Revanche

Gespeichert von eloroke am Do., 16.03.2023 - 21:33

Es ging mir die ganze Woche über schlecht. Und auch jetzt geht es mir schlecht, obwohl ich ihn am Wochenende gesehen habe. Eigentlich sollte ich mich nicht beklagen. Wir verstehen uns blendend. Sind sogar beste Freunde. Aber eben auch nicht mehr als das. Seit jener Nacht sehe ich die Welt nur noch als Gleißen aus Vergangenheit und Zukunft. Absichtlich. Das ist mein ganz persönlicher Trotz. Dieser Trotz richtet sich allerdings weniger gegen den Professor, der mit eindringlich eingeschärft hat, das Rauschen der Vektoren zu unterdrücken, sondern vielmehr gegen mich selbst. Professor Meissmann befürchtete, dass die Vektoren meinen Zustand verschlimmern könnten. Aber gibt es etwas Schlimmeres, als der beste Freund meines Geliebten zu sein?

Meine Erinnerungen an die Zeit im Institut sind zerrissen. An die Bilder der Ereignisse erinnere ich mich so klar, als ob es erst gestern passiert wäre, aber es fällt mir zunehmend schwer, mein damaliges Empfinden nachzuvollziehen. Ständig mischen sich die Stimmen der Gegenwart in meine Erinnerungen ein. Ich erinnere zum Beispiel an meine Tränen, aber ich weiß nicht mehr, warum ich eigentlich weinte. Waren es die Schmerzen? Damals dachte ich das vermutlich, aber heute zweifle ich daran. Schmerzen sind kein Grund zum Weinen, Verzweiflung hingegen schon.

Aber es ist nicht allein der Trotz, der mir verbietet, die Augen hinter meinen Augen zu schließen, sondern auch meine Verachtung für die von menschlicher Wahrnehmung geprägte Welt. Die Vektoren bestätigen mein Gefühl, nicht dazuzugehören. Und zwar einfach deswegen, weil ich den mir äußerlich so ähnlichen Wesen im Inneren so unähnlich bin. Das fängt beim Sehen an und endet im tiefsten Punkt meiner Seele. Menschen sind farbenblind und sehen nur Oberflächen. Sie sind schwach und leicht zu begeistern. Ständig benennen sie die Dinge falsch, ständig ignorieren sie das Offensichtliche, ständig geben sie auf, ständig lachen sie.

Dass ich mich in einen Menschen verliebt habe, ist vermutlich einfach eine Laune Schicksals. Es ist jedoch eine Beleidigung meines Daseins, dass er mich nicht liebt. Vielleicht hätte ich den Professor darauf ansprechen sollen, als ich ihm vergangenen Freitag begegnet bin. Aber ich will nicht von dem alten Professor reden, sondern von Eliot. Denn obwohl meine Welt in Flammen steht, tröstet mich die Erinnerung an unsere gemeinsamen Stunden und vielleicht hege ich sogar die heimliche Hoffnung, dass am Ende doch alles gut ausgehen könnte.

Ich war gerade dabei, eine Liste zu schreiben und hatte erst viereinhalb Punkte notiert, als es am Samstagmorgen an meiner Haustür schellte. Da ich keinen Besuch erwartete, stellte ich mich zunächst taub. Bei einem wirklich wichtigen Anliegen würde ohnehin erneut geschellt, was auch kurz darauf geschah. Ich wollte jedoch nichts überstürzen und schlich erst einmal zum Fenster und spähte auf die Treppe zu meiner Wohnungstür hinaus. Dort stand Eliot. Unwillkürlich schob ich die flammenden Vektoren in den Hintergrund und kehrte zurück in die Welt, die zu ihm gehörte, und stürmte zur Tür, als würde er sich in Luft auflösen, wenn ich ihn nicht schnell genug hereinließ.

»Eliot?« Für einen kurzen Moment fürchtete ich, dass er doch nur eine Sinnestäuschung war.

»Hast Du unsere Verabredung vergessen?«, brummte er und fügte, als ich mich auch nach langem und angestrengtem Nachdenken an keine Verabredung erinnern konnte, hinzu, dass er mir in der Woche zuvor versprochen hätte, sich für meinen unverhofften Besuch zu revanchieren. Er zeigte auf eine prall gefüllte Bäckertüte: »Oder hast Du schon gefrühstückt?«

Das hatte ich nicht. Obwohl ich seit fünf Uhr auf den Beinen war und bereits eine Wanderung zur Almwirtschaft der Gessners hinter mir hatte, um dort meine Milchflasche auffüllenzulassen, war ich noch nicht auf die Idee gekommen, etwas zu essen. Erst Eliots Frage machte mir meinen Hunger bewusst. Er drückte mir die Bäckertüte in den Arm, um seinen schweren Rucksack abzusetzen. Nachdem er seine Jacke und seine Schuhe ausgezogen hatte, folgte er mir in den großen Wohnraum mit der abgetrennten Küchenzeile, wo ich schnell ein paar Holzscheite in den Ofen warf, um Wasser für Tee aufsetzen zu können.

»Zahnpastakörner mit den Backzähnen zerknirschen, Finger in Mehl tauchen, durch einen heißen, nach Zitrone duftenden Waschlappen atmen, aus dem kühlen Schatten in die warme Sonne treten und umgekehrt«, las Elli plötzlich laut vor und sah mich mit einem fragenden Blick an.

»Das ist die Liste der Dinge, die ich mag«, erklärte ich: »Ich war gerade dabei, alles aufzuschreiben, aber ich komme nicht voran, weil ich mich nicht entscheiden kann, ob der letzte Punkt nicht besser in zwei Punkte aufgeteilt werden soll.« Elli lachte verwundert und wollte wissen, was ich mit der Liste bezweckte.

»Nichts«, antwortete ich: »So sammle, ordne und verstehe ich die Welt. Ich mag das Gefühl, das dabei entsteht.«

»Fehlt auf dieser Liste dann nicht der Punkt ›Dinge auflisten‹?«, zog mich Eliot nun auf.

»Wie gesagt, ich war noch nicht fertig«, rechtfertigte ich mich, obwohl ich niemals auf die Idee gekommen wäre, einen solchen Punkt in meine Aufzählung aufzunehmen. Wahrscheinlich deswegen, weil das Schreiben der Listen kein Spaß, sondern eher eine Notwendigkeit ist. Aber ihm das zu erläutern, wäre zu kompliziert gewesen. Und zu peinlich. Ich wollte die Sache nicht weiter vertiefen.

»Und was ist mit den hunderteinundzwanzig Dingen, die Du nicht magst?« Ich war verblüfft, dass er sich so genau daran erinnerte. Ehe ich etwas erwidern konnte, drehte er das Blatt um und erkannte die Liste wieder, die ich ihm bei unserem Wiedersehen auf der Jahresabschlussfeier aufgesagt hatte. Ich hatte die Liste nach langer Zeit erneut zu Papier gebracht, um sie zu ergänzen und neu zu ordnen, jedoch bemerkt, dass meine Abneigungen immer noch dieselben waren. Neugierig schaute Eliot ans Ende der Liste, wo er den Punkt fand, den ich damals unterschlagen hatte. »Du bist nicht gern Zweitbester?«, fragte er. Ich verzog die Lippen. Er hatte mich ertappt.

»Das heißt, Du bist immer Erster?«, fragte er weiter, doch ich schüttelte den Kopf: »Nein, das heißt einfach, ein Leben voller Frust.«

»Könnte die Liste nicht länger sein? Was ist zum Beispiel mit Krieg? Ich habe mich schon damals gefragt, warum auf der Liste der Dinge, die Du nicht magst, all die menschlichen Grausamkeiten fehlten, die wahrscheinlich jeder andere als Erstes aufzählen würde. Magst Du etwa Krieg?«

Ich zuckte mit den Schultern. So etwas hätte ich vielleicht in eine Liste der menschlichen Natur aufgenommen, aber eine solche Liste hatte ich nicht. Menschen interessierten mich nicht. »Für mich ist Krieg nur ein Wort oder allenfalls ein Konzept, das meinen Arbeitsplatz sichert, aber nichts, was mich persönlich betrifft. Deswegen habe ich keine Vorstellung davon«, antwortete ich ausweichend.

