MAD-Büro

Gespeichert von eloroke am Di., 21.03.2023 - 21:20

 

Dreimal legte Heinrich seine rechte Hand auf das Lesefeld der biometrischen Türanlage und erntete drei von einem roten Flackern des Türrahmens begleitete Warntöne. Heinrich liebte die Technik, wenn sie funktionierte, und hasste sie, wenn sie dies nicht tat. Missmutig begab er sich zu dem neuen Gesicht am Empfangsschalter, legte seinen Dienstausweis vor, tippte seinen Geheimcode auf einem kleinen Tastaturfeld ein und bat um Einlass zur Kommissariatsetage des Münchner Ablegers des Militärischen Abschirmdienstes.

»Hauptfeldwebel Luv? Es tut mir leid, aber Sie haben keine Zugangsberechtigung für dieses Gebäude.« Zu dem neuen Gesicht gehörte eine freundliche Stimme. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fuhr der junge Mann in Zivil fort.

»Ja, das können Sie durchaus, ich muss kurz telefonieren.« Heinrich lehnte sich über den Tresen des Empfangsschalters, wählte eine hausinterne Nummer auf dem in die Tischplatte eingelassenen Telefon und lauschte ungeduldig in die Hörmuschel, die ihrerseits ein geduldiges und gleichmäßiges Tuten von sich gab.

»Lechter hier, aber um es gleich vorwegzunehmen: rien ne va plus. Es ist schon nach Dienstschluss.«

Erleichtert hörte Heinrich Jans Stimme.

»Jan, ich bin’s, Heinrich. Was ist los, warum wird mir der Zugang zum Gebäude verweigert?«

»Henri, was machst Du hier? Ich dachte, Du seist beurlaubt. Warte, ich überprüfe das.« Heinrich hörte Jan eifrig am Computer klicken, tippen und schließlich seufzen: »Henri, was hast Du angestellt? Deine Sicherheitskonzessionen wurden allesamt aufgehoben und harren einer Generalüberprüfung der Stufe drei.« Jan bestätigte Heinrichs ärgste Befürchtungen.

»Wer hat das veranlasst? Marcus?«

»Kann ich nicht ersehen.« Wieder hantierte Jan mit Tastatur und Maus: »Ich glaube eher, dass Köln Dich gesperrt hat. Marcus steht zurzeit selbst im Kreuzfeuer der Kölner Bürokraten. Er ist heute Nacht nach Köln abgereist, aber soweit ich informiert bin, wollte er Roth mit einer Nachricht zu Dir schicken. Habt Ihr Euch denn nicht getroffen?«

»Jan, Du musst mir was rausbringen.«

»Keine gute Idee.«

»Ich brauche mein Visum und die Koordinaten von der Brandruine in Lettland.«

»Die Lettlandinformationen sind unter Verschluss. Henri

»Vielleicht kannst Du mir außerdem alle Ergänzungen aus Wilhelms Akte kopieren.«

»Warte, ich komme runter.«

Ein Klicken in der Leitung beendete das Gespräch. Heinrich bedankte sich bei der freundlichen Stimme am Empfang und legte den Hörer zurück auf die Gabel, um an der elektronischen Türanlage auf Jan zu warten, der kurz darauf aus dem Fahrstuhl stolperte und durch die Sicherheitsschranke hastete.

»Henri

»Das ging viel zu schnell. Hast Du, worum ich Dich gebeten habe?«

»Henri, Du weißt, dass das nicht so einfach geht.«

»Ich verlange doch nur mein Visum und eine Kopie von Wilhelms Dokumenten.«

»Hör zu, das ist nicht Dein Visum, sondern ein Dienstvisum, und die Dokumente sind inzwischen mit Vertraulichkeitsstufe zwei klassifiziert. Marcus hat die gesamte Mappe rotgestempelt. Verstehst Du? Rot wie rouge!«

»Wilhelms Tourenbücher und Truppenberichte sind jetzt streng geheim? Das ist lächerlich.«

»Mag sein, aber Marcus ist jetzt der Einzige, der von Wilhelms Fallakte Kopien erstellen kann.«

»Weißt Du, wie viele Kopien von Wilhelms Tagebuch im Umlauf sind?«

»Trois. Oder mehr. Marcus hat von den Seiten, die er von mir bekommen hat, direkt eine Kopie angefertigt, und es würde mich wundern, wenn Köln nicht inzwischen auch mindestens ein Exemplar in den Händen hält. Station X hält die entschlüsselten Daten sicherlich auch vor, allerdings bezweifle ich, dass sie sich für deren Inhalt interessieren

»Hast Du das Tagebuch gelesen?«

»Nur vereinzelte Passagen. Ich musste den Text montieren. Aber ich glaube, Wilhelm mochte Dich.«

Heinrich sah Jan mit hochgezogenen Augenbrauen an, wobei er sich jedoch Mühe geben musste, nicht zu lachen.

»Station X hat den Fund bereits am Freitagmorgen gemeldet, aber da Köln auf einem Verschlusssachentransport beharrte, zog sich die Überführung der entschlüsselten Dokumente bis Samstag hin«, fing Jan, dem die Wirkung seiner Witzelei nicht entgangen war, zu plaudern an: »Das ist zwar im Grunde genommen recht zügig, hält aber in Anbetracht der Dringlichkeit der laufenden Ermittlungen nur auf. Deswegen zeigte sich Marcus über dieses Prozedere auch höchst unerfreut. In Köln ging das Theater dann jedoch weiter. Der Mikrofiche aus Bletchley wurde mit einer Inventarnummer versehen und in die Asservatenkammer eingelagert, sodass Marcus später einen langwierigen Antrag zur Einsichtnahme stellen musste, um die Daten endlich in die Hände zu bekommen. Kurzum: Wir konnten nicht vor Sonntagnachmittag mit der Sichtung des über eintausend Seiten starken Dokuments beginnen. Und das an einem freien Tag.«

»Tapfer.« Heinrichs wortkarge Anteilnahme kam von Herzen. »Wer war noch an der Aktion beteiligt

»Niemand. Ich war allein. Wie Du weißt, entbinden laut Marcus Frau und Kind, so es die Lage zulässt, von familienfeindlicher Sonntagsarbeit. Denkt aber auch nur einer daran, wie ich jemals zu Frau und Kind kommen soll, wenn ich weiterhin mitleidlos zu Sonderschichten eingeteilt werde?«

Heinrichs ernster Blick ermahnte Jan, bei der Sache zu bleiben.

»Nun gut«, seufzte Jan. »Marcus war am Sonntag zwar auch im Büro, hat sich aber nicht aktiv an der Sichtung beteiligt, sondern nur vereinzelte Berichte genauer unter die Lupe genommen und mich mit grünem Tee – tu sais que je le déteste – versorgt. Kaum hatte ich jedoch die Meldung über den Tagebuchfund durchgegeben, stand er auf der Matte, um die Seiten an sich zu nehmen und als geheim zu markieren, aber genug davon.« Jan nestelte ein kleines, braunes Päckchen aus der Innentasche seiner Jacke hervor und drückte es Heinrich in die Hand.

