Liste der Winter

Gespeichert von eloroke am Mi., 15.03.2023 - 19:29

Ich habe schon immer Listen geschrieben. Eine Liste der Dinge, die ich mag, und eine Liste der Dinge, die ich nicht mag. Eine Liste der Dinge, die ich tun würde, wenn ich nur noch eine Minute zu leben hätte, und eine Liste der Dinge, die außer mir niemand sieht. Eine Namensliste, eine Bücherliste und eine Regelliste. Eine Liste für Länder, eine Liste für Städte, eine Liste für Berge, eine Liste für Seen und Flüsse und Wälder. Silben-, Buchstaben- und Zahlenlisten. Und natürlich eine Liste der Listen. Dies war meine Art, die Dinge zu begreifen, zu ordnen und zu sammeln. Ich hatte über hundert solcher Listen, stapelweise Papier übersät mit kleinen, eng nebeneinandersitzenden Buchstaben.

Nachdem ich mir aus den Ausmusterungsbeständen der Murnauer Feldjäger diesen Computer gekauft hatte, wusste ich zunächst nichts damit anzufangen und nahm mir als erste Übung vor, meine gesammelten Listen in das Gerät zu übertragen. Doch die Listen waren über die Jahre hinweg bedeutungslos geworden, weswegen ich sie schließlich, anstatt sie abzutippen, zu den Holzscheiten in meinem Ofen warf.

Heute möchte ich eine neue Liste anfangen. Sie unterscheidet sich von meinen bisherigen Listen nicht nur dadurch, dass ich sie mit einem Computer schreibe, sondern auch dadurch, dass ich darin nicht einzelne, bedeutungslose Dinge, sondern die wichtigsten Ereignisse meines Lebens festhalte. Deshalb habe ich, als mich der Computer aufforderte, der Datei einen Namen zu geben, das Wort ›Tagebuch‹ in das leere Textfeld eingegeben.

Der Vorfall, mit dem ich diese Liste beginnen möchte, ereignete sich gestern Abend. Ich habe seither weder etwas gegessen noch geschlafen und es fällt mir schwer, mich auf meine Arbeit oder die Dinge um mich herum zu konzentrieren. Ich habe fast das Gefühl, nicht mehr ich selbst zu sein. Vielleicht ist aber auch genau das Gegenteil der Fall. Vielleicht bin ich zum ersten Mal nach langer Zeit wieder ich selbst, ein Selbst, das zusammen mit Tomo aufgehört hat zu existieren. Denn obwohl er nur ein Schatten war, hatte ich das Gefühl, alles zu verlieren, als das Schicksal uns trennte.

Ich hatte mich so sehr daran gewöhnt, jeden Erfolg und jedes Unglück mit ihm zu teilen, dass ich Freude und Schmerz erst dann wirklich empfand, nachdem ich Tomo in meine Erlebnisse eingeweiht hatte. Das, was uns verband, ist in einer Sprache, die zwar Worte für ›mein‹ und ›dein‹ hat, aber nicht zwischen verschiedenen Formen von Besitz und Zugehörigkeit unterscheidet, schwer zu erklären. Es war, als wäre der eine Teil des anderen, eine Art inständige Unverlierbarkeit. Ich würde es als Liebe bezeichnen, wenn ich mit diesem Begriff etwas mehr anzufangen wüsste, aber selbst Falk zweifelt an meiner Fähigkeit, mich zu verlieben, und auf seine Menschenkenntnis ist normalerweise Verlass. Seine Selbsteinschätzung, derzufolge er der witzigste und beliebteste Typ am ganzen Standort ist, kann ich jedenfalls insofern bestätigen, dass sein Wechsel in meine Stabsabteilung meinem Zug zu einem unheimlichen Prestigezuwachs verholfen hat. Galten wir vorher als elitär und überheblich, gelten wir nun als elitär, überheblich und cool.

Falks Versuche, schicksalsfügend in mein Liebesleben einzugreifen, schlugen bisher allerdings allesamt fehl. Mehr als ein Mal habe ich mir Vorwürfe wegen mangelnder Mitarbeit anhören müssen und jedes Mal zu recht. Leider ist Falk weder besonders nachtragend noch leicht verzagt. Deswegen versucht er es immer wieder aufs Neue. Die gestrige Begegnung geht allerdings nicht auf seine Kappe, sondern ergab sich aus einem ebenso unglücklichen wie glücklichen Zusammenspiel von höheren Naturgewalten, menschlichem Despotismus und meiner inzwischen zu einem fast krankhaften Zwang ausgewachsenen Ungeselligkeit.

Nach einem vorzeitigen, überraschenden Wintereinbruch über dem zentralen Hauptkamm der Allgäuer Alpen ging die vermutlich weit überspitzte Rede um, die Westrouten der Trettachspitze seien mit einer Schicht aus hauchdünnem Eis und feinem Schneepulver überzogen und derzeit nicht begehbar. Diese Warnung der Meteorologen und des Alpenvereins an unvorbereitete Saisonkletterer und Kurgäste weckte unseren etwa siebzig Luftkilometer weiter östlich gelegenen Gebirgsjägerstandort aus seiner Spätsommerlethargie zu neuen Taten. Die Wendung ›nicht begehbar‹ flammte wie ein Lauffeuer durch die Stuben und Heime, bis sie schließlich auch den Kantinentisch in Brand setzte, an dem ich gerade zu Mittag aß.

»Geht nicht, gibt’s bei uns nicht«, empörte sich Gunnar und kramte seinen Taschenkalender hervor, um nachzusehen, welche Termine er absagen musste, um stattdessen in den seiner Meinung nach vorschnell als unbegehbar deklarierten Rissen der Allgäuer Alpen herumzusteigen.

»Alles eine Frage des Materials und des Könnens. Ich möchte kein Bergführer sein, wenn ich es wegen einer Schicht Reif und Frost nicht auf den Gipfel schaffen sollte«, pflichtete ihm André bei und klopfte auf sein mit zwei Spitzhacken und einem Seilkranz verziertes Edelweißemblem.

Auch Falk hatte Feuer gefangen: »Nicht nur Glaube versetzt Berge«, tönte er und spannte kampfeslustig seine Muskeln an: »Ich übernehme den Vorstieg. Wann geht’s los?« Er verschränkte seine Arme über der Brust, nickte selbstgefällig und sah mich fragend an. Auch Andrés und Gunnars erwartungsvolle Blicke waren nun auf mich und den Spaghettikrangel auf meiner Gabel gerichtet, denn sie brauchten jemanden, der um den Segen unseres Bataillonskommandeurs bettelte und dessen Unmut ertrug, falls etwas quergehen sollte.

»Hört sich machbar an – aber lasst uns noch in Ruhe zu Ende essen, bevor wir aufbrechen«, sagte ich endlich und löste damit einen wahren Freudentaumel aus, als hätte mein Einverständnis dem Sommer den endgültigen Todesstoß verpasst und den lang ersehnten Winter eingeläutet. Obwohl die Unternehmung nur als alberne Juxerei betrachtet werden konnte, würden unsere Steigeisen, Skier, Felle, Eisgeräte, Schneetrittlinge und Lawinenschaufeln nun endlich wieder frischen Schnee anstatt Gletscherfirn vom Vorjahr zu fassen kriegen. Dabei war erst September, gerade noch so jedenfalls.

Unsere kleine Exkursion in das etwa zweieinhalb Autostunden entfernte Oberstdorf, wo wir uns an den vereisten Rissen der Trettacher Westwand versuchen wollten, war schnell geplant. Die acht Mann starke Seilschaft bestand aus vier erfahrenen Bergführern des Mittenwalder Gebirgsjägerbataillons, zwei jungen Aspiranten aus dem Hochzug der ersten Kompanie, einem weiteren Mitglied aus der von mir geführten Stabsabteilung für Sicherheit in Fels, Eis und Schnee und Ferdinand Strefler, Falks bestem Freund. Da wir eine Verschneidung mit den Kurgästen und Freizeitalpinisten vermeiden wollten, hielten wir es für ratsam, noch am selben Tag aufzubrechen und uns für eine Nacht in einem Gasthof einzuquartieren. So konnten wir uns einen ersten Überblick über die Schneelage verschaffen und noch vor dem ersten Tageslicht des nächsten Morgens ins Gebirge abmarschieren.

Gesagt war fast getan. Aber eben nur fast. Wir hatten zwei Autos und einen kleinen Geländetransporter klargemacht und standen bereits in voller Montur zum Aufbruch bereit, als uns Heidt doch noch einen Strich durch die Rechnung machte, indem er unsere Truppe um zwei Bonner Hochwürden erweiterte, die vom Klettern ein bisschen was, aber nicht allzu viel verstanden und die den Wunsch geäußert hatten, an einer winterlichen Gebirgsexpedition teilnehmen zu wollen. Da sie wichtige Ämter im Ministerialstab der Hardthöhe bekleideten und als militärpolitische Förderer der Gebirgsdivision galten, war ihr Wunsch für unseren Bataillonskommandeur Befehl und Heidt kam diesem Befehl eilfertig nach, indem er uns mir nichts, dir nichts die beiden Lamettaträger an die Fersen band.

Die Herrschaften hatten wohl in ihren Dienststuben auf der Hardthöhe nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen gewusst, als den Wetterbericht im Radio abzuhören, und wollten nun auch beim ersten Rieselschnee und Glatteis dabei sein. Sie würden hierzu eigens mit einer Maschine der Luftwaffe über den Fliegerhorst Penzing anreisen und gleich am nächsten Tag um acht Uhr morgens zu unserer Seilschaft aufschließen. Obwohl diese späte Zeitvorgabe unsere Marschplanung ruinierte, versuchte ich erst gar keinen Aufstand, sondern übte mich in soldatischem Gehorsam. Heidt stand offenbar unter Druck und würde nicht davon abweichen, diesen auf die Schultern seiner Untergebenen umzulagern. Da unsere Unternehmung ohnehin aus dem Gedanken heraus geboren worden war, das Unmögliche zu probieren, passte diese zusätzliche Erschwernis gar nicht so schlecht in unser Konzept.

Als wir Oberstdorf erreichten, konnten wir den Schnee schon riechen. Obwohl das Tal selbst unter einem Flickenteppich aus buntem Herbstlaub begraben lag, hatte es an den Hängen bis auf unter tausend Meter runtergeschneit. Die Welt über unseren Köpfen leuchtete in den verschiedensten Weißtönen. Kurz nach dem Ortseingangsschild trennte sich unsere Gruppe auf. André und Gunnar fuhren mit der gesamten Mannschaft zu der Herberge, die wir für unser Nachtlager auserkoren hatten, während Falk und ich das Lenkrad unseres Transporters Richtung Bergwelt einschlugen. Der Plan zur Rettung unseres aus den Fugen geratenen Zeitkonzepts war einfach: Wir würden das schwere Material bereits am Vorabend zum ersten Etappenposten bringen und es dort eine Nacht lang biwakieren lassen, um den Marsch am darauffolgenden Morgen dank des leichten Gepäcks mit einem ordentlichen Tempo beginnen zu können. Wir hatten immerhin vier verlorene Stunden wettzumachen. Das schien zwar selbst mit zackigem Schritt, kurzen Rastzeiten und einer gehörigen Portion Glück schwer machbar, doch war es ohnehin nicht an uns zu bestimmen, was machbar war und was nicht. Das durfte nur der Berg entscheiden, und hatte er erst einmal eine Entscheidung getroffen, war sie unanfechtbar. Das musste ein Gebirgsjäger ebenso hinnehmen wie eine Gämse, ein Adler oder eine Schneefliege.

Kurz oberhalb der Schneegrenze hielten wir an, luden den Wagen aus und verschnürten alles, was über Nacht am Berg bleiben sollte, mit einer festen Kunststoffplane und einem dünnen Seil zu einem strammen, olivgrünen Bündel. Nachdem wir zu guter Letzt noch ein Paar Ski an der Unterseite befestigt hatten, damit sich das schwere Paket möglichst reibungslos über den Schnee ziehen ließ, schickte ich Falk zurück ins Tal, um den anderen Meldung über die Schneelage zu machen und sich mit unseren Kameraden von der Luftwaffe in Verbindung zu setzen. Er sollte sich nach den Details des für den nächsten Morgen anberaumten Verkehrs zwischen Bonn und Penzing erkundigen und dafür Sorge tragen, dass die beiden Bonner Stabsoffiziere nach ihrer Landung schnellstmöglich an den vereinbarten Treffpunkt in Oberstdorf verbracht würden. Ich hoffte auf einen Helikopter, damit sich unser Aufbruch nicht durch Glatteis oder Stau auf den Straßen noch weiter verzögern würde. Falk versicherte mir mit einem scherzhaften Aye-Aye, dass er sich um alles kümmern werde, sprang auf den Fahrersitz unseres Geländewagens und ließ mich mit dem selbstgebastelten Schlitten an dem verschneiten Berghang zurück.