»Man braucht doch nur den Fernseher anzuschalten oder die Nachrichten zu hören, um eine Vorstellung davon zu bekommen.«

»Ich schaue nicht fern und höre kein Radio«, erwiderte ich. Obwohl er nicht von meinen Worten überzeugt schien, nickte Eliot: »Hast Du noch mehr Listen? Bin ich auch auf einer Liste? Hast Du eine Liste der Personen, die Du magst?«

Ich schüttelte den Kopf: »Eine solche Liste wäre ohnehin sehr kurz. Wenn ich an die Personen denke, die ich mag, fallen mir keine fünf Namen ein.«

»Wäre die Liste der Personen, die Du nicht magst, länger?«, fragte er.

»Nein«, erwiderte ich: »Sie wäre vermutlich sogar leer. Die meisten Menschen sind mir einfach egal, auch wenn ich sie in der Gesamtheit hasse.«

Eliot schenkte mir ein bedauerndes Lächeln und erzählte von seinem Psychologen, dem er kürzlich eine ähnliche Antwort gegeben hatte. Doch im Gegensatz zur mir liebte Eliot die Menschen in der Gesamtheit. Ohne weiter darauf einzugehen, setzte er seinen Streifzug durch meine Wohnung fort, während ich weiter mit dem Ofen und dem Teekessel hantierte.

»Was ist das?«, fragte er plötzlich. Ich setzte den Teekessel ab und sah, wie er ein bald zehn Jahre altes Foto von mir in den Händen hielt. Das Foto war an dem Tag meiner ganz persönlichen Initiation als Bürger in Uniform aufgenommen worden. Elli hatte das Bild von der Korkwand genommen und schaute es stirnrunzelnd an. Ich zögerte. Ich konnte mich unmöglich so stark verändert haben, dass er mich nicht wiedererkannte. Als ich meine Verwunderung laut werden ließ, flüsterte Elli etwas. So leise, dass ich die Worte mehrmals im Kopf wiederholen musste, bis ich sie verstand: »Das meine ich nicht.« Er schaute das Bild noch eine Weile an, bevor er es mit einem nachdenklichen Seufzen wieder an die Korkwand pinnte.

Zu meinem ersten Antreten als neuer Rekrut war ich damals zwar über die Maßen aufgeregt, aber im Grunde doch zuversichtlich erschienen. In der Nacht zuvor war ich in der Kaserne angekommen und notdürftig eingewiesen, ausgestattet und untergebracht worden. Es war bereits weit nach Mitternacht, als mich einer der wachhabenden Gefreiten in meine Stube führte und mir mein Bett und meinen Spind zeigte. Das Licht und der Lärm rissen die Kameraden, mit denen ich mir künftig die Stube teilen sollte, aus ihrem Schlaf, doch sie drehten sich nur murmelnd um und schliefen weiter. Wie im Kinderheim lernt man auch bei Bundeswehr, solche Störungen zu ignorieren. Ich löschte schnell das Licht, bevor ich leise meinen Spind einräumte und in mein Bett kletterte.

Am nächsten Morgen war ich noch vor allen anderen wach und machte mich, wie es mir bei meiner Ankunft mitgeteilt worden war, zum morgendlichen Antreten bereit: duschen, Bett bauen, Uniform anlegen. Alles ganz leise und ohne Licht, um die anderen nicht zu wecken. Nachdem ich meine frisch gewaschenen und sorgfältig gekämmten Haare im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden gebunden hatte, wurde es langsam Morgen und ich drehte mich mit meiner neuen olivgrüne Feldmontur vor dem Spiegel hin und her, um mein neues Ich zu begutachten. Obwohl die straff nach hinten gebundenen Haare meine abstehenden Ohren betonten, gefiel ich mir. Ich fand, der grüne Stoff stand mir gut, und der spitze Kragen, die aufgenähten Brusttaschen und das provisorische Namensschild verliehen mir eine gewisse Ernsthaftigkeit. Ich wünschte, Tomo hätte mich so sehen können.

Als kurz darauf die Wecker in den einzelnen Stuben Alarm schlugen, krochen schließlich auch meine Stubenkameraden aus ihren Kojen und machten sich in Windeseile bereit, um gemeinsam mit mir auf den Sammelplatz vor unserem Wohnblock hinausstürzen. Dank der Uniform fühlte ich mich zum ersten Mal wie ein richtiger Mensch. Ein Irrtum wie sich sehr bald herausstellen würde. Ich gehörte genauso wenig zu der frisch rekrutierten Gruppe aus Offiziersanwärtern, wie ich zuvor zu meinen Schulkameraden oder zu den Kindern im Waisenhaus gehört hatte. Nur ins Institut, da hatte ich hingehört. Zusammen mit Tomo.

Aufgeregt reihte ich mich unter die anderen ebenso wie ich ganz in Olivgrün gekleideten Rekruten ein und ahmte ihr Verhalten nach: Füße in V-Stellung, Hände an die Oberschenkel, Rücken gerade, Brust raus. Der einzige äußerliche Unterschied zu meinen Kameraden – jedenfalls von vorne betrachtet – war mein unsicher hin- und herirrender Blick. Von hinten betrachtet gab es noch einen zweiten Unterschied, der mir zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht bewusst war.

»Halt doch mal still«, zischte mir einer zu, ohne sich dabei auch nur einen Millimeter zu bewegen: »Oder willst Du, dass wir alle Deinetwegen Ärger bekommen?« Ärger? Ich wusste nicht, was er damit meinte. Ich hatte nicht die geringste Vorstellung, was es bedeutete, Soldat zu sein. Dennoch hörte ich auf seinen Ratschlag, wendete meinen Blick nach vorne und zählte die Dinge, bis unser Zugführer erschien.

Da ich als Nachzügler weder mit den Regeln noch mit den Gepflogenheiten des Kasernenlebens vertraut war, ließ der Oberleutnant in einer Art Frage- und Antwortspiel einige Grundregeln für mich wiederholen. Die wichtigsten Phrasen, die ich mir einprägen musste, waren ›Jawohl!‹, ›Hier!‹ und ›Herr Oberleutnant‹. Ansonsten durfte man relativ ungezwungen reden, solange man dazwischen immer wieder eine dieser Floskeln aufsagte. Nach dieser Lektion in soldatischer Rhetorik rief mich der Oberleutnant nach vorne.

Alles war so unvorhersehbar neu für mich, dass mein Herz vor lauter Aufregung bis zum Hals schlug, als ich vortrat. Der Ausbilder ging einmal um mich herum, um dann mit finsterer Miene vor mir stehenzubleiben: »Einer von uns beiden braucht dringend einen Termin beim Friseur«, sagte er so laut, dass ich zusammenzuckte. Anschließend machte er eine lange Pause, in der er mich auffordernd ansah. Er schien auf ein ›Jawohl, Herr Oberleutnant‹ zu warten. Ich tat ihm den Gefallen. Er grinste mich zufrieden an, schien jedoch noch immer auf etwas zu warten. Ich wusste jedoch nicht, auf was.

»Ich gebe Ihnen einen Hinweis, Soldat«, fuhr er schließlich fort und schaute mich durchdringend an: »Ich bin es nicht.« Ich nickte und sagte: »Ich bin es auch nicht, Herr Oberleutnant.« Obwohl ich das Gefühl hatte, alles richtig gemacht zu haben, lachten plötzlich alle, auch wenn es mehr ein verhaltenes Prusten war.

»Sagen Sie mal, tun Sie nur so oder sind Sie wirklich ein Idiot?«, fragte der Oberleutnant plötzlich empört. Ich wusste jedoch noch immer nicht, was ich falsch gemacht hatte. Es war mein erster Tag und ich war mir nicht darüber im Klaren, dass die soldatische Tonsur keine Mode, sondern Pflicht war.

Der Oberleutnant rief zwei Namen und bellte in einem strengen Befehlston: »Bringen Sie dem jungen Mann in der Stube von Meister Henning Manieren bei.« Sofort traten zwei Soldaten aus den Reihen, um mich abzuführen. Ich wollte noch etwas fragen, aber einer der beiden gab mir ein stummes Zeichen, dass ich ihnen einfach folgen sollte.