»Dein Visum und ein Navigationsgerät mit allen Lettland-Koordinaten. Offiziell sind die Daten auf dem Gerät bereits gelöscht, also drücke den Rücksetzknopf, sobald Du gefunden hast, wonach Du suchst.«

Heinrich, der schon nicht mehr mit Jans Hilfe gerechnet hatte, stand unverhofft reich beschenkt und sprachlos vor seinem Freund. Doch ließ dieser ihm ohnehin keine Gelegenheit zu Dankesbekundungen, sondern wartete nach einem Griff in die rechte Außentasche seiner Jacke mit einer weiteren Überraschung auf: »Ein paar Daten aus Wilhelms Akte, die nach einem Papierstau im Druckerzimmer ihrer Vernichtung harrten. Es ist nicht viel: Fingerabdrücke und die Zusammenfassung seines Kölner Portfolios.«

Dankbar nahm Heinrich das zusammengefaltete Papierbündel entgegen, hatte Jans Füllhorn damit aber noch nicht erschöpft: Jan griff erneut in seine Jacke. Dieses Mal war es die linke Außentasche: »Hier, das ist ganz frisch bei uns eingegangen.« Jan hielt Heinrich eine kleine Tonbandkassette unter die Nase: »Der linguistische Bericht über eine seltsame Textpassage am Ende von Wilhelms ersten Tagebucheintrag ist leider versiegelt, doch soviel kann ich Dir verraten: Weder Skarabäus noch die Experten werden daraus schlau. Letztere stellen zwar die Vermutung einer Zwillingssprache oder der Fantasieschrift eines Kindes mit einer Lese- und Schreibstörung in den Raum, doch widersprechen diese Annahmen der offenkundigen Sachlage. Wilhelm ist weder ein Zwillingskind noch hatte er Probleme mit der Rechtschreibung. Aber dieses Tonband hier ist vor ungefähr einer Stunde über einen von Marcus’ Schattenkanälen bei uns eingetroffen. Es ist eine Vertonung von Wilhelms Kauderwelsch: verschiedene Sprecher, verschiedene Sprachanlehnungen, verschiedene Variationen. Vier Minuten Tonmaterial.«

Heinrich wusste, dass er nun tiefer in Jans Schuld stand, als er mit Worten ausdrücken konnte. Deswegen nickte er nur, als er die Kassette einsteckte. Jan wusste Heinrichs Gestik und Mimik jedoch zu deuten und lachte verlegen, wie er es immer zu tun pflegte, wenn seine sentimentale Ader die Oberhand zu übernehmen drohte. Als sich Heinrich schließlich doch dazu durchrang, seinen Kameraden kurz in die Arme zu schließen, klopfte Jan seinem Freund fest auf den Rücken, bevor er die Umarmung abschüttelte und mit einem Zwinkern erst auf seinen Kopf und dann auf seine Brust zeigte. Heinrich verstand. Grips und Herz, darauf hatte Kajetan-Lewin Pragen immer größten Wert gelegt. Und Jan hatte von beidem reichlich.

»Weißt Du Genaueres über Marcus’ Reise nach Köln?«, fragte Heinrich.

»Nur dass er sie vielleicht nicht ganz freiwillig angetreten hat. Er schien über die Vorladung mehr verärgert, als überrascht

Obwohl er sich keinen Reim darauf machen konnte, was Köln von dem Oberstleutnant wollte, nickte Heinrich wieder. Seine Vermutungen, wenngleich nicht seine Fantasie, was diese dienstlichen Scherereien zu bedeuten hatten, waren für den heutigen Tag und bei aktueller Datenlage erschöpft. Deswegen fragte er nicht weiter nach, sondern verabschiedete sich von Jan in der Hoffnung, diesen am Abend vielleicht noch einmal treffen zu können: »Wir sehen uns heute Abend im Wohnheim?«

»Non, non, non. Wie gesagt, ich muss an meine Kinder denken. Deswegen habe ich heute Abend ein rendez-vous

Heinrich dachte kurz nach und schaute Jan schließlich mit offenem Mund an.

Jan nickte mit einem triumphierenden Lächeln auf den Lippen. Es war ein Triumph der Beharrlichkeit, das wusste Heinrich. Er musste jedoch gestehen, dass die Entwicklung von Jans Liebesleben während der letzten Wochen an ihm vorbeigegangen war. »Habe ich etwas verpasst?«, fragte er entschuldigend.

»Du warst ziemlich abwesend in letzter Zeit,« erwiderte Jan, aber er war zu stolz und glücklich, um nachtragend zu sein. »Écoutez-moi, mein Freund«, sagte er: »Wenn Du zurück bist, gehen wir mal wieder aus. Zu viert: Du, ich, ma petite amie et ton mari, le général.« Jan zwinkerte und Heinrich bemerkte, dass Jan ihn zum Lachen gebracht hatte.

Jan legte in einer fürsorglichen Geste seinen Arm um Heinrichs Schultern: »Geh nach Hause, Henri, und schau Dich im Spiegel an. Du brauchst Ruhe. In diesem Zustand kannst Du nicht viel reißen und Wilhelm wirst Du so auch nicht gefallen.«

Heinrich blickte überrascht auf.

»Er mag keine bärtigen Männer. Das habe ich in seinem Tagebuch gelesen«, erklärte Jan.

Heinrich griff nach seinem Kinn und fühlte einen Flaum. Seine letzte Rasur musste bereits mehr als einen Monat zurückliegen. Sein Bart wuchs zwar so dünn und spärlich, dass er über mehrere Wochen hinweg auch ohne Rasur dem täglichen Prüfblick von Kameraden und Vorgesetzten standhalten konnte, doch dieses Mal hatte er die Frist überschritten. »In Ordnung, ich werde mich rasieren«, sagte er: »Und Du vergisst alles, was Du in Wilhelms Tagebuch gelesen hast

»À votre command, mon sergent.« Jan reckte die Brust vor und legte die Finger seiner rechten Hand an die Stirn.

Nach seinem Besuch bei Jan hatte sich Heinrich eilends zum Flughafen begeben, um sich einen Nichtraucherplatz am Fenster eines frühen Vogels nach Lettland zu sichern, und war anschließend schnurstracks zum Feldwebelwohnheim gefahren, das nun wie ein gigantischer Koloss vor ihm aufragte und aus tausend Augen auf ihn herabglotzte. Eines der grell leuchtenden Augen des Allessehers war das Fenster seines eigenen Apartments. Er hatte vermutlich in der Woche zuvor vergessen, das Licht zu löschen.