Als Falk außer Sichtweite war, legte ich mir die losen Seilenden wie Zaumzeug um die Hüften und zog den Schlitten den Hang hinauf. Der frisch gefallene, lockere Schnee dachte nicht daran, es mir leicht zu machen. Ich versank bis zu den Knien darin und jeder Schritt nach vorne bedeutete einen halben zurück. Doch ich blieb stur und setzte beharrlich einen Fuß vor den anderen. Erst als der Weg so steil und tückisch wurde, dass ich trotz größter Kraftanstrengung nahezu auf der Stelle trat, legte ich das Zaumzeug ab, kletterte mit zehn Meter Schlappseil den Hang hinauf und holte den Schlitten, nachdem ich einen guten Stand gefunden hatte, über einen improvisierten Flaschenzug nach. Es war eine mühsame, aber zugleich wohltuende Plackerei.

Einmal verkeilten sich die Kufen und einmal kippte der gesamte Schlitten auf die Seite, aber ich gewann zunehmend an Höhe und die Beschwerlichkeit versüßte mir den Sieg. Als ich auf diese Weise endlich eine schneefreie Wand erreichte, an der sich das Gepäck gut vertäuen ließ, richtete ich etwa zehn Meter über dem Boden einen Stand ein und band dort unsere Ausrüstung mit ordentlich vielen Wandnägeln, Klemmkeilen und Seilmetern in den Fels.

Es dämmerte bereits, als ich mit meinen Vorbereitungen am Berg fertig war. Im Dorf wurde in den Stuben vermutlich längst mit künstlichem Licht der langsam einsetzenden Dunkelheit entgegengewirkt, während sich die Bewohner an den Kaminkacheln wärmten und zu Abend aßen. Doch das war alles noch viel zu weit weg, als dass es mich hätte berühren können. Ich sah nur einen bedeckten Himmel und eine in grauen Schatten versinkende Bergwelt, die nun, da sich die Menschen in den schützenden Schoß des Tales und dort in ihre Behausungen verkrochen hatten, mir allein gehörte. Die Luft war angenehm frostig und der raue Fels ruhte friedlich unter seinem neu erworbenen Mantel aus Schnee und Eis. Ohne große Hast – denn mich zog nichts zurück ins Tal und Eile ist mir von Natur aus fremd – verstaute ich meine Ausrüstung im Rucksack, nahm mein Seil auf, schnallte die Skier, die dem Schlitten als Kufen gedient hatten, an meine Füße, streifte mir ein Paar Handschuhe über und zog meine Mütze tief ins Gesicht.

Alles war bereit. Ich hätte mich nur leicht nach vorne neigen müssen, um auf den frisch gewachsten Brettern in die Tiefe zu rauschen. Doch ich verharrte einen Moment und beobachtete, wie die diffusen Konturen der Berge, genährt von den sterblichen Überresten des vergangenen Tages, über sich selbst hinauswuchsen und die Luft dunkel färbten. Schon am nächsten Morgen würden die Sonnenstrahlen die Oberhand über die Welt zurückgewinnen und alle Schatten tauen. Ich ließ die Zeit verstreichen, ohne sie zu zählen. Erst als der Mond sein blasses Gesicht durch den milchigen Wolkenschleier schimmern ließ, löste ich meinen Blick vom Himmel. Ich schaute auf den steil abfallenden Berghang zu meinen Füßen und verspürte einen tröstlichen Sog. Doch gerade als ich dem Ruf in die Tiefe folgen wollte, knisterte mein Funkgerät.

Es war Falk. Er hatte alles wie besprochen erledigt und die Nachrichten aus Penzing gaben Grund zur Hoffnung. Ich bedankte mich für seinen Einsatz, bevor ich ihn in seinen wohlverdienten Feierabend entließ. Nach einem jauchzenden Joho, das auf meiner Seite der Leitung als dünnes Echo durch die Bergschlucht hallte, fragte mich Falk, ob ich ihn und die anderen später auf ihrem Streifzug durch die Altstadt des Nachbardörfchens Sonthofen begleiten wolle. Natürlich wollte ich das nicht. Auch der Hinweis, dass wir am nächsten Morgen ausschlafen konnten, konnte mich nicht umstimmen. Als ich ihm dies nach etlichem Hin- und Hergefunke über die Relaisstationen des Alpenvereins endlich klargemacht hatte, wies er mich nachdrücklich darauf hin, dass ich durch meine ständige Neinsagerei mittelfristig auf eine schwere und langfristig auf eine endgültige Unvermittelbarkeit zusteuere. Ich versicherte ihn meines vollen Bewusstseins über den Ernst der Lage und erinnerte ihn an den Stapel Berichte, die noch auf meine Durchsicht warteten und die ich mir als Gute-Nacht-Lektüre eingepackt hatte. Wenn ich mich ranhielt, würden sie noch rechtzeitig zum Quartalsschluss in die Registratur eingehen können, wo sie zwar nicht gelesen, aber von pflichtbeflissenen Händen entgegengenommen und abgeheftet würden.

Obwohl er wusste, dass die Bearbeitung der Berichte nicht wirklich pressierte, ließ Falk die Ausrede gelten und ich entging der lästigen Kameradenpflicht, meinen Abend in einem verrauchten Wirtshaus oder einem lärmenden Tanzlokal abzusitzen und mir dort langweilige Alltagsgeschichten anzuhören. Nicht dass mein eigenes Leben sonderlich viel spannender wäre, aber es ist eben mein Leben. Als sich Falk schließlich mit ›Over und Ende‹ von mir verabschiedete, klangen seine Worte in meinen Ohren wie der erlösende letzte Segensspruch nach einer langen Bergpredigt.

»Eins noch«, quäkte es jedoch plötzlich hektisch durch den Lautsprecher meines Funkgeräts: »Wir haben Gesellschaft. Zwei Lakaien des Ministeriums sind in derselben Herberge wie wir abgestiegen. Ist das ein Zufall?« Da ich mir jedoch ebenfalls keinen Reim darauf machen konnte, aus welchem Grund es zwei Agenten des militärischen Geheimdienstes nach Oberstdorf verschlagen hatte, konnte ich Falk nur raten, sich ausnahmsweise zu benehmen, bevor ich das Stellrad meines Funkempfängers auf Aus drehte. Dann ließ ich mich fallen und ein eisiges Zischen zerteilte die einsame Stille, als meine Skier durch die weiche Schneedecke schnitten. Dieses zischende Geräusch begleitete mich auf meinem Weg ins Tal und wurde nur unterbrochen, wenn ich die scharfen Eisenkanten gegen den Berg stemmte und der unter meinem Gewicht zusammengedrückte Schnee aufächzte oder wenn ich durch ein schnelles Wendemanöver eine kleine Schneelawine auslöste, die daraufhin leise den Hang hinab rieselte. Es dauerte nicht lang, bis ich die Baumgrenze erreichte, wo sich bereits erste tiefdunkle Schatten als Vorboten der Nacht versammelt hatten. Meine Augen gewöhnten sich schnell an das spärliche Licht. Mit voller Fahrt preschte ich durch das tiefhängende Geäst der hohen Tannen und schüttelte dabei den jungen Schnee von den Zweigen, während ich mit der Nacht um die Wette lief.

Unterhalb der Tausendmetermarke wurde die Schneedecke jedoch bald zu dünn, um mich tragen zu können, und es blieb mir nichts weiter übrig, als meine Skier abzuschnallen und die letzten Kilometer zu Fuß zurückzulegen. Da mein Rucksack leicht war und ich nur die Skier und ein dünnes Seil als zusätzliches Gepäck hatte, konnte ich ein flottes Tempo vorlegen und erreichte nach nur knapp einer Stunde den Parkplatz unserer Unterkunft.

Im Tal gab es keine Spur von Schnee und die Temperaturen waren mild, dennoch bereitete sich auch hier alles auf die Ankunft des Winters vor. Die Brennholzvorräte stapelten sich bis unter das Dach der Herberge und auf der an den Parkplatz angrenzenden Terrasse waren die Sonnenschirme, Tische und Stühle bereits durch Skiständer und Abtrittroste ersetzt worden. Ein umtriebiger Wind zupfte noch schnell die letzten Blätter von den Bäumen, die daraufhin gefangen zwischen Aufwind und Schwerkraft auf und ab schwebten. Das Laub am Boden bewegte sich indessen in spiralförmigen Bahnen um die Mitte des Parkplatzes. Da der Wind jedoch immer wieder innehalten musste, um Luft zu schöpfen, folgte auf jede Welle hektischen Tanzens und Wirbelns ein Moment vollständiger Ruhe, bevor sich die Blätter erneut erhoben.

Da der westliche Talkessel inzwischen vollständig unter dem Schatten der Berge begraben lag, waren die Fenster des Gasthofs hell erleuchtet und auch auf dem Parkplatz brannten schummerige Laternen, die den Hof in ein geisterhaftes Zwielicht tauchten. Die Gerippe der halb entlaubten Bäume wippten vor und zurück, während ihre Schatten im Gleichtakt dazu über den Boden glitten. Inmitten dieses Trubels aus gleitenden Schatten und aufgewirbelten Blättern, bemerkte ich plötzlich eine Gestalt. Sie stand reglos am Fuß der Treppe zum hinteren Hoteleingang und starrte in den Himmel. Ihre Ruhe bot einen merkwürdigen Kontrast zu dem aufgeregten Hin und Her der Schatten und dem hektischen Knistern der Blätter.

Gegen das Licht der vom Eingangsbereich her schimmernden Laternen erschien die schmale, hochgewachsene Gestalt selbst fast wie ein Schatten, doch durch Falks Aufregung vorgewarnt glaubte ich, die Dienstuniform eines Lakaien des Verteidigungsministeriums erkennen zu können. Die meisten Einheiten – und mein Standort bildet da keine Ausnahme – hegen einen geradezu pathologischen Argwohn gegenüber dem militärischen Geheimdienst: Er gilt als Exekutivorgan der Bürokraten und seine Agenten als Augen und Ohren der Hardthöhe. Da ich selbst bisher nur wenig mit den Herren in den dunklen Anzügen zu schaffen gehabt habe, weiß ich nicht, ob das allgemeine Misstrauen gerechtfertigt ist oder nicht, und versuche auf der Hut zu bleiben, ohne gleich Gespenster zu sehen. Ich fand die Anwesenheit der Agenten in Oberstdorf zwar merkwürdig, sah darin aber keinen Grund zu Besorgnis.

Dennoch zögerte ich. Nicht aus Furcht vor den Fühlern der Obrigkeit, sondern weil ich das Gefühl hatte, ein Bild zu zerstören. Als ich jedoch schließlich den Parkplatz betrat, nahm der Lakai des Ministeriums keinerlei Notiz von mir und ließ sich weder durch das Klirren der Karabiner an meinem Hüftgurt noch durch den knirschenden Kies unter meinem Stiefeln aus der Ruhe bringen. Einen kurzen Moment war ich verwirrt, doch am Ende überwog das angenehme Gefühl, ignoriert und somit in Ruhe gelassen zu werden. Im Vorbeigehen versuchte ich dennoch, einen Blick auf ein Verbandsabzeichen, Namensschild oder Ärmelband zu erhaschen, doch der Anzug besaß nichts dergleichen. Er war einfach nur schwarz, leicht tailliert und in tadellosem Zustand. Eine weitere Besonderheit, die mir ins Auge fiel, war ein kleiner, goldener Anstecker an seinem Hemdkragen. Mein Blick war jedoch zu flüchtig, um Genaueres zu erkennen.

Ich ging zu einem der Skiständer, wo ich meine Ski sauberbürstete und anschließend die Laufflächen, Riemen und Bindungen mit einem Baumwolllappen sorgsam trockenrieb. Nachdem alles poliert war, überprüfte ich die Wachsschicht auf schadhafte Stellen und fand an der Schaufel meines linken Skiers eine tiefe Schramme. Ich hatte die Schneedecke auf dem Weg nach unten zu sehr ausgereizt. Ich besserte die Stelle notdürftig aus und zog abschließend die Stahlkanten ab, sodass die Skier für die Tour am nächsten Tag einsatzbereit waren.

Erst als ich von meiner Arbeit aufschaute, bemerkte ich, wie düster es inzwischen geworden war. Der Himmel glühte zwar in verschiedenen Rot- und Blautönen, ein Nachhall der längst hinter den Bergen versunkenen Sonne, aber im Tal war es inzwischen so dunkel, dass die Umrisse der Figur am Fuß der Treppe zum Hintereingang des Hotels fast vollständig mit der Dämmerung verschmolzen. Hätte man im Licht der Parkplatzlaternen nicht das blasse Gesicht und weiße Hemd der Person gesehen, wäre sie vollkommen unsichtbar gewesen.

Sie hatte sich offenbar seit meiner Ankunft nicht von der Stelle bewegt, sondern stand da wie eine Statue aus schwarzem Stein mit einer weißen Maske. Auch ohne die Gerüchte über den militärischen Abschirmdienst kam mir die Person inzwischen gespenstig vor und vielleicht war das der Grund dafür, dass ich plötzlich an Tomo denken musste. Ich schob den Gedanken jedoch beiseite und fuhr noch einmal mit meinem Finger über den schartigen Ski, den ich gleich bei meiner Heimkehr nach Mittenwald in die Instandsetzung geben musste.

