heftig, dass wir uns krümmten, hielten uns den Bauch und wischten uns die Tränen aus den Augen.

~ Wilhelm Fenner

Samstag, 4. Apr.. 1992
Bezugsdatum
Samstag, 4. Apr.. 1992
Kapitel
11
Dateinummer
1104