Trotz des heimeligen Leuchtens des Fensters, wirkte der Gedanke in seine im Laufe der letzten zwei Jahre zur Notunterkunft verkommenen Einzimmerwohnung im Münchner Feldwebelwohnheim zurückzukehren, deprimierend. Er verbrachte dort in der Regel nicht mehr als vier Tage die Woche, manchmal fünf, und war jedes Mal froh, wenn er übers Wochenende in sein Zuhause in Mittenwald umsiedeln konnte, auch wenn dieses nach Wilhelms Verschwinden einen Teil seiner Seele verloren hatte. Das Einzige, was ihn in seiner Münchner Bleibe neben einer heißen Dusche und kalter Ingwerlimonade erwartete, waren sein Plattenspieler und Wilhelms Liebesschwüre im Staub der Fensterbank. Dem Zeck gefielen diese Aussichten. Die Aussicht auf das bevorstehende Festmahl aus Depression und Langeweile ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Heinrich presste seine Stirn an die kalte Fensterscheibe des Autos, um das gierige Insekt hinter seiner Stirn zum Schweigen zu bringen, bevor er im festen Glauben daran, dass Flucht oftmals eine bessere Option war, als man es ihr nachsagte, den Rückwärtsgang einlegte und ein Ziel fernab seiner Feldwebeleinsiedelei ansteuerte: die Bibliothek im Stadtzentrum.


 

Während sich Heinrich im anonymen Trubel der Großstadt genauso gut aufgehoben gefühlt hatte wie in der familiären Stimmung des Wohnheims, hatte sich Wilhelm mit keinem dieser beiden Orte je wirklich anfreunden können. Wilhelm mochte keine Menschen, oder jedenfalls nicht zu viele davon zur gleichen Zeit am gleichen Ort, weswegen ihm die Stille und Abgeschiedenheit hinter den dicken Mauern des Bibliotheksgebäudes und die rücksichtsvollen und distanzierten Umgangsformen, die man dort einzuhalten gemahnt war, entgegenkam.

Heinrich konnte sich nach einem anstrengenden Tag bei gutem Wetter mit seinen Kollegen auf eine Wiese legen und sich an deren albernen Geplauder ebenso erfreuen wie an dem Zirpen der Grillen, dem Zwitschern der Vögel und dem verheißungsvollen Klingeln des Eiswagens. An regnerischen Tagen folgte er seinen Kollegen ins Kino und im Winter zu einem zugefrorenen See, um sich nach ein paar Runden auf dem Eis eine heiße Waffel schmecken zu lassen. Wilhelm hatte alledem das Umblättern von Buchseiten, das Schleifen des Schlagwortregisters und die dumpfen Schritte auf dem Filzboden der Bibliothek vorgezogen. Zwischen den Arbeitstischen, den Lesesesseln und den bis unter die Decke mit Büchern gefüllten Regalen befand sich eine immer gleiche, unwirkliche Welt. Dieser Welt war es egal, ob jenseits der dicken Sandsteinmauern die Sonne auf den von schnalzenden Badelatschen widerhallenden Asphalt niederbrannte, ob frostige Kälte alles mit einer weißen Schicht aus Schnee und Eis überzog und mit einer Geräuschkulisse aus Husten und Schniefen unterlegte oder ob prasselnde Regengüsse die Menschen dazu zwangen, ihre Schirme aufzuspannen und unter den überhängenden Dächern Schutz zu suchen. Die Bibliothek bot nicht nur Schutz vor den Launen und Gewalten der Natur, sondern das Schweigegebot unterband unliebsame Gespräche und die Bücher erstickten jede Form von Langeweile im Kern.

Heinrich bugsierte seinen Wagen durch den Feierabendverkehr der Rosenheimer Straße und dachte über das Gelesene nach: Tomo? Eine Person dieses Namens hatte in Wilhelms Geschichten und Anekdoten zu keiner Zeit und mit keinem Wort Erwähnung gefunden. Heinrich war bestürzt darüber, dass er von diesem Tomo, der in Wilhelms Tagebuch und somit in dessen Leben eine so wichtige Rolle spielte, noch nie zuvor gehört hatte. Er schien seinen Freund immer weniger zu verstehen. Mit einem Mal waren es nicht mehr nur die Ereignisse der letzten Wochen, die ihm befremdlich und absurd vorkamen, sondern er fing nun auch an, die gemeinsame Zeit infrage zu stellen. Zu dem Stimmungschaos aus Trauer, Zorn, Angst und Ratlosigkeit, in das Heinrich durch Wilhelms Taten hineingeraten war, gesellte sich ein weiteres unangenehmes Gefühl, welches aus den ersten Zeilen von Wilhelms Tagebucheintrag erwachsen war: Eifersucht, Futter für den Zeck. Heinrich versuchte, den Schmerz, mit dem dieser seinen Stachel immer tiefer in die Wunde trieb, zu ignorieren, und ermahnte sich zu emotionaler Distanz und rationaler Herangehensweise.

Tomo war ein ausgefallener Name. Sollte es auf Wilhelms Lebensweg oder in dessen aktuellem Umfeld tatsächlich eine Person dieses Namens gegeben haben, rechnete sich Heinrich gute Chancen aus, den Namensträger ausfindig machen zu können. Aus dem Blauen heraus konnte er nur vermuten, dass es sich entweder um einen fremdländischen – möglicherweise baltischen – Jungennamen oder um einen Uz für jedwede Form des weniger exotischen Namens Thomas handelte. Heinrich erinnerte sich schwach, dass Tomo auch die japanische Bezeichnung für Freund war. Aber da er bei seiner Übersiedlung nach Deutschland zusammen mit seinen täglichen abenteuerlichen Küstenexpeditionen und seiner Angst vor Naturgewalten und Geistern auch sein komplettes Japanischvokabular auf den Inseln zurückgelassen hatte, war er sich nicht sicher, ob er seiner Erinnerung in dieser Hinsicht trauen durfte.

Geboren war Heinrich in Lettland, wo sein Vater, Lysander Josef Luv, im Rahmen eines Kooperationsprogramms zwischen dem deutschen Zentrallazarett und der sowjetischen Militärsanität regelmäßig Austauschdienst geleistet hatte. Die mangelhaft bis rückständig ausgestatteten, im humanmedizinischen Denken aber bemerkenswert fortschrittlichen Einrichtungen der Sowjets waren teilweise aus den Kriegs- und Kriegsgefangenenspitälern des Zweiten Weltkriegs hervorgegangen und ballten sich im Rigaer Raum, wo sich auf einem ländlichen Herrenwohnsitz auch das von Lysanders Geistesvater, Viktor von Leyden, gegründete »Deutsche Institut für Geist und Leben« befand. Dieses ursprünglich als Brutstätte für medizinische Ideen ins Leben gerufene Institut war später von Viktor von Leydens Zögling und Lysanders Busenfreund, Hans-Joachim Meissmann, übernommen und für die Erprobung neuer naturwissenschaftlicher Methoden zu einem Forschungslabor ausgebaut worden.

Da ihn seine Arbeit als Arzt und seine leitende Rolle in der wehrmedizinischen Forschung zu einem ständigen Spießrutenlauf zwischen verschiedenen Militärstandorten, medizinischen Kongressen und Ministerialbüros zwangen, bildete das von Meissmann in Lettland geleitete Institut die einzige räumliche Konstante in Lysanders Leben. Als er mit dem Wunsch, eine eigene Familie zu gründen, seine junge Ehefrau Kaoru von Japan nach Europa übersiedelte, lag es daher nahe, das gemeinsame Familiendomizil in Lettland zu errichten, dem Dreh- und Angelpunkt seiner Amtsgeschäfte und Dienstreisen. Durch Viktor von Leydens Kontakte zu den Behörden des Rigaer Stadtbezirks sowie zu der durch die russischen Besatzer geführten Land- und Flurverwaltung war schnell ein verwaister Landsitz in einem bewaldeten Außengebiet der lettischen Landeshauptstadt gefunden, und so hielt Kaoru Taira unter ihrem kirchlich angetrauten Namen Henriette Luv kurz nach ihrer Heirat mit Lysander und nur wenige Monate vor Heinrichs Geburt Einzug in die klösterliche Abgeschiedenheit ihrer neuen Heimat.