Ich ließ es damit vorerst bewenden und ging den Rest meiner Ausrüstung durch. Da mein Seil trotz Imprägnierung ein wenig Feuchtigkeit aufgenommen hatte, räumte ich es in einen kleinen Holzverschlag neben der Kellertreppe und legte es dort auf einem Regalboden zum Trocknen aus. Danach trat ich wieder auf den Parkplatz hinaus und ließ den Riegel der knarrenden Schuppentür hinter mir zufallen. Es hätte mich inzwischen gewundert, wenn sich die Statue bewegt hätte. Da sie sich jedoch nicht von mir stören ließ, ließ ich mich ebenfalls nicht von ihr stören und befreite mich aus meinem Gurtzeug, das mit Karabinern, Klemmkeilen, Mauerhaken und Bandschlingen bestückt war. Jede meiner Bewegungen klirrte wie die Türglöckchen eines Gemüseladens. Trotzdem sortierte ich noch schnell meine Materialschlaufen neu, bevor ich das Scheppern, Klingen, Klappern und Singen zum Schweigen brachte, indem ich das ganze Geschirr in meiner Tasche verstaute. Ich schulterte meinen Rucksack und ging auf den Eingang zu.

Nun kam zum ersten Mal Leben in die Statue. Sie rückte ein Stück zur Seite, um die Treppe für mich freizugeben, und nickte flüchtig. Ich nickte ebenso flüchtig zurück und erhaschte dabei einen weiteren Blick auf die Uniform und den goldenen Anstecker. Der Adler, den ich daraufhin am Hemdkragen erkannte, sagte mir nichts. Vielleicht war er das nachrichtendienstliche Pendant zu Kragenspiegel und Truppenabzeichen. Der silberne Doppelwinkel auf den schwarzen Schulterklappen, der seinen Träger als Oberfeldwebel auszeichnete, war mir hingegen vertraut. Viel interessanter war jedoch die Entdeckung, die ich machte, als ich dem Blick des Oberfeldwebels folgte. Ich musste allerdings zwei Mal hinsehen, um zu erkennen, dass es sich bei dem riesigen, weißen Vogel, der in den Baumwipfeln Saltos schlug, in Wirklichkeit um eine Plastiktüte handelte, eine einfache, weiße Plastiktüte in der Art, wie man sie Touristen aus Souvenirläden raustragen sieht.

Die Tüte hatte sich mit einer ihrer Trageschlaufen im Geäst eines hohen Baumes verfangen und versuchte nun mit aller Kraft, sich wieder loszureißen. Sie blähte sich auf, zappelte wild hin und her und drehte sich um ihre eigene Achse. Doch wie sehr sie sich auch wand und sträubte, die knorrigen Finger der Bäume ließen sie nicht los.

Dieser verzweifelte Kampf in der Luft hatte mich für einen kurzen Moment ebenso in seinen Bann gezogen wie den Oberfeldwebel, als ich plötzlich dunkles Stiefelgepolter aus der einen Richtung und laute Stimmen aus einer anderen hörte. Die Schritte, die wie schwere Bergstiefel auf alten Holzdielen klangen, hörte ich hinter der Tür. Die Stimmen, die ich eindeutig Falk und Gunnar zuordnen konnte, kamen von der Terrasse, die zwischen Haupteingang und Parkplatz lag. Unwillkürlich schaute ich mich nach Fluchtmöglichkeiten um, aber der Parkplatz war von einem niedrigen Mäuerchen umgeben und das einzige Versteck war der Holzverschlag, in dem ich meine Ausrüstung zum Trocknen ausgelegt hatte.

Die Stimmen wurden lauter und das Stiefelgepolter kam näher. Wenn mich Falk und die anderen persönlich erwischten, würden sie mich nicht so leicht davonkommen lassen wie per Funk. Ich ließ meinen Blick noch einmal über den Parkplatz schweifen und schloss alle Möglichkeiten der Flucht aus bis auf eine.

Ich zögerte jedoch, denn ich wusste nicht, wie ich es am besten anstellen sollte. Mir blieb allerdings keine Zeit für lange Überlegungen, denn die Stimmen, die von der Terrasse her kamen, verwandelten sich in dunkle Schatten, die ausladend gestikulierend und laut lachend um die Ecke bogen. Ihre Schritte knirschten auf dem Kies und ich hörte einen Schlüsselbund klingeln. Zu dem Stiefelgepolter hinter der Tür hatten sich inzwischen ebenfalls Stimmen gesellt. Aber erst als sie so nah waren, dass ich verstehen konnte, was sie sagten, gab ich mir einen Ruck, stürzte die Treppe hinunter und ergriff meine einzige Chance: »Was sie wohl denkt?« Meine Frage riss den Oberfeldwebel so unvermittelt aus seinen Gedanken, dass er mich, anstatt mir zu antworten, nur entgeistert ansah.

»Die Tüte, meine ich. Was sie wohl denkt?« Ich stellte meinen Rucksack ab und lehnte mich ans Treppengeländer. Ich musste dringend den Anschein erwecken, in eine angeregte Konversation vertieft zu sein. Da der Oberfeldwebel jedoch noch immer nichts sagte, sondern nur seine Augenbrauen hob, wiederholte ich meine Frage: »Was sie wohl denkt? Eine Frage, die ich mir schon als Kind über alles, was sich oben am Himmel bewegt, gestellt habe. Wolken, Vögel–«

»Tüten?« Der Oberfeldwebel runzelte nachdenklich seine Stirn und ließ seine Augen im Zickzack über meine Uniform aus dicken Wollsocken, ausgebeulten Kniebundhosen und einer ebenso aus der Form geratenen Feldbluse wandern. Bis auf die schwarzen Bergstiefel und die graue Bergmütze war alles an mir in olivgrüner Farbe. Ich nickte: »Was denkt man dort oben? Es wäre doch Verschwendung, alles zu sehen, aber nichts zu begreifen, alle Freiheit zu haben, aber nichts dabei zu denken oder zu empfinden.« In diesem Moment flog die Tür hinter uns auf und und die von der Terrasse her kommenden Schatten traten ins Licht der Parkplatzlaternen.

Ich hatte es noch rechtzeitig geschafft. Falks albernes Gelächter erstarb, als er mich zusammen mit dem Ministeriallakaien am Fuß der Treppe stehen sah, und auch Gunnar wurde plötzlich still. Er warf mir einen skeptischen Blick zu und schloss seine Faust fest um den Autoschlüssel, den er gerade noch hatte um seinen Finger kreisen lassen. André, der in diesem Moment mit dem Rest der Truppe aus dem Hintereingang kam, stutzte kurz, als er mich sah. Er runzelte die Stirn und hob sein Kinn. In seinem Blick lag die Frage, ob alles in Ordnung war. Ich zerstreute seine Sorge mit einem flüchtigen Kopfnicken, bevor ich meinen Rucksack zur Seite schob, um André und die anderen vorbeizulassen.

Als ich mich wieder dem Oberfeldwebel zuwandte, lachte ich, als ob er gerade einen guten Witz gemacht hätte und wir alte Vertraute wären: »Wo waren wir stehengeblieben?«

Er schüttelte den Kopf: »Ich weiß nicht.«

»Ach ja«, stimmte ich ihm zu: »Verschwendete Freiheit.« Ich schaute zu der Tüte. Er folgte meinem Blick: »Freiheit? Ich denke eher an Vergänglichkeit.«

»Das liegt vermutlich an der Jahreszeit. Fallendes Laub, fallende Temperaturen, und die Nächte werden länger«, erwiderte ich: »Das macht das Ganze umso deprimierender. Zu sterben, ohne vorher gedacht zu haben.«

»Muss man immer etwas denken?«, fragte er.

»Was ist die Welt ohne Gedanken«, fragte ich zurück, doch meine Worte gingen im Lärm der sich in Marschbereitschaft setzenden Autokarawane unter. Autotüren wurden zugeschlagen, Motoren angelassen und schließlich die Lenkräder so hart eingeschlagen, dass der Kies unter den Reifen laut aufkreischte. Die Wagen setzten zurück und rollten langsam über den Parkplatz Richtung Ausfahrt. Ich atmete erleichtert auf und sah den roten Rückleuchten hinterher, als mich plötzlich eine Hand an der Schulter berührte: »Sie ist weg!«

Ich schaute mich irritiert um. Der Aufbruch der Autokarawane hatte die Choreographie des Windes durcheinandergebracht. Die Blätter, die ursprünglich in einem Wirbelsturm um die Mitte des Parkplatzes gekreist waren, fegten nun ziellos am Boden hin und her, und das Laub, das die ganze Zeit über den Baumkronen auf und ab geflogen war, regnete laut prasselnd auf den Parkplatz herab, als ob jemand den Wind abgeschaltet und die Schwerkraft auf höchste Stufe gestellt hätte. Und tatsächlich, die Tüte war weg. Ich drehte mich nach dem Oberfeldwebel um, der jedoch inzwischen auf den Parkplatz gelaufen war, um nach der Tüte zu suchen.

»Sie müsste doch hier irgendwo runtergekommen sein«, rief er mir zu und winkte mich zu sich heran. Er hatte einen Stock vom Boden aufgehoben und stocherte in den losen Laubhaufen. Ich ging zu ihm hinüber und machte ihn darauf aufmerksam, dass es die Tüte überall hin verschlagen haben konnte. So hoch oben und bei dem starken Wind.

»Stimmt«, sagte er und sprang mit einem Satz auf die Parkplatzmauer, was ich ihm aufgrund seiner steifen und tadellosen Uniform nicht zugetraut hätte. Als ich ihm nicht gleich folgte, drehte er sich nach mir um und streckte mir seine Hand entgegen. Ich wusste zwar nicht, welchen Zweck es haben sollte, dieser Tüte nachzujagen, aber die ausgestreckte Hand kratzte an meiner Eitelkeit, weswegen ich schließlich ebenfalls mit einem Satz auf die niedrige Mauer sprang.

Auf der anderen Seite der Mauer lag eine hügelige Wiese, die vermutlich im Sommer als Weideland genutzt wurde. Sie war zum Tal hin abschüssig und hier und da ragten die Schatten vereinzelter Bäume und Sträucher auf. Ich glaubte, Wasser rauschen zu hören, und ging davon aus, dass sich einer der vielen Gebirgsbäche, die im Tal zu einem großen Fluss zusammenliefen, in der Nähe befinden musste. Zu sehen war der Bach jedoch nicht. Die einzige Besonderheit, die ich in der Dunkelheit ausmachen konnte, war eine Holzhütte, deren Dach gerade so über eine flache Hügelkuppe ragte. Ich wollte gerade etwas sagen, als mir der Oberfeldwebel zuvorkam.

»Dort ist sie.« Er zeigte zu der Hütte, wo auch ich gerade die Tüte entdeckt hatte. Sie war prall mit Luft gefüllt und wurde vom Wind gegen die Wand des Hauses gedrückt, wo sie sich nun überschlug und drehte, wie ein Rad, das im Schlamm feststeckte und nicht vorankam. Ich ärgerte mich, dass der Oberfeldwebel die Tüte den Bruchteil einer Sekunde eher als ich entdeckt hatte, aber mir blieb keine Zeit für großes Bedauern, da er bereits von der Mauer gesprungen war und auf die Hütte zu rannte. Ich blieb zunächst auf meinem Aussichtsposten auf der Mauer stehen, aber als er sich nach mir umdrehte, sprang ich schließlich auch auf die Wiese hinab und folgte ihm. Ich hatte das Gefühl, meine Einheit in einem Wettkampf zu vertreten und wollte mich nicht von einem Lakaien des Ministeriums abhängen lassen. Ich holte schnell auf, sodass wir die Hütte gleichzeitig erreichten.

Wir waren jedoch zu spät. Die Tüte hatte es inzwischen geschafft, die Wand hoch zu rollen und über das Dach zu fliegen. Wir teilten uns auf und umrundeten die Hütte, damit uns die Tüte nicht entwischen konnte, aber als wir uns auf der anderen Seite der Hütte wieder trafen, konnten wir gerade noch sehen, wie die Tüte in einer geraden Linie Richtung Tal davonrollte.

Ich wäre an diesem Punkt umgekehrt, aber der Oberfeldwebel hatte bereits die Verfolgung aufgenommen, also blieb auch mir nichts anderes übrig. Wir rannten, so schnell wir konnten, aber es war, als würden wir zu Fuß einen Fahrradfahrer verfolgen. Der Oberfeldwebel war jedoch zuversichtlich. Er deutete voraus. »Dort, wo sich die beiden Hügel berühren, dreht sich der Wind. Das wird sie verlangsamen. Und wenn wir Glück haben, geht ihr weiter vorne bei den Hecken und Sträuchern die Puste aus.« Seine Stimme klang abgehetzt und ich war froh, dass ich nicht der Einzige war, der Mühe hatte, mit der Tüte Schritt zu halten. Wir sprinteten über die Wiese, holten aber erst auf, als die Tüte schließlich wie von dem Oberfeldwebel vorhergesagt plötzlich von links nach rechts und von rechts nach links geweht wurde. Ihr Zickzacklauf verschaffte uns einen Vorteil, sodass wir sie fast erreichten. Wir verringerten unser Tempo, um Luft zu holen, und warfen uns zuversichtliche Blicke zu.