Es gefiel mir zwar nicht, dass ich wie ein unartiges Kind behandelt wurde, aber ich leistete keinen Widerstand, sondern ließ mich von meinen beiden Kameraden zu einem Gebäude am anderen Ende der Kaserne bringen, wo wir durch den langen Korridor eines unbewohnte Mannschaftsblocks eilten und einen dunklen Raum betraten. Das Erste, was ich sah, nachdem einer meiner Begleiter das Licht angemacht hatte, war ein riesiges Gemälde von einem gerupften Federtier. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich, dass es sich dabei um einen Hahn handelte, denn sein gelber Schnabel, sein roter Kamm und seine langen, bunten Schwanzfedern lagen zu seinen Füßen. Man hatte ihm alles genommen: seine Meinung, seine Identität und seinen Stolz. Das Bild erfüllte mich mit Unbehagen.

Ich schreckte aus meinen Gedanken, als ich plötzlich ein metallisches Schleifen hörte. Es war einer meiner Begleiter, der mit einer Schere ein paar Mal durch die Luft schnitt: »Das ist hier ist die Scherenkammer«, erklärte er: »Oder wie der Oberleutnant es gerade nannte: Die Stube von Meister Henning.« Er zeigte auf das Gemälde an der Wand.

Mit einem mulmigen Gefühlt sah ich mich in dem Raum um. Es gab darin keine Betten oder Spinde, sondern nur ein Waschbecken mit einem großen Spiegel und eine gegen die lange Wand des Raums aufgestellte Tischreihe mit Stühlen davor. Auf den Tischen lagen Rasierklingen, Scheren und elektrische Haarschneider sowie Handspiegel mit Plastikgriffen, Kämme und Bürsten und ein Stapel olivgrüner Handtücher. Über den Tischen hingen Fotos von Soldaten mit kurzgeschorenen Haaren und fröhlichen Gesichtern. Die meisten von ihnen machten etwas Albernes. Die einen schnitten Grimassen, die anderen spreizten ihren Zeigefinger und Mittelfinger zu einem V und einige hatten sich ihre abgeschnittenen Haare als Schnurrbart zwischen Nase und Oberlippe geklemmt. Von manchen gab es zwei Fotos, eines vor dem Haarschnitt und eines danach. Trotz der unterschiedlichen Posen und Gesten hatten die Soldaten auf den Fotos eine Sache gemein: Sie lachten alle.

Mir war allerdings nicht nach Lachen zumute. Voller Unbehagen schaute ich auf das Bild von Meister Henning und fragte mich, was er wohl gerade empfand. Schmerz oder Zorn? Ich sollte es jedoch gleich herausfinden. Meinen Schnabel hatten sie bereits herausgerissen und durch ›Jawohl!‹, ›Hier!‹ und ›Herr Oberleutnant‹ ersetzt. Als Nächstes würden sie mir den Kamm und die Federn herausreißen. Ich wäre am liebsten davongelaufen, aber wohin? Tomo war tot und der Professor hatte mich hierher gebracht. Deswegen stellte ich mich vor den großen Spiegel, nahm meine Mütze ab, löste mein Haarband und schüttelte meinen Kopf, sodass sich meine Haare wie ein Mantel um meine Schultern legten.

Seit meinem zwölften Lebensjahr hatte ich meine Haare nicht mehr geschnitten. Sie waren die Erfüllung eines Versprechens an meinen Freund Tomo, ein heiliger Schwur, den ich täglich erneuerte, wenn ich mich kämmte. Wir hatten uns damals darüber gestritten, wer von uns später einmal die Braut und wer der Bräutigam sein sollte. Tomo stellte sich ziemlich stur, weswegen die Rolle der Braut schließlich an mir hängen blieb. Zu einer richtigen Braut gehörten jedoch laut Tomos Verständnis vom Heiraten nicht nur Kleid, Schleier und Blumenkranz, sondern vor allen Dingen lange, kunstvoll hochgesteckte Haare. So hatte er es auf dem Hochzeitsfoto seiner Mutter gesehen.

Wochenlang drückte ich mich daraufhin erfolgreich vor der Friseurschere, bis die Assistenten beschlossen, dem Wildwuchs ein Ende zu setzen. Dabei waren lange Haare an unserem Institut eigentlich keine Besonderheit. Selbst der Professor trug seine Haare manchmal lang. Wenn er nach längerer Abwesenheit ins Institut zurückkehrte, waren seine Haare zwar immer kurz, aber während der Monate, die er im Institut verbrachte, verplemperte er keine Zeit mit Haareschneiden, sondern band seine Haare, sobald sie ihn bei der Arbeit störten, einfach mit einem Haargummi zusammen.

Deswegen setzte ich mich mit allen Mitteln gegen den von den Assistenten verordneten Kurzhaarschnitt zur Wehr. Ich warf mich auf den Boden, strampelte mit den Beinen und machte ein so lautes Geschrei, dass der Professor aus seinem Büro kam, um sich über den Radau zu beschweren. Als er sah, wie mich seine Assistenten an Händen und Füßen durch den Flur zerrten, forderte er umgehend eine Erklärung. Nachdem ihm die Assistenten die Situation erläutert hatten und ich ihre Schilderung mit einem trotzigen Blick bestätigt hatte, streifte er sein eigenes Haarband ab und warf es mir zu. Zu seinen Assistenten sagte er nur: »Dann bleiben die Haare eben dran. Das hat doch keinerlei Bewandtnis«, und ging wieder in sein Büro.

Durch seine pragmatische Intervention durfte ich fortan meine Haare wachsen lassen. Selbst wenn Elektroden an meinem Kopf platziert werden mussten, wurden dafür vorsichtig kleine Flächen freirasiert, die später wieder zuwachsen konnten. Ich ließ meine Haare nur gelegentlich ein wenig nachschneiden, damit ich mich nicht ständig draufsetzte. Damals war ich noch der Prinz des Instituts gewesen, aber nun war ich ein Soldat und hatte zu gehorchen.

»Lächeln«, rief plötzlich einer meiner Begleiter und drückte, als ich mich zu ihm umdrehte, auf den Knopf einer Kamera: »Für unsere Fotowand«, erklärte er und lachte aufmunternd, doch ich erwiderte sein Lachen nicht, sondern nahm eine Schere und wandte mich wieder meinem Spiegelbild zu.

Es war ein mühseliges Unterfangen und dauerte. Meine Haare knisterten wie brechende Zweige zwischen den auf und zu schnappenden Kiefern der Schere und plötzlich wusste ich, was Meister Henning empfand: Schmerz. Und Wut. Beides.

Als ich schließlich fertig war, machte sich einer meiner Begleiter daran, die letzten Überbleibsel meiner Freundschaft mit Tomo vom Boden aufzulesen. Er wickelte die abgeschnittenen Haare vorsichtig in ein Taschentuch, das er mit meinem nun nutzlos gewordenen Haarband verschnürte. Der andere zeigte auf meinen Kopf und sagte leise: »So kannst Du nicht bleiben.« Daraufhin legte er mir ein Handtuch um die Schultern, setzte mich auf einen Stuhl und stutzte die ungleich langen Haarbüschel mit einem elektrischen Haarschneider auf gleiche Länge. Nachdem die letzte überschüssige Haarsträhne zu Boden gesegelt war, machte die Kamera noch einmal Ritsch-Ratsch-Klick, um das Ende der Tragödie festzuhalten. Dieses Mal bat mich niemand um ein Lächeln.

Bevor ich den Raum verließ, schaute ich noch einmal zu Meister Henning empor, der von dem Künstler allein zu dem Zweck erschaffen worden war, für immer den Verlust seines Seins zu beweinen, eine Ikone der Erniedrigung und des Schmerzes. Die folgenden Wochen verbrachte ich hauptsächlich damit, mich an den Verlust meines Kamms und meiner Federn zu gewöhnen. Die Ausbildung zum Soldaten machte ich nur nebenher.

Einen Rasierapparat habe ich seither nicht mehr an meinen Kopf gelassen. Ich schneide mir meine Haare immer selbst und lasse sie wenigstens so lang stehen, dass meine Kameraden und Vorgesetzten etwas zu meckern haben. Ich habe mich allerdings inzwischen ebenso sehr an ihr Gemecker gewöhnt wie sie sich an meine Unbelehrbarkeit.