Das Engagement des alten Luvs in der Welt der Medizin ließen jedoch nur wenig Zeit und Raum für Familie und Heim und so verlebte Heinrich seine frühesten Jahre in einem kleinen Kreis, der nur aus ihm selbst, seiner Mutter und einer Hausangestellten bestand. An seine Mutter konnte sich Heinrich allerdings kaum erinnern, weil sich ihre Lebenszeit mit der seinen nur vier Jahre lang überschnitt. Selbst an die Zeit auf den Okinawa-Inseln, wohin er nach dem Tod seiner Mutter gebracht worden war, konnte er sich nur bruchstückhaft erinnern und hätte ohne die wenigen Fotografien, die es aus dieser Zeit seines Lebens gab, wohl auch diesen Abschnitt komplett aus dem Gedächtnis verloren.

Obwohl Heinrichs Mutter Japanerin war, hatte sie die Zukunft ihres Sohnes im westlichen Europa gesehen und größten Wert darauf gelegt, ihm in ihrer lettisch und russisch geprägten Isolation Deutsch, Englisch und Französisch beizubringen. Um so schwerer traf es Heinrich, als er im Alter von vier Jahren, ohne die Muttersprache seiner Mutter zu beherrschen, in die Obhut seiner japanischen Großeltern gegeben wurde, wo sich die Welt um ihn herum in einen Kreis aus Fratzen verwandelte, die in unverständlichen Worten auf ihn einredeten. In seiner Not flüchtete Heinrich damals hinaus in die Natur und hinein in seine Träume. Die Stimmen von Wellen und Wind waren ihm bald vertrauter als die endlosen Silbenketten, die seine Tanten, Onkel und Spielgefährten aus dem Dorf beständig auf ihn herabregnen ließen. Er unterhielt sich lieber mit Würmern, Spinnen, Krabben und anderem stummen Getier, mit denen er zunächst nur zögerlich, doch bald fest Freundschaft schloss.

Am sichersten fühlte sich Heinrich jedoch in seinen Träumen. »Hinomaru« war sein Lieblingskommando, weil es bedeutete, dass die Papierwände des hinteren Zimmers, das tagsüber als Terrasse diente, zugezogen und seine Schlafmatten ausgerollt waren. Er hatte dann gewaschen und in Schlafgarnitur gekleidet anzutreten, um sein weiches, weißes Baumwollkissen mit dem großen roten Punkt in der Mitte, seine dünne Wolldecke und ein frisches Taschentuch in Empfang zu nehmen, das ihm sein Großvater aus einem hohen Flurregal hinunterreichte. Da Heinrichs Schlafzimmer kein elektrisches Licht besaß, wanderten die Schatten dort nachts mit dem Mond, bis sie morgens von der Sonne langsam aufgelöst wurden. Gelegentlich glitten auch die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos oder Motorrollers die Wand entlang, wobei sich die Schatten erst streckten, dann zerstreuten und anschließend wieder zusammenzogen. Bei stürmischer Witterung, der das Zimmer hinter der dünnen Papierwand stärker ausgesetzt war als die übrigen Räume des Hauses, schlief Heinrich im Wohnzimmer, wo er dann im Durchgangsbereich zwischen Küche, Toilette und großelterlichem Schlafzimmer sein Bett aufbauen durfte. Dort gab es andere Schatten. Sie waren dunkler, kleiner und viel ruhiger als die in seinem Zimmer, aber weil er sie so selten sah, nicht weniger interessant.

Fasziniert von dem Spiel der Schatten und der Eleganz, mit der sie während der Dämmerungsstunden über den Boden, die Wände und die Decke glitten, nahm Heinrich in seinen Träumen selbst die Form eines Schattens an, um zu wachsen und zu schrumpfen, wie es ihm gefiel. Als Schatten war er schwerelos und anfangs auch stumm, bis er bemerkte, dass in seinen Träumen nichts unmöglich war. Er konnte nicht nur der Schwerkraft trotzen, reisen, wohin er wollte, und seine eigene Version einer perfekten Welt erschaffen, sondern er konnte seine eigene Sprache erfinden und sie zur Amtssprache seines Königreichs erheben.

Seine Menschenscheu und seine ständige Flucht vor der Wirklichkeit machten ihn jedoch zum beliebten Ziel für den Spott der Dorfkinder und die Geisteraustreibungen seiner Großmutter. Beides drückte ihm bisweilen so stark auf die Blase, dass er dem dringenden Bedürfnis schließlich nachgab und ihm danach nichts weiter übrigblieb, als wieder einmal davonzulaufen, bevor jemand das peinliche Malheur bemerkte und es entweder zum Anlass für weiteres Gespött oder besorgte Schelte nahm. Seine Suche nach einem Ort, wohin ihm niemand folgte und wo er seine Hose zum Trocknen in die Sonne oder in den Wind hängen konnte, führte ihn zumeist an sein geheimes Küstenversteck oder zu einem einsamen, sonnigen Fleck zwischen den Kisten, Paletten und Containern am Hafen unten.

Seltsamerweise erfüllten die Erinnerungen an die Zeit, die er mit der Familie seiner Mutter verbracht hatte, Heinrich nicht mit Zorn oder Bitterkeit. Im Gegenteil, etwas in ihm sehnte sich in jene Zeit und an jenen Ort zurück, denn es hatte dort auch viele stille Momente gegeben. Wenn er zu Hause oder auf dem Markt beim Waschen und Putzen von Obst und Gemüse geholfen hatte, waren keine Worte vonnöten gewesen. Gierig nach Lob hatte er seine Finger flink und fleißig durch die Obstkörbe und Gemüsewannen fliegen lassen, und wenn niemand schaute, hatte er sich beim Gurkenschneiden die Gemüseringe an die Finger gesteckt oder beim Erbsenpulen die kleinen grünen Kugeln als Geschosse benutzt, wobei ein Nasenloch als Kanonenrohr diente.

Ohne es darauf angelegt zu haben, verstand Heinrich die Sprache seiner neuen Umgebung bald gut genug, um sich mit den anderen Kindern zu streiten und das Gerede der Erwachsenen zu belauschen. Mit großen Ohren und Augen verfolgte er ihre abenteuerlichen Erzählungen aus vergangenen Tagen sowie den neuesten Klatsch und Tratsch, und wenn er Glück hatte, schnappte er ab und an einen verdorbenen Witz auf. Er selbst ergriff während jener Tage jedoch nur selten das Wort und hatte gerade den sprachlichen Entwicklungsstand eines Schulanfängers erreicht, als sein Vater ihn mit acht Jahren nach Deutschland holte, um ihn dort zur Schule zu schicken.