Als die Tüte schließlich wie ebenfalls von dem Oberfeldwebel vorhergesehen immer langsamer wurde, weil die Hecken und Büsche den Wind ausbremsten, kamen wir so nah an sie heran, dass wir sie jederzeit hätten stoppen können. Das taten wir jedoch nicht. Im Gegenteil, als die Tüte an einem Stein hängen blieb, lupfte der Oberfeldwebel sie mit dem Stock an, den er immer noch bei sich trug und immer wieder durch die Luft schwang, damit sie weiterrollen konnte.

In diesem Moment erkannte ich, dass wir der Tüte nicht hinterherjagten, um sie zu fangen, sondern um sie zu beobachten. Es war ein Spiel. Und ich fühlte mich frei und dachte an gar nichts.

Wir waren jedoch zu selbstsicher geworden, denn die Tüte machte unvermittelt einen Satz und raste über einen niedrigen Hügel und rollte über die Böschung in einen kleinen Fluss. Dort fiel der weiße Ball in sich zusammen und trieb wie eine tote Qualle davon.

Natürlich wollte der Oberfeldwebel sofort die Böschung hinabklettern, um die Tüte mit seinem Stock aus dem Wasser zu angeln, aber es gelang mir, ihn davon zu überzeugen, dass es ein Stück flussabwärts, wo das Ufer weniger steil und rutschig war, besser funktionieren würde. Wir rannten den Bachlauf entlang und suchten nach einer geeigneten Stelle. Wir mussten uns nicht beeilen. Der Bach plätscherte in Schrittgeschwindigkeit vor sich hin, sodass wir genügend Zeit hatten, uns ein Plätzchen zu suchen und dort auf die Tüte zu warten. Ich hielt den Oberfeldwebel fest, als er die Böschung so weit hinabkletterte, dass er mithilfe des Stocks bis zur Flussmitte reichen konnte. Alles weitere war ein Kinderspiel. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Wir schrien zwar beide laut auf, als uns die Tüte zum Dank für ihre Rettung mit einer Ladung Wasser übergoss, aber nach dem ersten Schrecken mussten wir beide lachen. Ich zog den Oberfeldwebel die Böschung hinauf, und nachdem er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, fädelte er den Stock durch die Trageschlaufen der Tüte, schüttelte das Wasser ab und hielt sie wie einen Windsack in die Höhe. »Luv«, sagte er plötzlich unvermittelt und ich dachte zunächst, er meinte die Windseite.

»Heinrich Eliot Luv. Oberfeldwebel«, fügte er jedoch schnell hinzu und hielt mir seine Hand hin. Erst jetzt fiel mir wieder ein, dass wir uns noch nicht vorgestellt hatten. Obwohl ich das Gefühl hatte, ihn schon ewig zu kennen, wusste ich noch nicht einmal seinen Namen.

Ich zog meine Mütze ab und nahm seine Hand: »Wilhelm Fenner. Hauptmann. Aber für Freunde einfach nur Wilhelm. Darf ich Dich Heinrich oder Eliot nennen?« Als meine Frage bei ihm ein Stirnrunzeln auslöste, fürchtete ich zunächst, ich hätte mich im Ton vergriffen, ihm zu voreilig das Du angeboten oder etwas anderes Dummes getan, doch die Stirnfalten glätteten sich sofort wieder und wichen einem Schmunzeln, das ich zwar ebenso wenig verstand wie das Stirnrunzeln zuvor, aber ich verstehe andere oft nicht.

»Eliot?«, fragte er schließlich zögernd.

»Okay, Eliot«, bestätigte ich, woraufhin er erneut lachte und die Haare zurückstrich, die ihm der Wind ins Gesicht geweht hatte. Erst jetzt fiel mir auf, wie ungewöhnlich lang seine Haare waren. Meine Haare gelten bereits als lang, wenn sie nur knapp über die Ohren ragen. Eliots Haare bedeckten die Ohren gänzlich und die Ponyfransen ragten so tief in seine Stirn, dass sie ihm in die Augen hingen. Ein eklatanter Widerspruch zu seiner ansonsten tadellos dienstkonformen Aufmachung. Ich fand allerdings, dass das samtige Tiefschwarz seiner Haare gut zu seinem schwarzen Anzug passte. Als ich mich dabei ertappte, wie ich ihn anstarrte, wollte ich mich entschuldigen, stellte jedoch fest, dass er mich nicht weniger eingehend musterte. Seine forschenden Augen erschienen dabei im Dämmerlicht des Abendhimmels so dunkel, dass es aussah, als ob die bevorstehende Nacht durch ihn hindurchschimmern würde.

Als er mir jedoch plötzlich direkt in die Augen sah, senkte ich meinen Blick, da ich das Gefühl hatte, dass er das hilflose Chaos in mir sah. Es war beängstigend. Dennoch schaute ich wieder auf und versuchte, seinem durchdringenden Blick standzuhalten. Was er sah, schien ihn jedoch nicht abzuschrecken. Es schien ihn noch nicht einmal zu überraschen, weswegen ich schließlich genauso ungeniert zurückstarrte. Der Abgrund hinter seinen Augen war jedoch so tief und traurig, dass ich meinen Blick erneut abwandte. Es war beängstigend.

»Wollen wir?«, fragte ich schließlich. Er nickte und schwang die Wetterfahne noch einmal wie zum Zeichen des Sieges über seinem Kopf, bevor er mit großen Schritten vorausging. Ich blieb noch eine Weile wie angewurzelt stehen und schaute ihm hinterher. Ich hatte mich nie zuvor jemandem so nah gefühlt. Es war beängstigend. Erst als er sich nach mir umdrehte, setzte ich mich ebenfalls in Bewegung und holte seinen Vorsprung mit einem kurzen Sprint wieder auf.

Den ersten Teil des Weges legten wir schweigend zurück. Eliot war damit beschäftigt, die Tüte wie eine Fahne in den Wind zu halten, und ich dachte über das nach, was ich gesehen hatte, als ich in seine Seele geblickt hatte. Ich hatte es bereits gefühlt, als wir zusammen über die Wiese gejagt waren. Vielleicht hatte ich es sogar schon gefühlt, als ich den Parkplatz betreten hatte. Oder noch früher, als ich vom Berg ins Tal geblickt hatte. Spätestens jedoch, als wir zusammen schwiegen, wurde das Gefühl, etwas gefunden zu haben, was ich auf keinen Fall verlieren durfte, so übermächtig, dass ich an nichts anderes mehr denken konnte als daran, wie ich es bewahren konnte. Ich hatte allerdings keinen Begriff dafür. Sympathie schien mir zu wenig, Liebe zu viel, Seelenverwandtschaft zu vage. Freundschaft?

Unter meinen Arbeitskollegen oder in meinem Bekanntenkreis gibt es sonst niemanden, den ich als Freund bezeichnen würde. Das liegt jedoch nicht an den anderen, sondern an mir. Ich neige von Natur aus nicht zur Freundschaft, weil mir die Gegenwart anderer Personen meistens unangenehm ist. Falk bezeichnet mich als seinen Freund und hat damit sicherlich bis zu einem gewissen Grad recht. Er ist immer um mein Wohlbefinden bemüht und ich schätze ihn als verlässlichen Kletterpartner, aber seine Herzlichkeit irritiert mich und seine Mitteilsamkeit geht mir auf die Nerven.

Gunnar hat seine Ausbildung ungefähr zum gleichen Zeitpunkt begonnen wie ich und macht es sich zurzeit in einem der dick gepolsterten Sessel des Ausbildungsstabes bequem. Herzlichkeit könnte man ihm nicht unterstellen und über die Maßen mitteilsam zeigt er sich erst ab dem vierten Bier, was ich zu selten miterlebe, um mich daran zu stören. Aber seine provokante Art und seine Affektiertheit gehen mir ebenso auf die Nerven wie Andrés Regelverliebtheit. André glaubt, immer zu wissen, was zu tun ist und wie. Für alles gibt es eine Vorschrift oder ein Protokoll, egal ob es sich dabei um die Dienstvorschrift oder die zehn Gebote handelt. André kennt alle Regeln der Welt auswendig und wird niemals müde, aus seinem unerschöpflichen Repertoire zu zitieren. André ist schon länger dabei als ich und führt den Hochgebirgsjägerzug. Ich kenne ihn und Gunnar nun schon seit so vielen Jahren, dass ich mich inzwischen, soweit das möglich ist, an ihre Eigenarten gewöhnt habe. Sie gehören wie ich zu Heidts Führungsstab und von daher sehen wir uns fast täglich.

Als ich vor nicht ganz zehn Jahren als junger Rekrut an den Mittenwalder Standort der Gebirgsjäger kam, hatte Heidt dort als Kompaniechef das Sagen. Inzwischen befehligt er das gesamte Bataillon. Wir kennen uns nun also bereits seit fast einem Jahrzehnt und er bezeichnet mich als seinen Freund. Soweit es unsere Arbeit für das Bataillon betrifft, kommen wir auch gut miteinander aus, aber wenn er mich zu sich nach Hause in den Kreis seiner Familie einlädt, fühle ich mich unwohl und möchte am liebsten davonlaufen. Selbst bei Oheim, meinem Mentor während meiner Anfangszeit als Soldat, war ich nie richtig entspannt, obwohl ich ihn noch am ehesten als Freund bezeichnen könnte. Er hat mir seine Kletterausrüstung geliehen, mir gute Ratschläge erteilt und mich unter seine Fittiche genommen. Vielleicht wäre ich heute in seiner Gegenwart etwas gelassener, aber er hat das Bataillon bereits vor Jahren verlassen.

Generell könnte man sagen, dass ich für Lebensbereiche, die über das Berufliche hinausgehen, nicht tauge, und ich bin vermutlich auch eine der wenigen Personen, die neben Freunden auch Feinde haben. Einen Feind zähle ich mindestens: Professor Meissmann. Ich habe irgendwann als Kind entschieden, dass er mein Feind ist, weil mich seine Gleichgültigkeit genauso verletzt hat wie sein Despotismus. Er wechselte in der Regel zwischen diesen beiden Extremen hin und her. Glücklicherweise berühren sich unsere Leben inzwischen kaum mehr.

»Wir werden wohl nie erfahren, was sie denkt«, sagte Eliot plötzlich und schaute auf die Tüte, die immer noch wie eine Wetterfahne an seinem Stock wehte. Ich zuckte mit den Schultern, teils aus Reue, weil ich das Gespräch auf der Treppe ursprünglich nur angefangen hatte, um mich vor anderweitigen Verantwortungen zu drücken, teils aus Unsicherheit, weil ich plötzlich nicht mehr sicher war, ob die Welt ohne Gedanken aufhören würde zu existieren.

»Vielleicht hast Du recht«, sagte ich nach einer Weile: »Vielleicht muss man nicht immer etwas denken.«

Er lachte. Nicht über mich. Das spürte ich. Er schien eher, über seine eigenen Worte zu lachen: »Vielleicht habe ich das aber nur gesagt, weil ich gerade an nichts denken wollte.«

Wir schwiegen, bis wir die Hütte erreichten. Dieses Mal mussten wir uns nicht aufteilen, um der Tüte den Weg abzuschneiden, taten es aber trotzdem. Allerdings ging er dieses Mal hinten herum und ich vorne. Als wir uns kurz darauf auf der anderen Seite der Hütte wieder trafen, fragte ich ihn, was ihn und seinen Kollegen nach Oberstdorf verschlagen hatte.

»Meinen Kollegen?«, fragte er.

Ich zuckte mit den Schultern und erklärte ihm, dass ich bereits per Funk über die Anwesenheit zweier Agenten des Abschirmdiensts in Kenntnis gesetzt worden war.

Er nickte wissend und erzählte mir, dass er mit dem Leiter seiner Dienststelle, Oberstleutnant Kajetan-Lewin Pragen, unterwegs sei. Ich überlegte kurz. Ich hatte den Namen schon gehört. Gerede in der Offiziersmesse. Natürlich erzählte man sich dort nichts Nettes über den Chef des Münchner Ablegers des Lakaienapparats und es war unmöglich auseinanderzuhalten, welche Ressentiments der Person selbst galten und welche dem Amt.

»Ich glaube, ich habe bei seiner Amtseinsetzung von ihm reden hören«, sagte ich schließlich. »Es heißt, er sei ein Egozentriker, zu jung für den Job, zu liberal in seinen Ansichten und zu modern in seinen Methoden. Ich frage mich, ob Du diese Vorwürfe bestätigen oder abstreiten kannst oder ob Du Deiner Einheit gegenüber zu loyal bist, um Dich kritisch zu äußern.«

Eliot schaute mich an: »Ich frage mich, ob Du nicht derjenige bist, der seiner Einheit gegenüber zu loyal ist, wenn Du auf das Gerede von Leuten hörst, die andere als zu liberal oder zu modern bezeichnen.«

»Ich denke, wir stehen auf derselben Seite«, erwiderte ich.

»Ich stehe auf keiner Seite.«

»Genau dort stehe ich auch.«

Eliot lachte: »Ich denke, man nennt ihn zu jung, weil die Militärs lieber einen altgedienten Veteranen anstatt eines Juristen in den besten Jahren auf diesem Platz gesehen hätten. Liberal ist nur ein anderes Wort für unvoreingenommen und modern erscheinen seine Methoden nur denjenigen, die vergessen haben, dass der Dialog schon lange vor unserer Zeit ein wichtiges Mittel der Wahrheitsfindung gewesen war. Eigentlich ist Pragen in dieser Hinsicht sogar eher altmodisch. Anstatt auf das Abhören von Telefonaten oder das Montieren von Überwachungskameras zu setzten, unterhält er sich lieber mit den Leuten von Angesicht zu Angesicht, hört ihnen zu und beobachtet sie.«

Der Mann klang gefährlich, aber die Art, wie Eliot über ihn sprach, machte deutlich, wie sehr er ihn bewunderte.