Die beiden Fotos, die damals von mir in der Scherenkammer geschossen wurden, waren lange Zeit das Schmuckstück der dortigen Sammlung, bis ich sie kurz nach meiner Berufung in den Rang eines Oberleutnants entfernte. Ich fand, die Leute hatten sich lange genug darüber lustig gemacht. Das Bild mit den langen Haaren warf ich jedoch nicht weg, sondern pinnte es bei mir zu Hause an die Wand. Zusammen mit den Haaren selbst, die ich in einer kleinen Dose in meiner Nachttischschublade aufbewahre, ist es die letzte Erinnerung an mein Versprechen.

Während ich Teller und Tassen bereitstellte, zog Elli die Vorhänge auf, öffnete beide Fensterflügel und stellte überrascht fest, dass es gar nicht so trist sei, auf dem Kasernengelände zu wohnen, wie er sich das vorgestellt habe. Es sei friedlich und ruhig, fast idyllisch. Direkt neben der Isar und umringt von Bergriesen. Das könne ihm auch gefallen.

Es wunderte mich, dass er so etwas sagte. Der Tag war trübe. Das Grau-in-grau des Himmels kündete Regen und Gewitter an und die sich nur träge vom Talboden lösenden Nebel hatten die Form einer von Gicht geplagten Hand, die nach den niederen Hängen des Gebirges griff. Gedankenverloren starrte Eliot den aufsteigenden Nebeln hinterher. Ich setzte mich zu ihm und genoss einen jener kostbaren Momente, die nur aus Schweigen bestehen, uns aber dennoch so inniglich verbinden, als würden wir unablässig reden.

Als der Kessel pfiff, kam mir eine gute Idee. Ich füllte das kochende Wasser in eine Thermosflasche und erklärte auf Eliots verwunderten Blick hin, dass wir draußen im Freien frühstücken würden.

»Im Radio hieß, es würde Regen geben«, sagte er skeptisch. »Stimmt«, antwortete ich und zeigte auf die Wolken: »Aber hier im Tal wird uns der Regen frühestens in drei Stunden erreichen, eher dreieinhalb«, fügte ich nach kurzer Überlegung hinzu. Eliot lachte, als hätte ich etwas Komisches gesagt.

Ich packte unsere Frühstückssachen zusammen und nahm Elli mit zu einem Boot, das Falk in einem Wald am Ufer der Isar vertaut hält. Ich bezweifle, dass ihm das Boot gehört, aber er benutzt es regelmäßig, um damit Menschen, Speis und Trank zu den kleinen Inseln zwischen den stillen Isararmen zu schiffen, wo dann ausgelassen gefeiert wird.

Ich schob das Boot in den Fluss und ruderte ein Stück stromaufwärts auf die kleinen Inseln zu. Bevor wir jedoch im seichten Wasser der flach auslaufenden Inseln auf Kiel zu laufen drohten, holte ich die Ruder ein und überließ das Boot den Strömungen des regenreichen Aprils, die uns wieder zurück zu unserem Startpunkt brachten. Dort stieß ich jedoch sofort wieder die Ruder ins Wasser und hielt erneut auf die Inseln zu, die wir allerdings auch dieses Mal nicht erreichten, da ich kurz zuvor die Ruder einholte. Das wiederholte ich in einem fort: rudern, treiben lassen, rudern und wieder treiben lassen. Zwischendurch ein Biss in ein Brötchen und ein Schluck Tee. Eliot genoss die schlagenden Wellen des langsamen Aufstiegs ebenso wie die anschließende rasante Abfahrt und fragte kein einziges Mal, ob er mich beim Rudern ablösen solle. Die Selbstverständlichkeit, mit der er meine Mühen akzeptierte, gefiel mir.

»Wie war das doch gleich mit dem Tee?«, fragte er mich, während wir uns die Thermoskanne hin- und herreichten. »Hast Du Tee nicht eine magische Verbindung von Feuer, Wasser und Erde genannt?«, erklärte er auf meinen fragenden Blick hin. Es war das zweite Mal, dass er mich an diesem Morgen mit seinem Erinnerungsvermögen überraschte. »Wenn man den Tee so trinkt wie Du gerade, laut schlürfend und gedankenverloren, kommen sogar noch ein viertes und ein fünftes Element hinzu: Luft und Geist«, zog ich ihn auf. Eliot hob die Augenbrauen und …

… und erklärte mir, wie er die Welt um sich herum als Winkelskala betrachtete, auf deren Breiten und Längen seine Arme als Zirkelschenkel entlangfuhren und kreisten. Dann zeigte er mir verschiedene Anschlag- und Gangarten mit der Waffe und simulierte die Abwehr eines Angriffs durch mehrere Gegner. Das Boot schwankte gefährlich, während er selbst einen erstaunlich sicheren Stand behielt. Jeder andere wäre bei diesem Geschaukel über Bord gegangen wäre, ich eingeschlossen.

Obwohl mich seine Demonstration beeindruckte, hegte ich Zweifel an der Tauglichkeit seines Konzepts. Eliot war Zweifel gewohnt und begann sofort damit, sie auszuräumen, indem er die Thermoskanne zwischen uns auf den wankenden Schiffsboden stellte und mir befahl, sie ihm zu geben. Und zwar ohne hinzuschauen, blind. Ich schloss also meine Augen und reichte ihm die Flasche. Kein Kunststück. Als Nächstes forderte er mich auf, ihm die Flasche zuzuwerfen. Ebenfalls blind. Auch das war kein Kunststück, doch gerade darauf wollte er hinaus: »Siehst Du?«, fragte er und legte seine Finger um eine imaginäre Waffe: »Das ist das Ergebnis von jahrelanger Erfahrung. Du kennst Deinen Körper und Du kennst die physikalischen Gesetzmäßigkeiten Deiner Umwelt. Dieses Prinzip lässt sich auch auf eine Waffe übertragen. Anstatt mit Kimme und Korn zu arbeiten oder die Flugbahnparameter mit dem Taschenrechner zu berechnen, muss man einfach nur die Waffe als Verlängerung des Arms, als Erweiterung der Persönlichkeit betrachten.« Es machte ihm Spaß, mir seine Idee zu erklären. Seine Augen leuchteten und seine Hände gaben jedem seiner Worte Nachdruck: »Niemand käme auf die Idee, Armlänge, Achselrotation, Greifgeschwindigkeit und Ellenbogenwinkel miteinander zu verrechnen, um nach der Thermosflasche zu greifen. Diese Tätigkeit ist für uns kein Kunststück, da wir als Kinder in einem unermüdlichen Prozess des Lernens genügend Gegenstände umgestoßen und fallen gelassen haben. Die Motorik unserer Gliedmaßen beherrschen wir im Schlaf. Auf die gleiche Weise kann man seinen Körper daran gewöhnen, die Munition blind, aber dennoch mit gewünschter Ausrichtung und Drall auf ein Ziel zu lenken. Das, was früher mühselige Geistesarbeit war, wird so zu einem geschulten Reflex. Die Grundideen meines – zugegeben noch nicht ganz ausgereiften – Trainingskonzepts sind nicht neu. Es basiert auf den Lehren alter chinesischer Kampfkünste und modernem Schützentraining. Neu ist nur die Kombination dieser zeitlich, geographisch und technisch so weit auseinander liegenden Schulen.« Er war von seiner eigenen Idee nicht nur überzeugt, sondern geradezu begeistert. Das hörte und sah man ihm deutlich an. Ich hingegen verspürte plötzlich wieder diese elende Eifersucht.

Eliot merkte davon jedoch nichts. »Ich könnte noch jemanden gebrauchen, der meine schriftliche Ausarbeitung Korrektur liest«, sagte er und schaute mich fragend an.

»Und Du denkst dabei an mich?«, fragte ich nicht gerade begeistert: »Ich bin weder ein guter Rechtschreiber noch ein guter Grammatiker. Ich kann nur Formulare ausfüllen und meine Unterschrift unter Protokolle setzen.«

»Hm«, machte er enttäuscht: »Es geht eigentlich nicht um Rechtschreibung oder Grammatik, sondern vielmehr darum, meine Idee in verständliche Worte zu packen, um die Juroren von meinem Konzept zu überzeugen. Ich muss mit dem Papier vor der Exzellenz der Hardthöhe und der Infanterieschule bestehen.« Als er mir daraufhin erneut einen fragenden Blick zuwarf, lenkte ich schließlich mit einem Schulterzucken ein und versprach ihm, es mir einmal anzusehen und mir Mühe zu geben.