Das Einzige, was Heinrich aus Japan mitnahm, waren seine Träume von fliehenden Schatten und die Totentafel seiner Mutter. Manche Dinge ließen sich nicht einpacken. Dazu gehörten sowohl die Küstenstreifen mitsamt dem dort hausenden Gekreuch und Gefleuch als auch die Geisterrituale, bei denen er nicht sicher war, ob sie ihm ihm die Angst nahmen oder ob sie ihm diese erst einflößten. Doch selbst die Stofftasche, in der er einige Kleidungsstücke und Spielsachen für die Reise nach Deutschland zusammengepackt hatte, musste auf Geheiß des alten Luvs, der die Kleidung als Lumpen bezeichnete und die Spielsachen nur mit spitzen Fingern anzufassen wagte, in Japan zurückbleiben. Also legte Heinrich seine kleine Hand in die des großen Fremden, der sein Vater war, und winkte seiner Großmutter zum Abschied mit der fest in Stoff gewickelten Holztafel, die den Namen seiner Mutter trug.

Falls das Wort Tomo tatsächlich einfach Freund bedeuten sollte, hatte Heinrich noch nicht einmal einen Namen. Er wurde das Gefühl nicht los, dass Pragen ähnliche Schlüsse gezogen hatte, und da somit über eine einfache Namensanalyse oder Personensuche kein Weiterkommen war, nun auf Heinrichs Intuition baute. Er hätte dem Oberstleutnant gerne widersprochen. Tomo musste ein Name sein. Das sagte ihm nicht nur seine Intuition, sondern auch sein Wissen über Wilhelms Fremdsprachenkenntnisse. Da gehörte Japanisch nicht dazu.

Heinrich verzog das Gesicht, als sich eine schmerzhafte Wahrheit hinter seiner Stirn regte. Anzunehmen, dass Wilhelm des Japanischen unkundig war, nur weil er solche Kenntnisse niemals erwähnt hatte, wäre in Anbetracht der jüngsten Enthüllungen vermessen. Zu oft hatte sich Heinrich während der letzten Tage in seinem Freund geirrt. Doch auch wenn sein Selbstvertrauen auf wackeligen Beinen stand, vertraute er immer noch auf Pragen. Und Pragen wiederum hatte das Tagebuch und somit die Enträtselung all seiner Mysterien in Heinrichs Hände gelegt, obwohl er ihn im selben Atemzug für mindestens eine Woche aus der Dienststelle verbannt und somit von jeglicher Zuarbeit durch das kriminalistische Labor oder die Datenbanken im Archiv abgeschnitten hatte. Entweder erwartete er, dass Heinrich etwas mit dem Namen Tomo anzufangen wusste, oder er ahnte, dass es sich dabei um ein weiteres von Wilhelms Geheimnissen handelte, und gab Heinrich eine Woche Zeit, um es zu lüften. Obwohl er erst die ersten paar Seiten des dicken Papierbündels gelesen hatte, war sich Heinrich sicher, dass Tomo eine wichtige Spur zur Lösung des Falls und vielleicht sogar der Schlüssel zu Wilhelms Aufenthaltsort war.

Nachdem Heinrich seinen Wagen abgestellt und ihm ein letztes Aufflackern der Cockpituhr verraten hatte, dass die Tore der Bibliothek nur noch knapp anderthalb Stunden geöffnet sein würden, klemmte er hastig Pragens Päckchen unter den Arm und nahm seine Beine in die Hand. Er tauchte aus der grellen Neonbeleuchtung der Garage auf und eilte durch den noch frühen, aber bereits dämmrigen Abend Richtung Bibliotheksgebäude, das ihn von fern mit warmen Licht begrüßte.

Die vorüberfliegende Welt umspülte Heinrich mit Erinnerungen an beiläufige, unwichtige Momente, die in seinem Gedächtnis darauf warteten, von wichtigeren Ereignissen überschrieben zu werden. Eine Markise, unter der er zusammen mit Wilhelm einen Platzregen abgewartet hatte, war eingerollt. Sichtbar war nur die wellenförmig geschnittene Borte, die über den Sommer stark an Farbe verloren hatte und im Dämmerlicht bräunlich grau wirkte. Die Absperrkette, auf der er gerne hin und her geschaukelt war, während Wilhelm in der nebenstehenden Telefonzelle noch schnell einen Anruf getätigt hatte, lag auf dem Boden und versteckte sich wie ein scheues Tier in dem Laubhaufen, der sich um den Kettenpfeiler herum gebildet hatte. Selbst der Absatz einer unverputzten Ziegelmauer in einer Seitengasse weckte in Heinrich Erinnerungen. Wilhelm hatte dort einmal in seinem Rucksack gekramt. Und ein andermal seine Schnürsenkel frisch gebunden.

All diese unnützen Erinnerungen an unwichtige Ereignisse erschienen Heinrich plötzlich so kostbar, dass er am liebsten stehengeblieben wäre, um sie in die Gegenwart zu holen und sich daran festzuhalten, aber der Parasit hinter seiner Stirn hatte die Beute ebenfalls gewittert. Mit weit aufgerissenem Rachen versuchte er, seine Kieferzangen in eines der vorüberfliehenden Bilder zu schlagen. Heinrich lief immer schneller, bis er fast spurtete, doch der Zeck hielt mit ihm Schritt und schnappte immer wilder um sich, bis er schließlich einen Erinnerungsfetzen zu fassen bekam.

Wilhelm und Heinrich hatten einander noch nicht lange gekannt, als sie sich zum ersten Mal in der Bibliothek verabredet hatten. Wilhelm hatte den Ort vorgeschlagen, nachdem Heinrich angekündigt hatte, sich eventuell zu verspäten. Beim Warten durch Bücher zu stöbern, war für Wilhelm eine angenehmere Aussicht gewesen, als sich irgendwo bei Wind und Wetter die Beine in den Bauch zu stehen und sich dem großstädtischen Trubel auszusetzen. Heinrich war der Vorschlag seltsam vorgekommen, aber da er nicht gewusst hatte, was genau gegen den von Wilhelm als optimal bezeichneten Treffpunkt sprach, hatte er schließlich eingewilligt.

Heinrich hatte sich an jenem Tag tatsächlich verspätet, und zwar so sehr, dass ihn sein schlechtes Gewissen zunächst in athletischem Tempo durch die Straßen spurten ließ und schließlich etwas gedrosselt zwar, aber noch immer im Eilschritt durch die Gänge der Bibliothek hetzte. Erst als er an einem einsam aufgestellten Lesetisch Wilhelm erblickte, machte er Halt und gönnte sich einen tiefen Atemzug.

Wilhelm war so sehr in den vor ihm liegenden großen, roten Buchband vertieft, dass er Heinrichs Ankunft nicht bemerkte. Heinrichs Herz schlug bis zum Hals, aber Wilhelms ruhige Ausstrahlung wirkte so entspannend auf ihn, dass er sich einen weiteren tiefen Atemzug gönnte, seine Uniform zurechtzupfte und sich dabei zum ersten Mal an diesem Tag befreit fühlte. Während er die Nachwirkungen eines langen Arbeitstag von sich abschüttelte und nach der Rennerei wieder zu Atem kam, beobachtete er seinen Freund.