»Dass er mit seinen altmodischen – Schrägstrich, modernen – Methoden Erfolg hat, merkt man meistens daran, dass die Leute, mit denen er spricht, anfangen sich zu verteidigen, obwohl er sie überhaupt nicht angegriffen hat.«

In der Tat gefährlich, dachte ich und hoffte, dass mir die Bekanntschaft des Herrn Oberstleutnants erspart bleiben würde.

»Heute hat er allerdings zu tief in den Ameisenhaufen gestochen.«

»In welchen Ameisenhaufen?« Ich war verwundert, doch Eliot nahm mir meine Verwunderung nicht ab, sondern bestand darauf, dass ich über den Grund seiner Anwesenheit vermutlich besser Bescheid wusste als er selbst.

»Ein Ameisenhaufen aus Weltkriegsveteranen, Jägern, Parteifunktionären, jungen Soldaten und einem großen Gefolge aus Sympathisanten, der sich auf einem schmalen Grat zwischen Traditionspflege und Verherrlichung von Kriegsverbrechen bewegt und der enge Beziehungen zu den Truppenverbänden der Bundeswehr hegt.« Er deutete auf die Abzeichen an meiner Uniform. »Zu den Gebirgsjägern, um genau zu sein.«

»Ist das jetzt Voreingenommenheit?«

»Nein, das ist eine begründete Annahme, und begründete Annahmen zu treffen, ist mein Beruf.«

»Voreingenommenheit ist ein Beruf?«, fragte ich überrascht.

Eliot blieb abrupt stehen und tippte erst auf das Verbandsabzeichen auf meinem Ärmel, dann auf meine Schulterklappen und schließlich auf mein Leistungsabzeichen als Heeresbergführer: »Die Indizien sind erdrückend und es kommt erschwerend hinzu, dass das Ereignis, das Pragen und mich hierhergeführt hat, nur eine viertel Autostunde von hier in Sonthofen stattfindet. Derselbe Ort, wohin Deine Kollegen, wenn ich das vorhin richtig mitbekommen habe, aufgebrochen sind.«

Ich schwor, dass ich keinen Schimmer hatte, von welchem Ereignis er sprach.

»Hm«, nickte er schließlich, schien aber immer noch skeptisch: »Pragen war auf die jährliche Mitgliederversammlung des Kameradenkreises der Gebirgstruppe eingeladen gewesen, zu der ich ihn als Schriftführer und als zweites Paar Augen und Ohren begleitet habe. Eine Großversammlung. Sie hat bereits gestern begonnen und soll morgen noch weitergehen.« Ich nickte gedankenversunken, schüttelte aber gleich darauf vehement den Kopf. Ja, ich hatte schon von den Kameraden gehört, aber ich wusste nichts von einer Mitgliederversammlung in der Nähe.

Nach einem letzten skeptischen Stirnrunzeln lenkte Eliot schließlich ein und erzählte mir in kurzen Sätzen von seinem anstrengenden Tag, und wie es dazu gekommen war: Als Oberstleutnant Pragen eine Einladung zu der Mitgliederversammlung des vom Verfassungsschutz als zweifelhaft eingestuften Kameradenkreises erhalten hatte, hatte der Leiter der Münchner Geheimdienststelle darin eine Chance gewittert, der Gruppierung ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Eliot betonte erneut Oberstleutnant Pragens Glaube an das persönliche Gespräch als mächtigste Waffe im Kampf gegen subversive Kräfte und fragte mich, wo man ein solches Geschütz effektiver zum Einsatz bringen könne als auf einer dreitägigen Mitgliederversammlung.

Ich wusste die Antwort nicht.

»Nirgends«, erklärte Eliot und lachte. Das Lachen ging jedoch in ein Seufzen über, als er von den stundenlangen Gesprächen mit den sogenannten Kameraden berichtete. Sie trauerten in ihrem unverwüstlichen Glauben an ritterliche Tapferkeit dem Heldentum vergangener Tage hinterher und klammerten sich an eine vage Idee von völkischem Stolz und grenzenloser Heimatliebe. Das Tagesprogramm aus Vorträgen und Diashows hatte diese Gesinnung widergespiegelt, indem es Kriegsverbrechen zu Großtaten erklärte, Gräuel vergessen werden ließ und dem verlorenen Krieg ein Klagelied sang. Zwischendurch hatte eine Blaskapelle mit Militärmärschen und Soldatenliedern für etwas Stimmung gesorgt oder es zumindest versucht. Ich nickte und ersparte ihm weitere Erklärungen.

Ich hatte zwar bisher nicht besonders viel mit dem Kameradenkreis zu tun gehabt, glaubte jedoch mir den Abend vorstellen zu können. Ich nahm den Kameradenkreis allerdings nicht so ernst, wie er selbst es tat, oder wie es Eliot von Berufs wegen geboten war. Für mich waren die Kameraden nur ein Verein unter vielen. Im Freizeitbüro meines Standorts lag eine lange Vereinsliste aus, ein zwölfseitiges Pamphlet. Es gab den Heimatverein, den Schützenverein, den Skiverein, den Trachtenverein, den Kirchenverein, den Rodelverein, den Veteranenverein, den Alpenverein, den Junggesellenverein und verschiedene Vereine speziell für Soldaten und Angehörige der Bundeswehr. Warum nicht also auch einen Kameradenverein?

Diese sogenannten Kameraden begegneten mir zum ersten Mal, als ich während meines ersten Dienstjahres bei Festtagsvorbereitungen im Kasino half und eine Tischreihe für Ehrengäste dekorieren sollte. Ich wusste damals allerdings nicht, für wen ich die Tische mit Blumengestecken in den Nationalfarben, Tischwimpeln und Militärstandarten schmückte.

Als die Feier später begann, wartete ich gespannt, wer sich dort hinsetzen würde und war enttäuscht, als sich schließlich eine Riege aus alten Stammtischbrüdern dort niederließ. Wer von ihnen nicht in seiner Reservistenuniform erschienen war, trug eine mit Hirschhornknöpfen verzierte Lodenweste und einen Filzhut, an dem entweder eine Vogelfeder oder ein Pinsel aus zusammengebundenen Tierhaaren steckte. Die Uniformen sahen aus wie neugekauft, was bei den meisten vermutlich auch so war. Denn die meisten Träger waren so beleibt, dass sie diesen Körperumfang unmöglich bereits zu ihren aktiven Zeiten im Dienst besessen haben konnten. Wer also nach der Erweiterung seines Hüftumfangs nicht auf Loden und Filz ausgewichen war, hatte sich zwangsweise eine neue Uniform kaufen müssen.

Es gab allerdings auch die Hageren. Ihre Uniformen wirkten älter. Nicht etwa verstaubt oder fadenscheinig, sondern wie Relikte aus einer vergangenen Zeit. Der Farbton war nicht ganz derselbe, wie man ihn heute trug. Das Verbandsabzeichen war kein Oval, sondern hatte die Form eines spitz zulaufenden Ritterschilds. Alle Embleme waren von Hand gestickt und mit einer dicken Silberkordel umrandet.

Wie so oft bei dieser Art Feierlichkeiten stand ich unbeteiligt am Rand und zählte die Dinge, bis mich einer der alten Kameraden zu sich herüberrief. Ich hatte das Gehorchen damals gerade frisch gelernt und folgte seiner Aufforderung, ohne groß darüber nachzudenken. Eilfertig trat ich an den Tisch, um zu fragen, wie ich behilflich sein konnte. Ich kam jedoch nicht dazu, mein Satz zu beenden, da mich plötzlich eine dürre, deswegen aber nicht weniger kraftvolle Hand am Kinn packte und meinen Kopf hin und her drehte. Ich zuckte zurück, doch mein Kiefer schien in einem Schraubstock festzustecken.

Der Alte hielt mich fest in seinem Griff und befahl seinen Kameraden, mich genau anzusehen. Zwanzig Augenpaare tasteten mich daraufhin prüfend ab und es begann ein eifriges Murmeln. Einer sagte etwas über meine blauen Augen, ein anderer machte sich über meine großen Ohren lustig und wieder ein anderer rief, als mir bei dem Versuch, mich zu befreien, meine Bergmütze vom Kopf rutschte: »Die weißen Haare. Kein Zweifel.«

Mit einem heftigen Ruck riss ich mich schließlich los, setzte meine Mütze wieder auf und wich ein paar Schritte zurück. Das Murmeln hatte aufgehört, stattdessen warfen sich die alten Herren bedeutsame Blicke zu. Ihre Gesichter spiegelten dabei die unterschiedlichsten Gefühlsregungen wider: eine Mischung aus Neugierde und Staunen auf der einen Seite, Schrecken auf der anderen.

»Dachte ich mir’s doch …«, setzte einer der Herren schließlich an, wurde jedoch mitten im Satz unterbrochen, als sich ein schwerer Arm kameradschaftlich um meine Schultern legte und mich ohne weitere Erklärungen abführte. Der Arm gehörte Hanns Oheim, meinem damaligem Kompaniefeldwebel, der trotz seiner vom Alkohol angeheiterten Laune meine Bedrängnis erkannt hatte und zu meiner Rettung geeilt war.

Als ich ihn fragte, was es mit der seltsamen Riege auf sich habe, versicherte er mir, dass ich mir um den Kameradenkreis keine Gedanken machen müsse. Ich hätte doch gesehen, dass sie allesamt sehr betagt und tatterig seien.

»Naja, tattrig«, sagte ich und rieb mein Kinn, das gerade noch in einem Schraubstock gesteckt hatte, doch Oheim bestand darauf, dass sich das Problem über kurz oder lang von selbst lösen würde. »Und bis es so weit ist«, fügte er abschließend hinzu, »halte Dich einfach von ihnen fern«, ein Rat, den ich bis heute beherzigt habe. Ich bin nicht ihr erklärter Gegner, ich ignoriere sie einfach nur und gehe ihnen aus dem Weg.

Als Eliot fragte, woran ich gerade dachte, schüttelte ich den Kopf und erinnerte ihn daran, dass er mir erzählen wollte, wie Oberstleutnant Pragen zu tief in den Ameisenhaufen gestochen hatte. Er lachte kurz und begann dann mit einem langgezogenen »also« zu erzählen.

Man hatte Oberstleutnant Pragen gebeten, etwas zu dem Abendprogramm beizutragen. Die Bitte kam spontan, aber da sich der Oberstleutnant nur ungern überraschen ließ, traf sie ihn nicht unvorbereitet. Im Gegenteil, er hatte den ganzen Abend über brennend auf eine Gelegenheit gewartet, den Verein ein wenig in seiner Selbstgefälligkeit aufzurütteln, und die Bitte um eine kleine Ansprache kam ihm da gerade recht. Er spielte jedoch den Überraschten und ließ sich unter lautem Beifall und ermutigenden Blicken auf die Bühne rufen, wo er schließlich unter dem Vorwand, kein guter Redner zu sein, einen kleinen Gedichtband zückte, um daraus vorzulesen: Wohin laufen wir, wenn die Bomben fallen? Dieses Manifest gegen die von den Kameraden gepflegte Kultur des Vergessens, Bagatellisierens und Verdrehens hatte einen tiefen Keil in die bis dahin einmütige Versammlung getrieben, sodass sich in dem kameradschaftlichen Konsens plötzlich eine Trennlinie zwischen Anschein und Wahrhaftigkeit hatte erahnen lassen. Der eiserne Schulterschluss wurde brüchig und schweigende Stimmen wurden laut. Dieser Moment der Uneinigkeit war jedoch nicht von langer Dauer und auf ein kurzes Raunen, Köpfeschütteln und Blickefeilschen folgte eisernes Schweigen. Wie eine Armee, die in einen Hinterhalt geraten war, aber nach ein paar Kommandos schnell wieder zu einer geschlossenen Formation und gegenseitiger Rückendeckung zurückfand.

Als der Oberstleutnant von der Bühne getreten war, hatte nur eine Person Beifall gespendet und Eliots Aussage zufolge, hatte sein einsamer Applaus lauter geklungen als der Beifall der Kameraden, unter dem Pragen die Bühne betreten hatte. Auf jeden Fall sei er aufrichtiger gewesen, versicherte mir Eliot.

Die Versammlung war danach etwas verhaltener fortgesetzt worden und hatte sich schließlich vorzeitig aufgelöst. Eliot wusste nicht, wie es am nächsten Tag weitergehen sollte, erwartete jedoch, dass die Kameraden die Nacht nutzen würden, um sich neu zu formieren und zu einem Gegenschlag auszuholen. Auf meine Frage, wie ein solcher Gegenschlag aussehen könnte, seufzte Eliot und gestand, dass für ihn persönlich die schlimmste Strafe darin bestünde, denselben alten Bergsteiger als Tischnachbarn zu haben, neben dem er heute gesessen hatte. Der ehemalige Truppengeneral und Vorsitzende des Ältestenrates des Kameradenkreises habe seine Rolle als ranghöherer Offizier und Gastgeber ausgenutzt, um die ihm untergebenen Gäste stundenlang mit offensichtlich übertriebenen und bestenfalls halbwahren Bergsteigeranekdoten zu quälen.