Zu meinem eigenen Erstaunen meinte ich es ernst. Wenngleich der Erfolg seines Konzepts seine dauerhafte Versetzung nach Köln bedeuten würde, wollte ich ihn nach besten Kräften unterstützen. Ich habe aus der Vergangenheit gelernt. Dieses Mal werde ich Tomos Manege nicht mutwillig zerstören.

Nachdem wir gefrühstückt hatten und die Witterung langsam zum Aufbruch riet, hatte Eliot noch eine Überraschung für mich. Er hatte eine Kamera mitgebracht. Nicht das wuchtige Gerät, das ich bereits von unserem Dreikönigsmarsch kannte, sondern ein noch größeres, schweres und moderneres Gerät mit einem ganzen Koffer an Zubehör. Auf meinen erstaunten Blick hin erklärte mir Eliot, dass er sich die Kamera aus dem Techniklabor seiner Dienststelle geborgt hatte.

Ich tauchte die Ruder ins Wasser und lenkte das Boot in einen ruhigeren Flussabschnitt. Obwohl ich nichts von Fotografie verstand, war mir klar, dass der Wert der Kameraausrüstung in die Tausende gehen musste, und ich befürchtete bereits, dass es um eine in die Isar gefallene Kameraausrüstung gehen würde, wenn Pragen das nächste Mal meinen Namen hörte. Auf meine Frage, ob Pragen wusste, dass die sicherlich sündhaft teure Ausrüstung seines Techniklabors gerade einen Ausflug in die Berge unternahm, machte Eliot zunächst nur ein nachdenkliches Gesicht.

»Naja«, erwiderte er schließlich gedehnt, bevor er mit einem entschuldigenden Schulterzucken hinzufügte: »Bis Pragen am Montag wieder in die Dienststelle kommt, ist die Kamera längst wieder an ihrem Platz. Ich werde noch vor allen anderen da sein und die Bilder entwickeln.« Ich musste lachen. Auch Eliot lachte, hängte sich aber vorsichtshalber den breiten Riemen der Kamera um den Hals, bevor er mich in seinen Plan einweihte: »Ich habe über Deine Haarfarbe nachgedacht?« Sein Satz klang wie eine Frage, als bäte er mich um Erlaubnis. Ich nickte und glaubte, Erleichterung in seinem Gesicht zu lesen.

Nachdem er diese Hürde überwunden hatte, war Eliot in seinem Element: Mutmaßung anstellen und Theorien spinnen. Alles in einem fort, ohne Luft zu holen oder mich zwischendrin zu Wort kommen lassen, aber ich war ohnehin gerne Zuhörer.

Nach einer kurzen Schulung über Licht und Farben und die Biologie des menschlichen Auges, erklärte er mir, was das Besondere an der Kamera war. Sie konnte mithilfe von verschiedenen Lampen, speziellen Linsen und verschiedenen Filmkartuschen unsichtbare Dinge zum Vorschein bringen. Eliot hatte bisher nur darüber gelesen. Nun wollte er es mit meinen Haaren ausprobieren.

Nachdem er mich in das Prinzip seines Vorhabens eingeweiht hatte, baute er die Kamera zusammen, um ein erstes Foto zu schießen. Er ging dabei sehr sorgsam vor und konsultierte immer wieder verschiedene Tabellen, um sicherzugehen, dass er die richtige Linse und den richtigen Film erwischt hatte. Er verwendete verschiedene Einstellungen und fotografierte nicht nur meine Haare, sondern auch die Umgebung um uns herum: die Wolken, das Wasser, das Gras und die Blumen. Er war dabei stets auf der Suche nach Übereinstimmungen und Abweichungen zwischen dem, was er, und dem, was ich sah, und hoffte, dass die entwickelten Fotos uns am Ende beiden recht geben würden.

Als er zu guter Letzt ein Stativ auf den schwankenden Planken aufbaute, um einen Schnappschuss von uns beiden zu machen, bekam ich erneut ein mulmiges Gefühl. Doch Eliot schenkte meinem skeptischen Blick keine Beachtung, sondern brachte das Boot sogar noch stärker zum Schaukeln, indem er umständlich zu mir auf die schmale Heckbank kletterte, wo er sich sich an einem Ruder festhielt, als ob er sich auch in die Riemen gelegt hätte. Er sagte gerade noch rechtzeitig ›Cheese‹, bevor es blitzte. Danach packten wir eilig alles zusammen und machten uns auf den Heimweg.

Als wir den Wald verließen, sah ich graue Wolken über den Bergspitzen. Wir hatten zu viel Zeit mit der Fotografiererei vertrödelt. Ich zog mein Schritttempo an und rief Eliot zu, dass wir uns beeilen mussten, da in spätestens einer viertel Stunde der Regen einsetzen würde, und da die Kurverwaltung gerade alle Wege am Umbauen war, die entlang der Isar lagen oder über sie hinweg führten, mussten wir einige Umwege in Kauf nehmen. Eliot schaute skeptisch auf seine Uhr und auf den strahlend blauen Himmel über uns. Er schien meiner Prognose nicht zu vertrauen, nahm aber schließlich doch seine Beine in die Hand. Als wir den hinteren Kasernenhof erreichten, der zu meiner Wohnung führte, schaute Eliot erneut auf seine Uhr und in den Himmel. Die Viertelstunde war um, doch der Himmel über uns noch immer blau. Eliots Blick verlangte nach einer Erklärung. Ich zeigte jedoch lediglich Richtung Osten, wo es an den Hängen bereits runterregnete. Eliot schien die feinen Wasserstränge, in denen sich der Regen vom Himmel herabließ, nicht zu sehen. »Noch zwei Minuten«, fügte ich hinzu und schloss die Wohnungstür auf.

Anstatt mir zu folgen, schaute Eliot abwechselnd auf seine Uhr und in den Himmel. Erst als der Regen zwei Minuten später tatsächlich zunächst mit lautem Prasseln auf das Dach klopfte und schließlich auch auf Eliots Fototasche tropfte und den Boden um ihn herum dunkel färbte, eilte er mir nach. Gemeinsam schauten wir aus dem Fenster und beobachteten, wie die dicken Regentropfen auf dem rauen Asphalt des Kasernenhofs aufschlugen und in den seichten Tälern des Bodenbelags Pfützen bildeten.

Wir hielten uns jedoch nicht lange in der Wohnung auf, sondern legten nur schnell unsere Sachen ab, da Eliot unbedingt Leto kennenlernen wollte und sich auch nicht davon abschrecken ließ, dass der Hof zweieinhalb Marschstunden entfernt lag und der Regen vermutlich bis zum Abend anhalten würde. Er zeigte nur auf seine eingelaufenen Kampfstiefel und betonte, wie ordentlich sie gebunden seien.

Den Weg zur Alm und zurück ins Dorf legten wir schweigsam zurück. Eliot ging die meiste Zeit voraus und wandte sich nur nach mir um, wenn er nicht weiterwusste. Ich erklärte ihm nichts, er fragte mich nichts. Die Gessners waren nicht da. Leto stand auf der Wiese. Ich zapfte mir zum zweiten Mal an diesem Tag Milch aus dem großen Tank und setzte zwei Striche auf die Liste.

Erst als wir bei Einbruch der Dunkelheit wieder zurück ins Dorf kamen, redeten wir wieder miteinander, um zu entscheiden, wo wir zu Abend essen wollten. Unsere Debatte übers Essen wurde jedoch unterbrochen, als wir Anna trafen, die von der Kurverwaltung die Genehmigung erhalten hatte, den Tag über auf der Geschäftsstraße entlang des Isarkanals Blumen zu verkaufen, aber kaum welche losgeworden war. Der Regen hatte ihr das Geschäft verdorben.