Heinrich hatte es sich damals nicht verkneifen können, einen Blick in Pragens Kartei über den Vorzeigesoldaten des Mittenwalder Gebirgsjägerbataillons zu werfen. Hauptmann Wilhelm Fenner war die Galionsfigur seiner Einheit. Seine Leistungen und Verdienste stachen besonders hervor, wenn es um die sportliche Seite der soldatischen Ausbildung ging. Fels, Eis und Schnee waren sein wissenschaftliches Spezialgebiet und seine Leidenschaft. Wettkämpfe und Klettertouren bestimmten seinen beruflichen Werdegang wie auch sein Leben in Zivil. Der Kontakt zu seinen Pflegeeltern, die ihn Ende der siebziger Jahre aus einem russischen Waisenhaus aufgenommen hatten, war mit seinem Eintritt in die Streitkräfte abgerissen. Auch von Hans-Joachim Meissmann, der ihm eine Zeit lang väterlich zur Seite gestanden hatte, suchte er den größtmöglichen Abstand und abgesehen von gelegentlichen Seilgefährten hatte er keine Freunde. Er mied Großstädte und Hörsäle und hatte sich auf seinem Weg zum Hauptmann sowohl vor dem Studium als auch vor der Stabsbürokratie des Kölner Heeresamtes gedrückt. Dennoch hatte er seine Laufbahn in Rekordgeschwindigkeit zurückgelegt und vor etwas mehr als einem Jahr die Leitung über eine von ihm selbst ins Leben gerufene Stabsabteilung für Sicherheit im Gebirge übernommen. Er war politisch zurückhaltend, führte keine ehrgeizigen Karrierekämpfe und hielt sich aus internen Ränkespielchen heraus. Er galt jedoch gemeinhin als widersprüchliche Natur: Seine Vorgesetzten beschrieben ihn als treuen Sturkopf, während seine Kollegen ihn für einen jovialen Kaspar Hauser hielten und die Truppe ihn verehrte und liebevoll einen nachsichtigen Despoten nannte. Seine Akte war ohne Fehl und Tadel.

Dieser in Pragens Resümee kurz als »ehrliche, aber weltfremde Natur« bezeichnete Supersoldat der Gebirgsdivision saß damals über ein Buch vertieft und las. Heinrich betrachtete Wilhelm wie das Lebendexemplar eines seltenen, bunten Falters, den er bisher nur als Zeichnung aus seinem Biologiebuch kannte. Wilhelms Haare waren zwar nicht bunt, aber dennoch von einer seltsamen Farbe. Ein bleiches Blond, das je nach Lichteinfall silbrig weiß oder perlmuttgrau schimmerte. Neben seinem hohem Wuchs, seiner auffallend aufrechten, fast unnatürlich steifen Haltung und seinen leicht abstehenden Ohren waren seine sehr blauen Augen ein weiteres markantes Merkmal.

Heinrichs Großmutter hatte ihren Spross immer vor hellen Augen gewarnt. Sie seien ein Zeichen für zu viel Wasser im Blut. Eine gefährliche Mischung, die es Kobolden erleichtere, ihre bösen Streiche mit den Menschen zu treiben, da das Wasser deren natürlicher Verbündeter sei. Sie war immer heilfroh darüber gewesen, dass die pechschwarzen Knopfaugen ihres Enkels nicht nach dem wässrigen Blau des Vaters geraten waren, sondern dass das dicke Inselblut seiner mütterlichen Linie durch seine Adern floss. Obwohl sich Heinrich längst von diesem Aberglauben seiner Großmutter gelöst hatte und ihm das Erinnern schwerfiel, hatte er noch die Gespräche der Erwachsenen über seinen Vater im Sinn. Lysander Josef Luv war auf den Inseln unbeliebt gewesen. Den Geschichten der alten Mütter zufolge hatte dieser große Mann mit dem wässrigen Blut eines ihrer Mädchen entführt und nur ihre Asche und einen verstörten Jungen zurückgebracht. Sehr ungern hatten die Familie und die Dorfgemeinde den kleinen Heinrich in die Obhut des alten Luvs zurückgegeben, als dieser seinen achtjährigen Sohn nach Deutschland geholt hatte.

Das erste Jahr in Deutschland war äußerst schmerzlich gewesen, da Heinrich auf das Drängen seines Vaters hin altersentsprechend in die dritte Grundschulklasse eingestuft worden war, jedoch kaum ein Wort Deutsch verstanden hatte und weder lesen noch schreiben konnte. Die Werktage hatte er fortan im Internat, die Wochenenden unter der strengen Hand eines Nachhilfelehrers verbracht. Dank der abschätzigen Behandlung durch seinen Vater bei schlechten Leistungen sowie dessen wohltuender Gleichgültigkeit bei guten Noten lernte Heinrich schnell und war bald mit seinen Altersgenossen gleich auf.

Heinrich hätte gerne weiter den heimlichen Beobachter gespielt und dabei in seiner eigenen Vergangenheit geschwelgt, als Wilhelm plötzlich aufblickte: »Du bist wirklich spät dran.« Es war, als wäre eine Statue zum Leben erwacht. Obwohl in Wilhelms Stimme nicht die geringste Spur von Tadel oder Unmut über die Verspätung lag, verspürte Heinrich den Drang sich rechtfertigen zu müssen. Er erklärte und entschuldigte sich vielmals, wenngleich Wilhelm immer wieder abwinkte.

»Setz Dich doch«, sagte Wilhelm schließlich: »Du wirkst gehetzt.« Er zog einen zweiten Stuhl unter dem Tisch hervor und machte eine einladende Geste. Heinrich setzte sich nicht, sondern ließ sich fallen. Weit zurückgelehnt und mit geschlossenen Augen ließ er seine Arme baumeln und streckte seine Beine aus. Spätestens jetzt war jede Eile restlos verflogen und alle Hast vergessen. Als er nach ein paar Augenblicken der Entspannung, seine Augen wieder öffnete, schaute Wilhelm ihn an. Ein seltsamer Blick, irgendetwas zwischen einem Lächeln und Ernst, aber kein ernstes Lächeln. Heinrich nahm wieder Haltung an. Was Wilhelm da lese, fragte er, um von seinem kurzen Moment der Schwäche abzulenken, und spickte, ohne dessen Antwort abzuwarten, neugierig unter den Buchdeckel. Goldene Buchstaben auf einem griffigen, roten Leineneinband kennzeichneten das Buch als den ersten Band der Märchensammlung der Gebrüder Grimm.