Ich musste lachen, da mir dieser Menschenschlag aus eigenen ähnlich qualvollen Erfahrungen bekannt war. Ich erklärte, dass Seemannsgarn in Berghütten und auf Gebirgstruppenfeiern genauso eifrig gesponnen würde, wie man es Hafenspelunken nachzusagen pflegte. Vermutlich sogar etwas dicker und länger als das seemännische Original. Eliot stimmte in mein Lachen ein und ging schließlich voran Richtung Hotel.

Ich folgte ihm schweigend. Ich fühlte, dass er nicht zur Gesprächigkeit neigte. Das machte ihn mir umso sympathischer, und obwohl wir den Rest des Weges schweigend zurücklegten, hatte ich das Gefühl, dass wir unsere Unterhaltung fortsetzten. Ich verstand nun seinen ersten, skeptischen Blick auf das Edelweißemblem an meiner Uniform und sein anfängliches Misstrauen, als ich behauptet hatte, den Grund für seine Anwesenheit nicht zu kennen, und hoffte, dass ich seine Skepsis und sein Misstrauen hatte zerstreuen können. Außerdem glaubte ich nachvollziehen zu können, wie sehr der zurückliegende Tag an seinen Nerven gezerrt hatte und wie dankbar er war, dass alles, worum er sich im Moment zu kümmern hatte, eine Tüte war, die er in den Wind halten musste, ohne dass sie weggeweht wurde.

Auch wenn ich am liebsten einfach immer weiter gelaufen wäre, erreichten wir schließlich die Mauer, hinter der unser Hotel lag. Dieses Mal kletterte ich als Erster nach oben und half Eliot, der nur eine Hand frei hatte.

»Und jetzt?«, fragte ich, nachdem wir beide auf der Mauer Fuß gefasst hatten. Eliot sah sich suchend um. Das Licht der Parkplatzlaternen erreichte die Mauer nur schwach, reichte jedoch aus, um einen breiten Riss zwischen den Steinplatten zu erkennen, die den Abschluss der Mauer bildeten. Als Eliot den Riss entdeckte, machte er sich sofort daran, den Stock dort wie einen Fahnenmast zu befestigen. Da der Riss jedoch nicht tief genug war, um dem Stab genügend Stabilität zu verleihen, sprang ich von der Mauer und reichte Eliot ein paar Steine nach oben, mit denen er einen Sockel bauen konnte. Als unser Fahnenmast schließlich stark genug war, um dem Wind zu trotzen, sprang Eliot zu mir herunter und betrachtete zufrieden unser Werk.

»Und jetzt?«, fragte er nach einem kurzen Moment des Schweigens. Ich war erleichtert, dass er das fragte, wusste allerdings keine Antwort. Ich wusste nur, dass mir nicht danach war, mich mit meinen Berichtsmappen auf meine Stube zu verziehen. Deswegen ließ ich die Berichte unerwähnt und schlug stattdessen vor, noch eine Tasse Tee zu trinken und zeigte auf eine schwarze Aufstelltafel direkt neben dem Eingang. Die Schrift war auf die Entfernung nicht zu entziffern, aber die mit Kreide gezeichnete Tasse, dampfte verheißungsvoll.

»Tee?« Eliot lachte und gestand, dass er seit seinem letzten Landheimaufenthalt keinen Tee mehr getrunken habe. Selbst die Angebote seines Dienststellenleiters, eines passionierten Teetrinkers, schlage er regelmäßig aus.

Ich steckte in der Bredouille. Wenn er sich selbst von der Person, die er so sehr bewunderte, nicht zum Tee überreden ließ, wie sollte mir das dann gelingen? Deswegen versuchte ich, sein Interesse für das zu wecken, was mich an dem Getränk faszinierte. Die Teekunst sei eine der wenigen alchemistischen Schulen, die in unserer schnelllebigen Zeit noch Bestand hätten, erklärte ich ihm. Ein einfaches Getränk aus Feuer, Wasser und Erde und doch könne dabei so viel schiefgehen, wenn man den rechten Augenblick zwischen Feuer und Wasser versäumte oder sich beim Verhältnis von Wasser und Erde vertat. Eliot lachte wieder. Entweder verstand er kein Wort von dem, was ich vor mich hin stotterte, oder er nahm mich nicht ernst. Vielleicht auch beides, aber sein Lachen klang freundlich und ging schließlich in ein entschlossenes Kopfnicken über: “Okay”, sagte er und ging voraus.

Ich folgte mit einigem Abstand und las im Vorbeigehen meinen Rucksack auf, den ich auf dem Parkplatz zurückgelassen hatte. Als ich endlich die Treppe erreichte, winkte mir Eliot bereits ungeduldig zu. Er war die auf der Tafel ausgelisteten Teesorten bereits durchgegangen und konnte sich nicht entscheiden. Ich sagte ihm, dass wir das auch drinnen noch entscheiden konnten und schob ihn schnell durch die Tür ins Innere des Hotels. Meine plötzliche Eile hatte einen guten Grund, denn als ich mich ein letztes Mal nach der Wetterfahne umgedreht hatte, war die Tüte verschwunden gewesen, obwohl der Stock noch immer in dem Sockel steckte, den wir für ihn gebaut hatten.

Die Stube, die als Speisesaal diente, war urig eingerichtet und wurde von einem großen Kachelofen beheizt, um den herum Bänke ohne Lehnen aufgestellt waren, damit man sich den Rücken an den Kacheln wärmen konnte. Eliot entschied sich jedoch lieber für einen Tisch am Fenster, das glücklicherweise nicht zum Parkplatz, sondern auf die Straße hinaus zeigte, legte seine Jacke und seine Krawatte ab und lockerte seinen Hemdkragen.

Ich machte es mir ebenfalls bequem und setzte mich ihm gegenüber. Während wir warteten – zuerst auf den Kellner und dann auf unseren Tee –, sprach keiner von uns ein Wort. Eliot war ganz nah an die große Fensterscheibe gerückt, um auf die Straße hinausschauen zu können, während ich lieber die schillernden Spiegelungen der Kristallleuchter im Fensterglas betrachtete. Wir hatten das Hotelrestaurant ganz für uns alleine und da keine Musik gespielt wurde, herrschte vollkommene Stille, bis der Kellner schließlich mit einem großen Tablett an unseren Tisch trat, auf dem sich neben unseren zwei Teekännchen auch eine Platte mit verschiedenen Kuchenstücken befand. Wir hatten keinen Kuchen bestellt, aber das Restaurant hatte die Gewohnheit, die Überbleibsel des Tages an späte Gäste zu verschenken. Ich wollte keinen Kuchen, woraufhin Eliot fragte, ob er meinen haben dürfe. Der Kellner machte eine einladende Geste. Als sich Eliot jedoch nicht entscheiden konnte, stellte der Kellner schließlich von jeder Kuchensorte ein Stück vor Eliot ab und legte mir ebenfalls eine Kuchengabel hin, damit ich ihm gegebenenfalls zur Hilfe kommen konnte.

Ich nutzte die Zeit, die Eliot mit der Entscheidung zubrachte, welches Kuchenstück er zuerst essen sollte, um ihn zu beobachten. Ich versuchte noch immer, zu verstehen, warum er mir so vertraut vorkam, obwohl wir uns gerade erst kennengelernt hatten. Es war wie bei einer seltenen Pflanze, die man zum ersten Mal in natura zu sehen bekam, nachdem man sie zuvor bereits unzählige Male als Bleistiftzeichnung in einem Botanikführer betrachtet hatte. Wenn man dann schließlich zum ersten Mal vor einem lebendigen Exemplar stand, wusste man schon alles und doch war alles neu. Man kannte sämtliche Eigenschaften der Pflanze aus dem Lexikon, von ihren klimatischen Vorlieben über ihre Blütenstände bis hin zu ihrer Bedeutung in der Mythologie. Vielleicht konnte man sich sogar an den lateinischen Namen wie zum Beispiel Leontopodium alpinum erinnern, aber dennoch war alles, was man sah, roch und fühlte, neu: die Farbe und Form der jungen Knospen, der Duft der Blüten oder im Falle des Leontopodium alpinum das Kribbeln in den Fingerspitzen, wenn man über die dichte Wollschicht strich, mit der sich die Blume vor Kälte, Wind und Strahlung schützte.

»Womit soll ich anfangen?«, fragte Eliot, während er hilflos auf die drei Teller vor ihm starrte. Ich versuchte, ihm bei seiner schwierigen Entscheidungsfindung behilflich zu sein, indem ich reihum von jedem Kuchen ein Stück probierte und befand, dass sie alle gut schmeckten und er sie deswegen einfach in alphabetischer Reihenfolge essen sollte oder von links nach rechts.

»Alphabetisch?«, fragte er: »Von links nach rechts? Aus Deiner Sicht oder aus meiner?« Er schaute ratlos hin und her. Erst als ich erneut damit anfing, mir von jedem Kuchen ein Stück zu nehmen, kürzte er sein Auswahlverfahren aus Angst, zu kurz zu kommen, ab und begann mit dem Stück, das fast nur aus Sahne bestand.

Der Kuchen schien Eliots Laune schlagartig aufzuhellen. Anstatt über seiner Begegnung mit dem Kameradenkreis zu brüten, fragte er mich über meine Pläne für den nächsten Tag aus und erzählte mir ein paar lustige Anekdoten aus seiner Dienststelle, in deren Keller es, wie ich in aller Ausführlichkeit erfahren sollte, einen Getränkeautomaten gab, der zwei Funktionen hatte. Zum einen konnte er Becher ausgeben und zum anderen konnte er aus einer Vielzahl verschiedener Düsen Flüssigkeiten wie Suppe, Kaffee oder Limonade auslassen. Die ursprüngliche Idee hinter dem Automaten war wohl gewesen, dass er die Flüssigkeiten jeweils in einen Becher füllen sollte, doch leider setzte er diese Idee nur sporadisch in die Tat um. Manchmal spuckte der Automat auch nur einen Becher ohne Inhalt aus. Ärgerlich. Und manchmal auch nur den Inhalt ohne Becher. Ein Fiasko.

Der Hausmeister war sich des Problems bewusst und stellte immer ein paar Becher für Notfälle bereit. Außerdem hatte er eine Auffangwanne für Flüssigkeiten unter den Automaten gestellt. Diese Vorkehrungen lösten das Problem jedoch keineswegs, denn es war fast unmöglich, die Becher in den Flüssigkeitsstrahl zu halten, ohne sich dabei zu verkleckern, was bei heißen Getränken wie Kaffee und Suppe schmerzhaft und bei süßen Getränken wie Limonade und Apfelsaft eklig werden konnte. Obwohl der Hausmeister mehrmals am Tag um den Automaten herum wischte, war der Boden in einem Umkreis von fünf Metern klebrig, weil die Auffangwanne immer wieder überlief.

Die meisten Geschichten, die Eliot mir erzählte, drehten sich um den Automaten, und ich bedauerte, dass ich nichts Derartiges zum Besten geben konnte, da der Automat im Offizierskasino abgesehen von den Getränkekartons mit Milch und Kakao nur Getränke in Dosen anbot. Das funktionierte eigentlich immer.

Während Eliot erzählte, strich er sich immer wieder seine Haare zurück oder schaute zwischen seinen langen Ponysträhnen hervor. Ich hielt die Stimmung für ausgelassen genug, um ihn darauf ansprechen zu können, ohne dabei den Anschein zu erwecken, ihn maßregeln zu wollen. Ich kam jedoch nicht dazu, meine Gedanken laut werden zu lassen, weil er sie bereits aufgrund meines Blicks auf seine störrischen Haarfransen erraten hatte. Er deutete auf seine Haare und erklärte, dass Oberstleutnant Pragen es in seiner Dienststelle mit den Haarvorschriften etwas lockerer halte, damit seine Agenten bei zivilen Einsätzen auch einen zivilen oder vielmehr zivilisierten Eindruck machten. Eliot brüstete sich damit, dass er diese Freiheit bis zum Maximum ausschöpfte, und vermutete darin einen der Gründe dafür, dass Pragen ihn zu seinem Schriftführer für das Kameradentreffen auserkoren hatte. Er hatte Eliots für einen Soldaten unerlaubt langes Haar als Teil seiner Provokation gegen die konservative Front benutzt.

Eliot schaute mich eindringlich an und fragte, welche Entschuldigung ich für meine langen Haare vorzubringen hätte. Ich hatte keine. Aber meine Haare waren nicht so lang, dass sie sich nicht mit zwei Handgriffen hätten hinter meinen Ohren verbergen lassen. Da ich ohnehin die meiste Zeit eine Mütze oder einen Helm trug, kam das bei mir nicht so sehr zum Tragen. Eliot nickte und nahm sich den nächsten Kuchen vor. Ich half wie schon beim Stück zuvor tüchtig mit.