»Na, Herr Hauptmann?«, sagte sie, während sie mir einen Schirm über den Kopf und einen Korb voller Blumen unter die Nase hielt. Ich entschuldigte mich und erklärte ihr, dass ich den Leuten das Kopfzerbrechen darüber ersparen wollte, für wen ich Blumen kaufte. Anna zog ein Gesicht, doch bevor sie ihre Enttäuschung über meine Absage laut kundtun konnte, hatte Eliot auch schon seinen Geldbeutel gezückt. Anna suchte ihm sofort den ihrer Meinung nach schönsten Strauß heraus, woraufhin sich Eliot mit einem so irrsinnig großzügigen Trinkgeld bedankte, dass Anna ihm noch einen Herzanhänger dazuschenkte, den man eigentlich hätte bezahlen müssen. Erfreut über ihr florierendes Geschäft zog Anna davon, während ich plötzlich mit einem Strauß aus roten Rosen, weißen Lilien und verschiedenen anderen Kräutern in der Hand dastand.

Ich erklärte Eliot, dass ich unmöglich mit einem Blumenstrauß durch die Straßen laufen konnte, doch er lachte nur und ging voraus Richtung Markt, wo er ein nettes Restaurant zu finden hoffte. Ich folgte ihm und hielt die Blumen wie etwas, das nicht zu mir gehörte, etwas Bedeutungsloses, Beiläufiges, vielleicht sogar Lästiges. Ich hielt sie mit der Gleichgültigkeit, mit der man einen Aktenordner zurück in den Schrank räumt, und mit der Distanz, mit der man einen vollen Eimer zur Latrine trägt. Die Köpfe der Blumen baumelten über dem regennassen Asphalt und Herzanhänger hielt ich in meiner Faust verborgen. Eine krampfhafte Scharade, nur damit mich nicht ein aufmerksames Augenpaar zum Thema Nummer Eins des Standorts machte. In Wirklichkeit konnte ich an nicht anderes denken als an das, was mir gerade passiert war: Er hatte mir einen Blumenstrauß mit einem Herzanhänger geschenkt. Ich schloss kurzzeitig Frieden mit der Welt und liebte alles und jeden darin.

Als wir später in dem Lokal, das Eliot für uns ausgesucht hatte, Heidt und seine Familie trafen, ließ ich alle Vorsicht sausen und schenkte die Blumen an Heidts Tochter weiter. Sie spielte das Spiel mit, wurde puterrot und lächelte verlegen, während ihrer Mutter vor Schrecken der Kaffee zur Nase rauskam. Heidt versuchte, sich seine Verwunderung nicht anmerken zu lassen, bestellte mich jedoch gleich für Montagmorgen in sein Büro.

Nachdem ich die Blumen losgeworden war, suchten Eliot und ich uns einen Tisch: »Das wirst Du wohl am Montag wieder geradebiegen müssen«, sagte Eliot, während er die Speisekarte aufschlug, und lachte.

»Das amüsiert Dich?«, fragte ich.

»Ich wäre gerne dabei«, sagte er und lachte wieder.

»Ich werde einfach erklären, dass dahinter keine tieferen Absichten verborgen lagen und dass der Herzanhänger nur ein Werbegeschenk war. Ich befürchte nur, Heidt wünschte, es wäre anders.«

»Wenn das so ist, hättest Du Deinen Sinn für Romantik vielleicht besser im Zaum halten sollen.«

»Einen Sinn für Romantik hat mir bisher noch niemand unterstellt. Und ein Blumenstrauß mit Herzanhänger wäre nicht unbedingt der erste Gedanke, der mir in diesem Zusammenhang in den Sinn kommt.«

»Was wäre Dein erster Gedanke?« Eliot blickte von der Speisekarte auf und schaute mich neugierig an.

»Naja«, sagte ich und vertiefte mich, als ich merkte, dass mir dazu kein einziger Gedanke in den Sinn kam, meinerseits in die Speisekarte. Da es bei dem Italiener keine Germknödel gab, bereitete mir die Wahl meines Abendessens ernsthaftes Kopfzerbrechen. Eliot empfahl mir ein Gericht, das ich noch nie zuvor probiert hatte, weil ich nicht wusste, wie man es aussprach, doch er ließ es mich einige Male nachsprechen, damit ich mich nicht blamieren musste.

»Also, Dein erster Gedanke?« Nachdem wir unsere Bestellung aufgegeben hatten, kehrte Eliot ohne Umschweife zu der Frage zurück, deren Antwort ich ihm schuldig geblieben war. Er lehnte sich entspannt zurück, um mir zu signalisieren, dass er mir aufmerksam zuhörte. Es dauerte jedoch eine Weile, bis ich meine Gedanken sortiert hatte: »Der Tod und die Vergänglichkeit«, murmelte ich schließlich: »Nichts berührt die Menschen mehr, als das Bewusstsein einer allgegenwärtigen Endlichkeit. Auch die Liebe nicht. Romantische Liebe kann deswegen immer nur eine tragische, unmögliche und endliche Liebe sein. Wie die Liebe zwischen Himmel und Erde, die nur über das Wasser miteinander kommunizieren, sich aber nie berühren. Selbst am höchsten Gipfel nicht. Immer nur Regen und aufsteigender Morgentau. Ein ewiger Kreis aus Tränen und Anbetung.« Eliot nickte, und da er nicht weiter nachfragte, schwiegen wir beide. Vermutlich waren wir einfach zu hungrig, um zu reden.

Als uns der Kellner nach unserem schweigsamen Mahl fragte, wie wir die Rechnungen wünschten, sagte ich schnell: »Zusammen«, und zückte meine Geldbörse. Elliot ließ dies widerspruchslos geschehen. Die Selbstverständlichkeit, mit der er meine Einladung annahm, gefiel mir.

Auf dem Nachhauseweg setzten wir unser Gespräch fort, als hätten wir es nie unterbrochen, und kamen vom romantischen Tod bald auf den weniger romantischen Akt des Tötens und fragten uns, ob Menschen, die töteten, zwangsweise Mörder waren, und ob es sich eigentlich lohnte für die Verteidigung von abstrakten Begriffen wie Recht, Freiheit, Volk und Gott zu sterben, wie wir es bei unserem Eintritt in die Bundeswehr feierlich versprochen hatten. Auf der Suche nach festen Definitionen für gerechtes Töten und verdienten Tod verrannten wir uns jedoch in einem Labyrinth aus unauflösbaren Widersprüchen und Fragen, die nur solange eine einfache Antwort hatten, wie man sich nicht ernsthaft mit ihnen befasste.

Als wir schließlich am Ende unserer Weisheit angelangt waren, erzählte ich Eliot, wie mich derlei Fragen einmal fast meinen Job gekostet hatten. Eine Gruppe hysterischer Eltern hatte mir damals vorgeworfen, ihren Kinder etwas – und zwar etwas sehr Abstraktes – angetan zu haben. Ich hatte die Kinder jedoch lediglich durch mein Bekenntnis, nicht alles zu wissen, dazu angestiftet, über schwierige Fragen selber nachzudenken. Das war ihren Eltern, die unangenehme Fragen lieber mit Pauschalantworten oder Lügen unter den Teppich kehrten, jedoch nicht recht.

Das Unglück nahm seinen Lauf während eines Sommerfestes an unserem Standort. Wir hatten an diesem Tag auf dem Kasernengelände neben den auf solchen Festen üblichen Verköstigungsständen und Schießbuden auch verschiedene Attraktionen für Kinder aufgebaut. Die Kleinen durften an einen Kran gesichert einen wackeligen Turm aus Getränkekisten erklimmen, Eisschrauben in Eisblöcke drehen und in der Turnhalle klettern und abseilen üben. Ich selbst war damals noch Leutnant und für den eher weniger attraktiven Infostand zuständig.

Bei mir konnte man sich auf großen Plakatwänden über die Ausbildung zum Heeresbergführer informieren und Fotoalben mit Bildern von Touren und Winterbiwaks durchblättern. Auf einer langen Tischreihe und auf dem Boden war die Felsausrüstung der Gebirgsjäger ausgestellt: Skier und Seile, Schneetrittlinge und Steigeisen und sogar eine handbetriebene Seilwinde. Anders als im Museum war das Berühren und Ausprobieren der Exponate ausdrücklich erwünscht. Da sich für meinen Stand jedoch kaum jemand interessierte, hatte ich die meiste Zeit nicht viel zu tun. Deswegen stand ich einfach nur da und zählte die Dinge, als plötzlich eine Kinderhand an meinem Ärmel zupfte. Das kleine Mädchen, dem die Hand gehörte, wollte tatsächlich informiert werden und hatte unzählige Fragen über die an meinem Stand ausgestellten Werkzeuge und Ausrüstungsgegenstände.