Wilhelm blätterte zum Inhaltsverzeichnis vor, das die fast einhundert Märchentitel auflistete und sofort auch Heinrichs Interesse weckte. Als er jedoch Titel für Titel durchging, stellte er überrascht fest, dass er sich nur bei den Klassikern, die immer wieder als Vorlage für Bilderbücher, Theaterinszenierungen und Fernsehfilme hergenommen wurden, an die Handlung und die Figuren erinnerte. Laut Wilhelm waren jedoch die anderen die Interessanteren. Sie waren zwar oftmals weniger fantastisch und mystisch, ihr Blick auf die menschliche Seele dafür jedoch umso tiefer und bohrender. Eine Eigenart, die sie zu glaubwürdigeren Schauergeschichten machte als die herkömmlichen Lagerfeuergeschichten über Mörder und Gespenster. Weniger glaubhaft, sondern eher der menschlichen Sehsucht nach Harmonie und Ideal entsprungen wirkten hingegen die Erzählungen über selbstlose Güte und kompromisslose Treue. Um Heinrichs vergessenes Wissen über Menschenfresser, Mördergruben, Hexenflüche, unsterbliche Liebe und ewige Eide aufzufrischen, blätterte Wilhelm ein paar Seiten vor und begann, mit gedämpfter Stimme eines der Märchen vorzulesen.

Heinrich lachte. Sich in der Bibliothek zu verabreden war bereits ein merkwürdiger Vorschlag gewesen. Den Abend damit zu verbringen, sich gegenseitig Märchen vorzulesen, übertraf die Wahl des Treffpunkts an Merkwürdigkeit bei weitem. Als Wilhelm daraufhin aufschaute, lag in seinem Blick jedoch nur Verwirrung und die unausgesprochene Frage, was an seiner Idee verkehrt war. Heinrichs Lachen verstummte zu einem verlegenen Lächeln. Außer seinem leichten Hungergefühl sprach nichts dagegen, noch ein Weilchen in der Bibliothek zu bleiben. Sie würde ohnehin bald schließen.

Heinrich dachte jedoch erst wieder an die Zeit, als ein Gongschlag die Besucher der Bibliothek dazu aufforderte, die Lesetische zu räumen und ihre Bücher zur Ausleihe zu bringen. Wilhelm und er hatten die gesamte Zeit damit zugebracht, Märchen zu lesen, flüsternd zu debattieren und sich gegenseitig zu ermahnen, nicht zu laut zu lachen. Wenn Wilhelm vorgelesen hatte, hatte Heinrich seine Arme und seinen Kopf auf dem Tisch abgelegt und die Augen geschlossen. Er hatte die Märchenstunde genossen. Wenn Heinrich mit Vorlesen dran gewesen war, hatte Wilhelm hingegen mit verschränkten Armen über der Brust da gesessen, aus dem Augenwinkel mitgelesen und jeden Versprecher mit einem nachsichtigen Kopfnicken abgetan. Er hatte die Märchenstunde ebenfalls genossen, wenngleich auf eine andere Weise.

Jener kurze Nachmittag in der Münchner Stadtbibliothek hatte die beiden einander näher gebracht als ihre anschließende stundenlange Tour durch den feierabendlichen Einkaufsrummel der Innenstadt. Er hatte einen Grundstein gelegt. In ihrer Anteilnahme am Schicksal der Märchenfiguren hatten sich ihre eigenen Ängste und ihre Abscheu widergespiegelt und durch ihre Kritik an dem Verhalten der Helden und Bösewichte hatten sie einander ihre Schwächen und Träume verraten. Obwohl sie einander kaum kannten, war jeder plötzlich in die tiefsten Geheimnisse des anderen eingeweiht. Für den Rest des Abends war die Märchenstunde in der Bibliothek jedoch vergessen. Außer wenn einer lachte. Dann legte der andere einen Finger auf die Lippen und machte: »Pst!«, was jedes Mal genau das Gegenteil von dem bewirkte, was die Geste eigentlich bedeuten sollte.

»Herr Eliot!« Kaum hatte Heinrich den Lesesaal betreten, winkte ihn Uschi aufgeregt heran. Uschi Hüsing, sie war die gute Seele der Bibliothek und kannte alle regelmäßig säumigen Bibliotheksnutzer beim Namen. So auch Heinrich, der alle halbe Jahre eine Zeitschrift auslieh, um einen Artikel fertig zu lesen, den er während des Wartens auf seinen Freund begonnen hatte, es dann aber nicht schaffte, die Zeitschrift rechtzeitig zurückzubringen. Jedes Mal, wenn Uschi die Mahngebühren einkassierte, wies sie ihn darauf hin, dass er für dieses Geld die Zeitschrift für ein ganzes Jahr hätte abonnieren können. Aber Heinrich war kein Freund von Abonnements und außerdem hatte er in seiner Feldwebelunterkunft keinen Platz zum Zeitschriftensammeln.

Dieses Mal war sich Heinrich allerdings keiner Schuld bewusst, die erfordert hätte, seinen Namen durch den ganzen Lesesaal zu rufen. Er war nicht säumig. Er hatte überhaupt nichts ausgeliehen, und zwar seit Ewigkeiten nicht. Es wäre ihm auch nicht möglich gewesen, da Wilhelm die sich stapelnden Mahnbescheide leid gewesen war und Heinrichs Leseausweis an sich genommen hatte. Trotzdem folgte Heinrich schließlich Uschis nachdrücklichem Winken und begab sich zur Ausleihtheke.

»Herr Eliot, ich habe meine Kollegin heute Morgen angewiesen, ihre Reservierung endgültig zu streichen und in Zukunft ihre telefonischen Anfragen nicht mehr zu berücksichtigen.«

»Was?« Heinrich wusste nicht, wovon die Rede war.

»Das sollte Sie jetzt nicht wundern. Sie hatten wiederholt genügend Zeit, ihre Reservierung abzuholen. Eine Bücherei ist nicht dazu da, die Bücher wochenlang in Abholfächern zu lagern.« Heinrich hatte sich inzwischen schon an Uschis regelmäßige Vorhaltungen gewöhnt, doch von einer Reservierung wusste er nichts. Er beteuerte, dass es sich um einen Irrtum handeln musste.

Uschi schaute auf einen Arbeitstisch, auf dem ein Stapel rosa Zettel lag. Sie ging die Zettel durch und rief schließlich triumphierend: »130600549, das ist doch Ihre Nummer, Herr Eliot.«

»Ich–«, setzte Heinrich an.

»Das sind die abgeholten und stornierten Reservierungen des heutigen Tages. Ihre erkenne ich an dieser Randnotiz.« Sie hielt Heinrich den Zettel unter die Nase: »130600549, dieses Jahr noch keine Gebühr bezahlt.«

»Wollen Sie bestreiten, dass das Ihre Ausweisnummer ist? Oder wollen Sie behaupten, jemand anders benutzt ihren Ausweis?«

»Jemand anders?« Heinrich durchfuhr es. Jemand anders, natürlich. »Nein, niemand anders«, sagte er entgegen seiner frisch gewonnenen Überzeugung. Er hatte beschlossen, das Spiel mitzuspielen, um dem Mysterium auf den Grund zu gehen.