Es gab neben der Haarlänge jedoch noch eine weitere Sache, die bei mir für Erklärungsbedarf sorgte: seine präzise Voraussagen bezüglich des Winds zwischen den Hügeln. Es wunderte mich, dass jemand mit solchen Fähigkeiten, sein Talent verschwendete, indem er als Lakai des Ministeriums arbeitete. Ich hatte ihm damit meine Anerkennung aussprechen wollen, aber er fasste es als Beleidigung auf und fragte etwas säuerlich zurück, ob ich mir ernsthaft einbildete, kein Lakai des Ministeriums zu sein. Ich erklärte, dass ich jedenfalls nicht das Gefühl hätte, meinen Sinn für Gut und Böse an ein Büro in Bonn abgegeben zu haben.

Mit gespieltem Bedauern erklärte Eliot, dass es ihm leidtue, dass nicht alle Einheiten der Bundeswehr mit den Freiheiten und dem Luxus meines Trachtenvereins gesegnet seien: Dienst in einem idyllischen Urlaubsparadies und stets ein reines Gewissen. Mit diesen Worten deutete er auf ein Werbeplakat für eine österreichische Kräuterlimonade, das hinter dem Tresen hing. Es zeigte zwei Bergsteiger vor einem träumerischen Alpenpanorama, eine Frau im Dirndl und einen Mann in Kniebundhosen, die vom Schnitt her meinen glichen. Meine Hosen waren allerdings nicht aus weichem Leder, sondern aus robustem Wetterstoff. Sie wurden mit Plastikknöpfen statt Stiften aus geschnitztem Horn zusammengehalten und hatten statt Blumenstickereien geräumige Taschen an den Seiten. Ich verzog das Gesicht und fühlte mich genötigt, ihm den Unterschied zwischen einer Tracht und der Felduniform der für den Gebirgskampf ausgebildeten Einheiten der Infanterie zu erklären.

Außerdem versuchte ich, das Ansehen meiner Einheit zu verteidigen, indem ich der auf dem Werbeplakat dargestellten Bergromantik unseren weit weniger romantischen Alltag entgegensetzte. In den Bergen arbeiteten sämtliche Kräfte und Elemente des Planeten beständig gegen uns: das unwegsame Gelände, das raue Klima und nicht zuletzt die Schwerkraft. Im Winter konnten wir vor Kälte unsere Finger und Zehen nicht mehr fühlen, im Sommer blätterte uns die von der Sonne verbrannte Haut vom Gesicht. Kein Weg war jemals leicht. Beim Überqueren einer Schlucht oder beim Erklimmen einer Wand konnte jeder Fehler tödlich enden. Ein paar gebrochene Knochen galten noch als glimpflich, denn die Natur verlangte von jedem alles. Sie machte keinen Unterschied zwischen erfahrenen Soldaten, ehrgeizigen Kadetten oder zwangsrekrutierten Wehrdienstleistenden, die per Bundesgesetz direkt von der Schulbank an unseren Standort zitiert wurden und nur Blödsinn im Kopf hatten.

Genau das sei der springende Punkt, hakte Eliot an dieser Stelle ein. Die Gebirgstruppe bestehe nun einmal hauptsächlich aus Wehrpflichtigen, die auf Staatskosten in Wander-, Ski- und Kletterurlaub geschickt wurden und allenfalls für den Einsatz in Schneeballschlachten taugten.

Es ärgerte mich, dass er die Tauglichkeit der Gebirgstruppe an dem hohen Prozentsatz an Wehrpflichtigen festmachen wollte, zumal es nicht in unserer Macht stand, auf die durch die Bonner Bürokraten diktierte Personalpolitik Einfluss zu nehmen.

Eliot war da anderer Meinung und ging sogar so weit, es allein unserer schlechten Eigenpromotion zuzuschreiben, dass die Gebirgstruppe als Stiefkind der Infanterie behandelt wurde, wenn es um die Vergabe von Dienstposten ging. Es fehle uns nun mal an Freiwilligen, und dies zu ändern, sei nicht die Sache der Bürokraten, sondern des Standorts. Urlaubsparadies hin oder her, man müsse den Leuten schon ein bisschen mehr bieten als ein verschlafenes Bergdörfchen. Er zeigte erneut auf das Werbeplakat mit dem idyllischen Bergpanorama.

Er schien mich ärgern zu wollen und hatte mich fast so weit, dass ich ihm eine gute Nacht wünschte und mich zusammen mit meinen Berichten auf mein Zimmer verzog. Das hätte ich an jedem anderen Abend und bei jeder anderen Person auch getan. Doch an diesem Abend und bei dieser Person sagte ich weder gute Nacht noch verzog ich mich irgendwohin. Ich wollte lieber mit ihm weiterstreiten und fragte deswegen ein wenig pampig nach, welchen Standort er uns empfehlen konnte, damit uns die gleiche finanzielle Aufmerksamkeit zuteil würde wie seiner Dienststelle. München etwa? Es gab dort zwar keine Gebirge, aber unter Umständen ließen sich die Sandsteinbauten der alten Museen als Kletterwände nutzen. Wenn ein Umzug in die bayerische Landeshauptstadt das Prestige der Gebirgstruppe fördern konnte und uns zu den besseren Menschen machte, für die sich andere Einheiten dank ihres privilegierten Standorts bereits hielten, musste jede Möglichkeit in Betracht gezogen werden.

Eliot lachte laut und fragte, wo bei mir in diesem Fall der Zynismus endete und die Ironie begann, ob ich ihn am Ende für einen schlechten Menschen hielt.

»Vielleicht«, sagte ich und schaute ihn eindringend an: »Ich könnte über jeden Soldaten, mit dem ich heute Abend hier einquartiert habe, sagen, wie er seine beruflichen Fähigkeiten nutzt, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Sie arbeiten ehrenamtlich als Bergretter, tragen zum Erhalt gefährdeter Pflanzen und Tiere der Alpen bei und helfen der Kurverwaltung unseres Standorts Klettersteige zu bauen, Wanderrouten zu sichern und den verheerenden Wirkungen von Unwettern entgegenzuwirken. Nenne mir eine glanzvolle Leistung Deiner Dienststelle.«

»Wie wäre es mit dem heutigen Abend? Wir schauen den bösen Buben auf die Finger.«

»Was bringt es, wenn der Beelzebub dem Teufel auf die Finger schaut?«

»Wieso redest Du, als ob wir Teufel wären?«

»Hätte denn jeder Angst vor Euch, wenn ihr Heilige wärt?«

»Manche fürchten den Heiligen Nikolaus. Kommt ganz darauf an, was über sie in seinem goldenen Buch geschrieben steht.«

»Ich frage mich eher, wer die Dinge in das goldene Buch hineingeschrieben hat.«

»Eigentlich ist das goldene Buch die Verfassung. Wir schreiben nichts hinein, wir lesen nur daraus und handeln danach.«

»Handeln? Du meinst die Rute und den Sack? Das ist doch Terror. Würde ein wahrhaft guter Mensch so etwas tun?«

»Würde ein wahrhaft schlechter Mensch, seinen Kuchen mit Dir teilen?« Eliot zeigte mit einer einladenden Geste auf die Teller vor sich. Ich nahm ein Stück und sah ein, dass wir alle keine Engel waren. Eliot lächelte und fügte hinzu, dass wir aber ebenfalls keine Teufel waren.

»Nimmst Du das mit dem Trachtenverein zurück?«, fragte ich, um einen Schlussstrich unter unseren Streit zu ziehen.

»Wenn Du das mit dem Terror zurücknimmst«, erwiderte er. Sein Ton war immer noch ein wenig bissig.

»Hm«, machte ich und überlegte.

»Tu nicht so, als stünde uns nicht allen das Wasser bis zum Hals.«

»Vielleicht«, sagte ich: »Aber je höher man die Nase trägt, desto später schneidet einem das Wasser die Luft ab.«

Eliot machte ein verdutztes Gesicht und zeigte mit der Kuchengabel auf seine Nase: »Die hier?« Er sah dabei so albern aus, dass ich laut loslachen musste. Unser Streit hatte seine Ernsthaftigkeit verloren und schließlich lachten wir beide.

An dieser Stelle hörten wir draußen in der Halle verhaltene Stimmen und Stiefel, die sich Mühe gaben, leise auf den Holzdielen aufzusetzen. Es gelang ihn nicht wirklich und das Gewicht ihrer Träger ließ die Dielen knarzen und quieken.

Eliot schaute mich an: »Deine Leute?« Ich nickte und schaute auf die Uhr. Ich war froh, dass sie es nicht übertrieben hatten, sondern zeitig zurückgekehrt waren. Die zwei Bonner Offiziere machten mich nervös und ich wollte nicht, dass sie uns von unserer schlechtesten Seite erlebten. Das würde die Dinge nur verkomplizieren. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht, dass nur ein Teil der Nachtschwärmer zurückgekehrt war und der andere Teil gerade dabei war, für ein Höchstmaß an Komplikationen zu sorgen.

»Warum warst Du nicht mit ihnen unterwegs?« Eliots Frage klang so forschend, dass ich mich ertappt fühlte. Ertappt in meiner Eigenbrötelei und in meinem Unvermögen, mich gemeinsam mit anderen Menschen zu amüsieren. Die beiden Ausreden, die ich mir Falk gegenüber zurechtgelegt hatte, funktionierten bei Eliot nicht. Ich konnte ihm weder etwas von dringenden Berichten erzählen, noch konnte ich behaupten, dass mich ein Lakai des Ministeriums in ein Gespräch verwickelt hatte, das ich nicht hatte abbrechen können, ohne unhöflich zu erscheinen oder mich verdächtig zu machen. »Nicht mein Ding«, gab ich deswegen schließlich zu.

»Was?«, fragte Eliot sofort nach.

Ich zuckte mit den Schultern: »Alles. In Kneipen abhängen, Blödsinn reden, Bier trinken und mich verkuppeln lassen.«

Eliot lachte bitter: »Da teilen wir uns ein Schicksal. Auch meine Freunde sind sehr um mein Liebesleben besorgt. Es würde ihnen jedoch nicht einfallen, mich zu verkuppeln. Sie versuchen eher, mich vor der nächsten Katastrophe zu bewahren.« Auf meinen nachforschenden Blick hin zuckte er jedoch nur mit den Mundwinkeln und winkte dann ab. Er wollte nicht darüber reden und bereute es offenbar, das Thema überhaupt aufgebracht zu haben. Er schwieg, doch ich spürte unter dem Schweigen eine tiefe Wunde.

»Oder die Geschichte vom eisernen Heinrich«, sagte ich und schaute ihn ernsthaft an.

Eliot erwiderte meinen Blick und nickte langsam: »Wenn es so einfach wäre. Wenn man sein Herz einfach mit Eisenbändern zusammenhalten könnte.«

»Vielleicht waren die Bänder nicht aus Eisen«, schlug ich vor.

»Aus was waren sie dann?«

»Vielleicht aus Schweigen«, überlegte ich weiter: »Oder aus Zucker.« Ich schob das letzte Kuchenstück näher zu ihm hin.

»Vielleicht auch beides«, sagte er, während er die Gabel nachdenklich in den Kuchen stach. »Aber es waren drei Bänder. Aus was war das dritte?«

»Vielleicht–«, setzte ich an, aber Eliot legte den Finger auf seine Lippen und befahl mir, still zu sein. Auf meinen überraschten Blick hin erklärte er, dass wir besser nicht über Liebe und Kummer sprechen sollten. Solche Themen nagten an der Seele und verletzte Seelen zogen Kobolde und böse Geister an. Das hatte ihm seine Großmutter beigebracht.

»Lass uns über etwas Lustigeres reden«, sagte er und ließ dabei seine Finger vor seinem Gesicht auf und ab tanzen, als ob er auf einem unsichtbaren Klavier spielen würde.

»Gut, dann lass uns über Geister reden«, sagte ich. Eliot sah mich fragend an.

»Du glaubst an Geister?«, fragte ich. Das tue er nicht, antwortete er prompt, aber er respektiere sie. Er bestand darauf, dass dies nicht dasselbe sei.

Ich bezweifelte jedoch, dass man einer Sache Respekt zollen könne, die man nicht für real halte.

Er gab zu, ein Talent für diese Art Widersprüchlichkeiten zu besitzen. Auch ohne an die Hölle zu glauben, sei er davon überzeugt, sie verdient zu haben, und obwohl die Bibel für ihn nichts weiter war als eine Überlieferung antiker Fantasterei, würde er niemals einen Meineid darauf schwören. Seine Ehrfurcht vor dem Übernatürlichen entspringe zum einen einer gesunden Vorsicht gegenüber allem Unerklärlichen, zum anderen den Gruselgeschichten seiner Großmutter. Er habe in seinem Leben allerdings keine Religion lange genug ausgeübt, um zu einem Glauben finden zu können, fügte er schließlich bedauernd hinzu.

Ich fragte ihn, welche Religionen er denn ausprobiert habe.

Seine Mutter sei Katholikin gewesen, habe aber leider sein viertes Lebensjahr nicht mehr erlebt. Mit ihr starben auch die Geschichten über Propheten, die Löwen bändigten oder in einem Wal den Ozean überquerten. Seine Großmutter, von der er daraufhin großgezogen wurde, habe eine mehr diesseitige und pragmatische Einstellung zur Religion gehabt und ihn zum Schutz vor bösen Geistern von Shintopriestern mit Papierwedeln läutern lassen und sein Schlafzimmer mit Glücksbringern tapeziert. Diese Unmittelbarkeit hatte ihm besser eingeleuchtet als die doch bisweilen etwas befremdlichen Bibelgeschichten seiner Mutter. Sein Vater, der ihn später zu sich genommen hatte, war Mediziner und Wissenschaftler gewesen. Die abgeklärte Rationalität seines Vaters habe ihn allerdings nie erreicht und nun bete und hoffe er nach den Regeln der Dienstvorschrift.