Ihr Wissensdurst schien unerschöpflich, denn jede meiner Antworten warf zwei neue Fragen auf. Während ich ihr alles erklärte und zu jedem ausgestellten Gegenstand eine Anekdote zum Besten gab, füllte sich mein Stand mit immer mehr Kindern. Sie drängten sich um die Tische, setzten sich auf den Boden und stritten sich darum, wer als nächster eine Frage stellen durfte. Es schien ihnen zu gefallen, dass sich jemand die Mühe machte, selbst für komplizierte Fragen verständliche Antworten zu finden, ohne sich mit fadenscheinigen Erklärungen aus der Affäre zu ziehen oder der Bequemlichkeit halber einen Teil der Wahrheit unter den Tisch fallen zu lassen. Sätze wie »Das versteht Ihr noch nicht«, »Das weiß nur der liebe Gott im Himmel« oder »Das ist eben so« gab es bei mir nicht zu hören.

Die Plakatwände, Fotoalben und Ausrüstungsgegenstände wurden irgendwann uninteressant. Ich hingegen nicht. Im Gegenteil, die Kinder wurden immer anhänglicher und zutraulicher und stellten mir bald nicht mehr nur Fragen über das Klettern, sondern über alles, was ihnen in den Sinn kam. Interessanterweise erwarteten sie nicht, dass ich auf alles eine Antwort hatte, sondern versuchten, wenn ich nicht mehr weiterwusste, eigene Antworten zu finden. So wurde ich vom Geschichtenerzähler mehr und mehr zum Zuhörer. Neben dem Antwort Geben ist offenbar das Zuhören ein weiterer Punkt, den Erwachsene gerne vernachlässigen.

Als ich schließlich Hunger bekam, wollten mich die Kinder nicht weglassen, sondern teilten ihre Süßigkeiten mit mir und stritten sich darum, wer für mich zum Suppenstand gehen durfte. Eines der Kinder brachte mir eine leere Getränkekiste als Stuhl und kaum hatte ich mit gesetzt, setzten sich die anderen Kinder um mich herum, lehnten sich bei mir an oder kletterten auf meinen Schoß. Den Eltern war dies mehr als recht. Sie ließen ihre Kinder bei mir, um sich ein bisschen auf dem Fest die Beine zu vertreten. Im Nu machte die Kunde vom Standortkindergarten die Runde, weitere Eltern schauten mit ihren Kindern an meinem Stand vorbei und meine Anhängerschaft vergrößerte sich stetig. Die meisten Kinder waren Offizierskinder, die den Tag auf dem Kasernengelände verbringen mussten. Sie hatten für diesen Tag genug vom Kistenklettern und Schraubenbohren und waren froh, sich meine Geschichten anhören zu dürfen und mich alles fragen zu dürfen, was ihnen einfiel. Und ihnen fiel eine ganze Menge ein, vermutlich mehr als manch Erwachsener glauben mochte.

Auf eine Frage hatte ich jedoch auch nach langem Nachdenken keine Antwort. Die Frage kam von einem der jüngeren Kinder und klang mehr besorgt als neugierig. Ob Soldaten Mörder waren, wollte es wissen. Vermutlich hatte es die Frage aus dem Fernsehen. Als ich darauf jedoch keine endgültige Antwort finden konnte, bohrten die anderen Kinder zu meiner Überraschung nicht weiter nach, sondern hatten plötzlich Mitleid mit dem alten Geschichtenerzähler, der so viel wusste, aber nicht mit Sicherheit sagen konnte, dass er kein Mörder war. Zum Trost schenkten sie mir die gold-, silber- und bronzefarbenen Pappmachémedaillen, die sie beim Kistenklettern und Eisschraubenbohren gewonnen hatten. Gunnar trägt mir das noch immer nach: »Drei Tage lang«, weint er nach jedem hundertsten Bier, also etwa einmal im Monat, »hat mein Zug in den Hörsälen der Ausbildungskompanie an den Medaillen gebastelt – nur damit unser Fürst sie am Ende nach Hause tragen kann.«

Doch in der Woche nach dem Sommerfest wurde ich ins Büro des damaligen Bataillonskommandeurs zitiert, wo bereits ein Komitee aus wütenden Eltern auf mich wartete. Sie warfen mir vor, ich hätte den Kindern erzählt, dass Götter fehlbar, Menschen sterblich und Soldaten Mörder seien.

So hatte ich das natürlich niemals gesagt. Das war eine glatte Übertreibung der Erwachsenen, die nicht damit umgehen konnten, dass ihre Kinder anfingen, nachzudenken. Denn die Kleinen hatten sich in allem sehr viel verständiger gezeigt, als ihre Eltern das anschließend behaupteten. Seit jenem Erlebnis fürchte ich die Kinder. Nicht um ihrer selbst willen – nein, nein, sie scheinen mir fast noch die vernünftigsten Wesen auf diesem Planeten – sondern wegen der Eltern, die scheinbar unvernünftigsten Wesen im gesamten Universum.

Eliot und ich debattierten noch eine Weile über Vernunft und Unvernunft, bis das laute Rauschen der Isar unsere Stimmen übertönte. »Du bist übrigens kein Mörder«, rief mir Eliot zuletzt über das geschwätzige Plätschern des Flusses hinweg zu, bevor wir unseren Weg schweigsam fortsetzten, »weil ich auch keiner bin.«

Kurz nach elf erreichten wir meine Wohnung auf dem Kasernengelände, wo ich mich umgehend daran machte, das erloschene Feuer im Ofen neu zu entfachen und wie schon am Morgen Tee für uns aufzusetzen. Da Eliot bis auf die Haut durchnässt war, deckte er sich mit einem Satz trockener Klamotten aus meinem Kleiderschrank ein. Er hatte für diesen Tag genug Regen gehabt. Er hängte sich ein Handtuch um die Schultern und setzte sich im Schneidersitz auf den Boden, um Falks Filmkiste durchzugehen. Er blies den Staub von den Papphüllen der Videokassetten und las, sofern angegeben und lesbar, die Titel der amerikanischen Spielfilme, japanischen Zeichentrickserien und französischen Fernsehdokumentationen vor. Während ich dem Feuer im Ofen Luft zufächelte, erklärte ich Eliot, wie ich zu dem kuriosen Filmsortiment und dem dazugehörigen Abspielgerät und dem Fernseher gekommen war.

Für Falk ist Film und Fernsehen erste Bürgerpflicht, weswegen er mir bereits vor über einem Jahr einen ausgedienten Farbfernseher und Videorekorder überlassen hat. Ich hatte versucht, mich der guten Gabe zu erwehren, jedoch schließlich vor Falks Hartnäckigkeit kapituliert. Seitdem versorgt er mich regelmäßig mit Filmen und dergleichen. Da ich die Geräte jedoch trotz seines ständigen Drängens nie angeschlossen habe, wechseln sich in der Filmkiste Schichten aus Staub und Filmen miteinander ab.

Das Aufstellen und Verkabeln der Gerätschaften erledigte nun Eliot für mich. Ich hatte ihn nicht darum gebeten, hielt ihn jedoch auch nicht zurück. Er schien eine ähnliche Meinung über Film und Fernsehen zu haben wie Falk. Außerdem schienen die alten Geräte, für die es keine Anleitung gab und die zunächst nur ein geisterhaftes Rauschen von sich gaben, seinen Ehrgeiz und Spieltrieb entfacht zu haben. Also ließ ich ihn tüfteln und kümmerte mich weiter um den Tee.

»Juhu!«, jubelte Eliot, als sich das schwarz-weiße Flimmern plötzlich in eine aufrecht gehende, feuerspeiende Riesenechse verwandelte, die gerade dabei war, Telegrafenmasten niederzureißen, und sich auch nicht durch das Sperrfeuer, das Artillerie und Luftwaffe auf sie abgaben, davon abbringen ließ. Gebannt verfolgte verfolgte ich, wie die Echse, nachdem sie sich ihren Weg durch die blitzenden Telegrafenmasten und brennenden Panzer gebahnt hatte, einen Zug von den Schienen nahm und ihn zwischen ihren Kiefern zermalmte. Ich wollte wissen, wie es weiterging, doch ebenso plötzlich, wie das Bild auf der Mattscheibe erschienen war, verschwand es auch wieder, da Eliot auf die Stopptaste gedrückt hatte, um den Film zurückzuspulen: »Filmnacht?«, fragte er und schaute auf die Uhr. Es war kurz vor Mitternacht. Vollkommen überrumpelt und auch ein wenig überfordert fragte ich zurück, ob er damit meine, dass er vorhabe, bei mir zu übernachten.