»Es geht nicht, dass Sie ständig, vor den Öffnungszeiten hier Sturm läuten und ihre Reservierung verlängern. Wir legen zwar gerne auch mal etwas länger zurück, aber nicht wochenlang. Und bitte keine Anrufe vor zehn. Aber das predigen Ihnen meine Kollegen ja schon seit Wochen.«

Heinrich entschuldigte sich und bat um Nachsicht für seine Zerstreutheit. Wann habe er doch gleich zuletzt hier angerufen? Er lächelte.

»Na, heute Morgen«, antwortete Uschi und fügte schnell hinzu: »Schon als das Telefon klingelte, habe ich meiner Kollegin gesagt: Falls es wieder der Herr Eliot ist, nichts geht mehr!«

»Heute Morgen?« Heinrich schaute auf das Telefon, auf dem vielleicht nur wenige Stunden zuvor ein Anruf von Wilhelm eingegangen war.

Heinrich war unschlüssig. Um Zeit zu gewinnen, zückte er sein Portemonnaie, um den fälligen Jahresbeitrag zu zahlen. Uschi winkte jedoch ab: »Das machen wir nachher, wenn Sie Ihre Bücher ausleihen.«

Heinrich steckte sein Portemonnaie wieder ein und schaute sich ratlos in der großen Lesehalle um. »Könnten Sie mir vielleicht zeigen, wo meine Reservierung einsortiert wurde«, wandte er sich schließlich wieder an Uschi.

Sie schob das Kinn nach vorne und sagte: »Da hinten, bei den Atlanten.«

»Bei den Atlanten?«, wiederholte Heinrich ungläubig und runzelte die Stirn, als er das Regal mit den Atlanten sah. Einige davon waren mit dem Buchband nach vorne aufgestellt und zeigten Weltkarten und Weltraumaufnahmen von der Erde. Der Kinderatlas war mit bunten Bilder übersät. Es war aber zu weit weg, um Details zu erkennen. Hatte Wilhelm etwa einen Atlas für ihn zurücklegen lassen? Aber was brachte ein Atlas ohne eine Seitenzahl oder die Nummer eines Kartenausschnitts?

»Bei den Atlanten rechts«, fügte Uschi hinzu, als Heinrich sich nicht bewegte.

»Ah!«, sagte Heinrich. Er ging einen Schritt in den Lesesaal hinein und drehte sich erneut nach Uschi um: »Und wo genau? Könnten Sie mich begleiten?« Uschis Augen verengten sich, ein einstudierter Blick, der die Besucher davon abhalten sollte, sie wegen Kleinigkeiten zu belästigen. Sie hielt die Miene der genervten Bibliothekarin jedoch nicht lange aufrecht. Am Ausleihschalter war wenig los, das Telefon war ruhig und die Muskelregungen unter ihren Augen verrieten ihre Freude darüber, behilflich sein zu können. Sie ging um den langen Schalter herum, dann vor Heinrich her Richtung Atlanten und schließlich rechts, bis sie vor einem Regal stehenblieb, über dem ein Schild mit der Aufschrift »Welt, Reise und Abenteuer« hing. Heinrich machte ein demonstrativ ratloses Gesicht. Er brauchte mehr Infos von ihr.

»Nun, hier werden Sie sicherlich alles finden, was Sie brauchen, Herr Eliot.«

»Ja«, sagte Heinrich, während er verloren auf die hohen Regale starrte. Neben Atlanten gab es hier Faltkarten, Stadtpläne, Reiseführer, Wanderbroschüren, Urlaubskataloge, Erfahrungsberichte, Überlebenshandbücher und Bildbände. Sprachkurse für Eilige gab es auch.

»Nein«, änderte Heinrich seine Meinung, als Uschi ihn verlassen wollte. Sie blieb stehen und schaute ihn an: »Was suchen Sie denn genau?«

»Ich?« Heinrich dachte nach und sagte schließlich: »Ja.«

»Ja?«, fragte Uschi mit einem misstrauischen Unterton. Sie schien an seinem Verstand zu zweifeln.

»Wissen Sie es denn nicht mehr?«, fragte Heinrich mit einem Lächeln, als hätte er ihr eine Quizfrage gestellt.

»Nein«, antwortete Uschi knapp. »Reservierungen sind nicht meine Aufgabe und meine Kollegin sagte heute Morgen nur etwas von einer Reservierung aus der Reiseabteilung. Für sie ist die Angelegenheit wahrscheinlich auch nur ein lästiger rosa Reservierungszettel. Um welches Land ging es denn? Vielleicht kann ich bei der Auswahl behilflich sein.«

Sackgasse, dachte Heinrich und starrt auf die Wand aus bunten Buchrücken.

»Herr Eliot?« Uschi schaute Heinrich forschend an, doch da dieser nur grüblerisch auf die Bücherregale schaute, wendete sie sich schließlich mit einem Kopfschütteln ab und ging zurück zur Ausleihtheke.

Als sich Heinrich nach Uschi umdrehte, war die Bibliothekarin bereits verschwunden. Er blickte sich kurz nach ihr um und wandte sich, nachdem er sie nirgends entdecken konnte, wieder dem Regal zu. Wilhelm hatte offenbar unter seinem Namen eine Reservierung getätigt. Mit dem Leseausweis und der darauf befindlichen Nummer war es kein Problem, sich telefonisch ein Buch zurücklegen zu lassen. Wilhelm hatte wohl angenommen, dass Heinrich eher seinen Weg in die Bücherei und somit den für ihn hinterlegten Reiseführer oder Stadtplan finden würde. Heinrich war sich sicher, dass Wilhelm ihm damit einen Hinweis auf seinen momentanen Aufenthaltsort oder einen geheimen Treffpunkt hatte mitteilen wollen.

Erneut ließ er seinen Blick über die Regale schweifen. Vor ihm lag die Welt von A bis Z. Sein Blick blieb kurz am Buchstaben D hängen. Deutschland füllte gleich mehrere Regalböden. Zusätzlich zu den allgemeinen Reiseführern und Karten der großen Städte, gab es Wanderkarten, Fahrradkarten, Autokarten, Gaststättenführer, Hotelführer, Zeltplatzführer, historische Führer und Reiseberichte, manche in Romanform, manche als Bildbände. Bei L suchten seine Augen vergeblich nach Lettland, das er dann schließlich zusammen mit Estland und Litauen unter B fand. Er verließ Europa und schaute Richtung Asien und dort unter J. Er fand viel zu Japan, aber hauptsächlich zur Hauptinsel, nur ein Buch über Hokkaido und gar nichts zu den Okinawas. Als er merkte, wie seine Konzentration nachließ, nahm er entmutigt auf einem kleinen Schemel Platz.

Vielleicht jagte er auch nur einer fixen Idee hinterher, einem Wunschgedanken. Wenn man Geister sehen wollte, sah man sie auch. Er versuchte, sich mit dem Gedanken zu arrangieren, dass es sich nur um eine Verwechslung handelte, aber seine Überlegungen fanden immer wieder zu Wilhelm zurück. So war es am Ende immer. Alles in ihm drehte sich um Wilhelm und Wilhelm. Er beschloss diesem inneren Sog nachzugeben und öffnete Pragens Umschlag.

Datum
Dateinummer
201
Kapitel
2
Kapiteldatei
1