Ich war beeindruckt. Er war weit gereist, vom Christentum und Shintoismus über die Wissenschaft zum Militärkatechismus.

Keine der Methoden habe es jedoch vermocht, seine Zweifel oder seine Trauer zu heilen, schloss Eliot den Rundgang durch die Religionen seiner Welt. Als ich sein unglückliches Gesicht sah, legte ich meinen Finger auf die Lippen, schaute flüchtig nach links und rechts und flüsterte: »Kummer zieht Kobolde und böse Geister an.«

»Machst Du Dich lustig über mich?«, fragte Eliot. Es lag jedoch keine Empörung oder Skepsis in seiner Stimme. Deswegen schüttelte ich einfach nur den Kopf und pickte mit dem Finger ein paar Kuchenkrümel von seinem Teller.

Wir blieben danach bei unverfänglicheren und umgänglicheren Themen fernab von Beruf und Kummer. Wir streiften noch einmal kurz die Liebe, um herauszufinden, dass ich im Gegensatz zu ihm damit keine Erfahrungen hatte, und noch einmal kurz die Religionen, um herauszufinden, dass ich im Gegensatz zu ihm Religionen nur aus dem Ethikunterricht kannte und die Dienstvorschrift die einzige heilige Schrift war, mit der ich näher vertraut war.

Es wurde früher spät, als ich es mir gewünscht hätte. Kurz vor Mitternacht trat der Kellner an unseren Tisch, um mir meinen Schlüssel zu geben, da die Rezeption nun nur noch per Nachtglocke erreichbar war. Als wir hastig aufspringen wollten, bat er uns mit einer beruhigenden Geste, so lange sitzen zu bleiben, wie wir wollten. Er zeigte auf einen Ständer mit Süßigkeiten und einen Kühlschrank voller Getränke. Falls wir noch etwas brauchten, sollten wir uns selbst bedienen. Er würde es am nächsten Morgen abrechnen. Wir sollten nur das Licht ausmachen, wenn wir den Raum verließen. Mit diesen Worten wünschte er uns eine gute Nacht und ließ uns allein.

Eliot und ich schauten uns eine Weile schweigend an, bevor wir unsere Blicke voneinander abwandten und jeder seinen eigenen Gedanken nachhing, wobei ich mich bei jedem zweiten Gedanken fragte, was er gerade dachte. Ob er sich an seine Mutter, seine Großmutter oder seinen Vater erinnerte. Ob er den nächsten Tag plante. Ob er den vergangenen Tag Revue passieren ließ. Oder ob er, wie er es sich früher am Abend gewünscht hatte, an gar nichts dachte. Ich fragte mich auch, ob das überhaupt ging, an nichts zu denken. Ich versuchte es mehrmals, kriegte es aber nicht hin. Die Ruhe tat allerdings gut. Ich hätte mir keinen besseren Ausklang des Tages wünschen können, als zusammen mit einem Freund zu schweigen.

Und zu diesem Zeitpunkt war ich mir jedenfalls sicher, dass Freundschaft das Mindeste war, was ich für ihn empfand. Hatten wir doch die wichtigsten Themen zwischen Himmel und Hölle diskutiert, uns zerstritten, wieder versöhnt und ganz nebenbei unsere Gesundheit mit Schokolade, Sahne und kandierten Früchten ruiniert. Ich fand, das verband.

Obwohl wir beide einen anstrengenden Tag vor uns hatten, blieben wir sitzen, bis wir eine Kirchturmglocke ein Uhr schlagen hörten. Ich nahm den Schlüssel in die Hand, den mir der Kellner hingelegt hatte, und las, was auf dem Anhänger stand. Ich hatte offenbar ein Dachzimmer. Das gefiel mir. Es klang nach Abgeschiedenheit.

Eliot holte seinen Schlüssel aus der Tasche und zeigte mir seinen Anhänger. Zweiter Stock. Ich nickte, bevor wir wie auf ein geheimes Kommando gleichzeitig aufstanden. Eliot nahm seine Jacke und seine Krawatte und ich meinen Rucksack. Nachdem wir das Licht gelöscht hatten, verließen wir den Speisesaal und Eliot rief den Aufzug.

Weder er noch ich sprachen ein Wort und dieses Mal drückte das Schweigen wie ein verkehrt gepackter Rucksack, weil ich das Gefühl hatte, dass etwas Wichtiges unausgesprochen blieb. Es lag jedoch außerhalb meiner Möglichkeiten, es auszusprechen.

Wir warteten auf den Aufzug, der seine Ankunft bereits leise polternd ankündigte, sich aber mächtig Zeit ließ. Es war ein altes Modell. Schweigsam beobachteten wir das Licht über dem Fahrstuhlknopf, das uns zu geduldigem Warten ermahnte. Als sich der Aufzug endlich mit einem Klingeln meldete und seine Türen einladend aufschob, stiegen wir ein. Wieder kein Wort, nur Nummern auf dem Ziffernblock der Wandarmatur. Eliot musste in die zweite Etage, ich noch zwei weiter. Unser Schweigen ging im Rumpeln der Fahrstuhlgondel unter. Mein Blick wanderte über den Boden und zählte die Dinge, bis wir den zweiten Stock erreichten. Erst als sich die Türen öffneten, sah ich auf. Eliot sah müde aus, als er mir noch einmal zulächelte und schließlich mit einem leisen Gute Nacht die Kabine verließ.

Dieser Moment brachte alles in mir durcheinander. Mit einem Mal hatte ich mehr Wünsche als jemals zuvor in meinem Leben, und obwohl ich keinen einzigen davon in einen klaren Gedanken fassen konnte, schien es mir, als müsste ich umkommen, wenn auch nur einer unerfüllt bliebe, als würde ich alles verlieren, wenn ich nicht sofort alles gewänne. Aufgewühlt blickte ich ihm nach, als er plötzlich kehrtmachte und den Fahrstuhl daran hinderte, seine Türen zu schließen und seine Fahrt fortzusetzen: »Ist träumen auch denken?«, fragte er.

»Ich denke schon«, erwiderte ich überrascht.

»Dann hast vielleicht Du recht und es wäre Verschwendung, alles zu sehen, aber nichts dabei zu denken und nichts davon zu begreifen, alles zu haben, aber nichts dabei zu empfinden.«

Als er einen Schritt zurücktrat, um die Tür freizugeben, trat ich einen Schritt nach vorn, um sie offenzuhalten. Da ich jedoch nichts sagte, stellte Eliot schließlich die erlösende Frage: »Sehen wir uns morgen zum Frühstück?«

Ich atmete erleichtert auf. Das drückende Gefühl war mit einem Mal verschwunden: »Halb sieben?«, fragte ich. Er nickte. Ich erwiderte das Nicken und trat zurück in die Fahrstuhlkabine.

Ich fühlte mich so beschwingt, dass ich mich nach einer kurzen Dusche tatsächlich an die Bearbeitung der Berichtsmappen setzte. Es waren nur zwanzig maschinengeschriebene Seiten, die ich durchzusehen hatte, aber da meine Gedanken an den vergangenen Abend und meine Freude auf den nächsten Morgen meinen Arbeitseifer überwogen, kam ich nur langsam voran und war gerade bei der Hälfte angekommen, als es an meiner Tür klopfte.

Der Rest der Geschichte braucht nicht in aller Ausführlichkeit erzählt zu werden, denn sie hat nichts mit Eliot zu tun und ich bin im Nachhinein froh, dass ich mich in jener Nacht nicht schlafen gelegt hatte. Es wäre eine Verschwendung guter Gefühle gewesen. Denn auch wenn ich nicht ernsthaft daran geglaubt hatte, dass mein fragiles Gerüst aus vagen Sehnsüchten und Träumen lange halten würde, zerfiel es eher als erwartet.

Der Hotelangestellte, der an meine Zimmertür geklopft hatte, entschuldigte sich für die späte Störung und fragte, ob die Rezeption einen Anruf von der Oberstdorfer Polizei durchstellen dürfe. Es gehe um die Personen Falk Theodor Kastl und Ferdinand Strefler. Seine Stimme klang abgehetzt, so als wäre er gerannt. Ich bat darum, den Anruf durchzustellen. Der Hotelangestellte machte auf dem Absatz kehrt und stürzte wieder nach unten. Ich nahm mein Notizbuch und einen Stift zur Hand, setzte mich neben das Telefon und machte mich auf das Schlimmste gefasst. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis das Telefon klingelte.

Die tiefe Stimme eines Polizisten konnte sich nicht recht entscheiden, ob sie mir einen guten Morgen oder eine gute Nacht wünschen sollte, hielt sich damit aber nicht lange auf, sondern reichte den Hörer weiter an Falk, der mich in seinem typischen ausladenden und lauten Erzählstil in die Ereignisse einweihte, die dazu geführt hatten, dass er auf der Oberstdorfer Polizeiwache saß und Strefler schwer mitgenommen im Kemptener Krankenhaus lag. Ich brummte mürrisch in den Telefonhörer, um Falks epische Ausschweifungen auf das Nötigste zu reduzieren und schaute nervös auf die Uhr, obwohl ich wusste, wie spät es war. Zu spät, denn es gab viel zu tun: Ich musste die Bergung des Wagens veranlassen, die Verlegung des Patienten in die Wege leiten und dafür Sorge tragen, dass die gesamte Angelegenheit in die Hände des Militärs übergeben wurde. Ich befürchtete, dass ich meine Verabredung nicht würde einhalten können.

Als ich nach vielen Telefonaten und ewiger Warterei am frühen Morgen des heutigen Tages im Kemptener Krankenhaus eintraf, um für eine zügige Verlegung nach München Sorge zu tragen, lag Strefler im Korsett einer Vakuummatratze auf dem Flur der Notaufnahme. Obwohl er wach war, wechselten wir kein Wort miteinander, weder über sein Befinden noch über den Zwischenfall. Er starrte zur Decke, während ich ein Formular nach dem anderen ausfüllte und zwischendurch Heidt telefonisch über die Lage informierte, der mich während unseres Gesprächs mehrmals daran erinnerte, mich um die Delegation aus Bonn zu kümmern. Ich versicherte ihm, dass ich alles unter Kontrolle hätte und es keinen Grund zur Panik gebe, legte auf und wartete auf den leitenden Arzt.

Ich kann mich an Krankenhäuser einfach nicht gewöhnen. Ständig versuchen sie, mich in eine Vergangenheit zurückzuholen, die ich einerseits gerne vergessen würde, aber andererseits wie meinen größten Schatz hüte. Es ist nicht alles schlecht gewesen. Es sind zwar Erinnerungen an Einsamkeit und Schmerz, aber es sind auch Erinnerungen an Tomo, der diese Einsamkeit durchbrochen und meine Schmerzen gelindert hat. Seinetwegen klammere ich mich an der Vergangenheit fest. Sie zu verlieren, würde bedeuten, alles zu verlieren, was mir von Tomo geblieben ist.

Die bedrohlich tickende Uhr über dem Stationszimmer lenkte mich jedoch von meiner Krankenhaus­aversion ab. Denn mit jeder verstreichenden Sekunde schwanden meine Chancen, vor der Ankunft der Bonner Prominenz noch einmal zu unserer Herberge zurückzukehren, um ihn dort wiederzusehen und mich persönlich bei ihm für die geplatzte Verabredung zu entschuldigen.

Die Zeit nahm jedoch keine Rücksicht auf meine für sie bedeutungslosen Wünsche. Mir wurde schlecht, als ich sah, wie der kleine Zeiger der riesigen Stationsuhr gemächlich Richtung Sieben kroch, während seine beiden Brüder hektisch die Minuten und Sekunden zählten. In einem rasanten Eiltempo drehten sie ihre endlosen Runden durch die mit römischen Ziffern in kleine Abschnitte unterteilte Arena: Zehn nach sieben, zwanzig nach sieben, fast halb acht, so als wäre nichts dabei. Ich konnte nur hoffen, dass wir die Verabredung nachholen würden, und musste mich sputen, um nicht auch noch mein Rendezvous mit den Bonner Offizieren zu verpassen.

Als ich am späten Abend zum Hotel zurückkehrte, um meine Ausrüstung abzuholen, erzählte man mir, die beiden Agenten seien direkt nach dem Frühstück nach Sonthofen aufgebrochen. Eine Nachricht war nicht für mich hinterlassen worden. Obwohl somit der Prolog geendet hatte, bevor die eigentliche Geschichte beginnen konnte, ist dieses Ereignis für mich der Anfang einer Liste und der Anfang meines Glaubens an Trost: Eliot, Oy miwuen hoalan haatohoalsong, haatomisong mian hoalwuen Yo.

~ Wilhelm Fenner

Freitag, 27. Sep. 1991
Bezugsdatum
Donnerstag, 26. Sep. 1991
Kapitel
1
Dateinummer
102