»Ist das ein Rauswurf?«, fragte er beleidigt, doch ich wehrte schnell ab und erklärte, dass mir nichts ferner läge, als ihn zu solch später Stunde auf die Straße zu setzen.

»Gut«, sagte er zufrieden und suchte ein paar Filme heraus, der er gerne schauen wollte. Das größte Glück auf Erden war kurz davor, stattzufinden. Ein Tag ohne Abschied.

Falks Filmauswahl war nicht so schlecht, wie ich immer befürchtet hatte. Ich genoss die vektorlos über den Bildschirm flimmernde Geschichte, meinen heißen Tee und Eliots Kommentare. Leider schlief er noch während des ersten Films ein, sodass ich das Ende unkommentiert erleben musste. Das viele Bergan und Bergab war wohl doch zu viel für den Hammelburger Schützen, dessen Berufsalltag keine strapazierenden Gebirgsmärsche beinhaltete, sondern hauptsächlich darin bestand, stundenlang reglos in Stellung zu liegen und auf klare Sicht, Windstille und freie Schussbahn warten. So stelle ich mir das Leben eines Schützen jedenfalls vor.

Nachdem ich Eliot in voller Montur ins Nebenzimmer verfrachtet hatte, setzte ich mich mit einem Schlafsack neben den warmen Ofen, wo ich den Rest der Nacht mit der liegengebliebenen Büroarbeit der letzten Woche zubrachte: verschleppter Papierkram und Zusammenstellen von Schulungsmaterial für einen Kursus, den ich in der darauffolgenden Woche in der Winterkampfschule abhalten sollte. Erst als die Vögel erwachten, ließ ich die Arbeit ruhen und stahl mich leise nach draußen ins Freie. Zum Schlafen war ich zu aufgeregt. Seine Nähe machte mich euphorisch. Ich hatte das Gefühl, nie wieder schlafen, essen oder irgendeine andere menschliche Tätigkeit verrichten zu müssen, solange er in meiner Nähe war. Da ich mich vielleicht nie mehr in meinem Leben so fühlen würde, begann ich plötzlich wie von Sinnen zu rennen.

Ich rannte über den rauen Asphalt des Kasernenhofs und über die glatt geteerten Straßen der Nachbarschaft, durch den Morgennebel entlang der bewaldeten Berghänge und durch die sprühende Gischt der Wasserfälle, über das knirschende Kiesbett der steil abfallenden Kare und über die weich federnden Buckelwiesen. Als ich schließlich in die Zivilisation zurückkehrte, erwachte die Einkaufstraße gerade zum Leben. Da ich ein wenig Geld einstecken hatte, ging ich zu einer Bäckerei, um ein paar Brötchen und Stück Hefezopf zu kaufen. Die warme Brötchentüte verströmte einen duftenden weißen Nebel, als ich damit in die kühle Morgenluft trat. Ich verschloss die Tüte, um ihren Inhalt möglichst warm zu halten, bevor ich wieder wie von Sinnen zu rennen begann. Ich nahm den schnellsten Weg nach Hause und genoss das Gefühl, dass meine Wohnung durch Eliots Anwesenheit zu einem beseelten Ort geworden war.

Als ich zurückkam, war Eliot bereits auf. Er saß auf der Bettkante und schenkte mir ein langes und breites Lächeln. Etwas an seinem Lächeln machte mich jedoch stutzig. Vermutlich war es einfach eine Spur zu lang und zu breit und erregte dadurch einen gewissen Verdacht, der sich nach einem kurzem Blick auf meine Nachtkommode auch sofort bestätigte. Das normalerweise gleichmäßige Flimmern flackerte an einer Stelle etwas stärker, als wäre die oberste Schublade am Leben.

Mit Leben meine ich die feinen Vektoren, die immer dann entstehen, wenn unter einer scheinbar reglosen Oberfläche etwas pulsiert, wie Zahnräder hinter einem Ziffernblatt oder Blut unter den Fingernägeln. Da ich genau weiß, was sich in meiner Nachttischschublade befindet, war mir auch sofort klar, von was dieser schwache Puls ausging: von meinem abgeschnittenen Haarzopf, den ich dort in einer Metallbüchse aufbewahre. Eliot musste die Haare, kurz bevor ich die Wohnung betreten hatte, in die Dose gestopft haben, denn das leicht unstete Flackern kam daher, dass sich die Haarwolle langsam in der viel zu kleinen Dose zu entfalten versuchte. Dieses feine Knistern würde jeden Moment aufhören und in dem einheitlichen Flimmern der Schrankoberfläche aufgehen. Als Eliot bemerkte, wie ich die Schublade meines Nachtisches fixierte, lachte er verlegen und zeigte auf die Bäckertüte in meinem Arm: »Du warst schon unterwegs? Schläfst Du eigentlich nie? Ich habe Dich noch nie schlafen sehen.«

»Doch, als Du mir während des Dreikönigsmarschs einen Schlafsack übergeworfen hast«, erinnerte ich ihn.

»Wenn Du das mitbekommen hast, hast Du offensichtlich nicht geschlafen.« Er kniff die Augen zusammen, als würde er sich zum einem Geständnis durchringen: »Ich habe mir damals aber schon gedacht, dass Du nicht schläfst.«

»Wieso hast Du dann nichts gesagt?«, fragte ich.

»Ich vermutete, dass Du Deine Ruhe haben wolltest, und tat Dir den Gefallen.«

»Hm«, sagte ich und dachte an die Situation zurück: »Ich wusste, dass Du wusstest, dass ich nicht schlafe.«

»Ach ja?«, fragte er ungläubig: »Und warum hast Du dann nichts gesagt?«

»Aus demselben Grund, aus dem auch Du geschwiegen hast.« Wir stritten ein paar Mal hin und her, wer nun eigentlich wen überlistet hatte, bis unser Hunger und der süße Duft der Backwaren unserem Streit ein Ende setzten. Das Knistern der abgeschnittenen Haare in der Nachttischschublade hatte inzwischen aufgehört.

Obwohl ich die Augen hinter meinen Augen bisher auf Anraten des Professors die meiste Zeit geschlossen gehalten habe, haben sie nichts von ihrer Sehkraft eingebüßt. Im Gegenteil, ich habe das Gefühl, ich sehe besser als früher. Nicht etwa weil sich meine Augen verbessert hätten, sondern weil mein erwachsener Verstand die von Energiemustern überlagerten Bilder besser interpretieren kann. Wo ich als Kind nur grelle Blitze wahrgenommen habe, erkenne ich nun die Zusammenhänge aufeinander wirkender Kräfte, und wo ich früher nur verschwommene Echos gesehen habe, werden nun Vergangenheit und Zukunft deutlich. Plötzlich erscheint mir alles so klar. Und plötzlich fühle ich mich unvollständig, wenn ich die Augen hinter meinen Augen schließe.

Das Sehen mit Vektoren ähnelt dem Blick durch eine Lupe. Eine Lupe kann einen winzigen schwarzen Punkt in ein Insekt mit Gliedmaßen, Fühlern und Kieferzangen verwandeln oder die Luftblasen in einem Tautropfen sichtbar machen. Das Sehen ohne Vektoren ist entsprechend vergleichbar mit dem kurzen Gefühl der Blindheit, das einen befällt, nachdem man eine Weile durch eine Lupe geschaut hat und diese dann zur Seite legt.

Im Gegensatz zu einer Lupe vergrößern Vektoren nicht, sondern erweiterten und vertiefen. Wenn ich die Augen hinter meinen Augen öffne, sehe ich Ruhe und den Drang nach Bewegung, Vergangenheit und nahe Zukunft, Lebendigkeit und vollkommene Starre. Sehen ist jedoch nicht alles. Ich kann mehr als. Ich kann die Vektoren lenken: sie in Bewegungen versetzen, ihre Richtung umkehren, sie zum Stillstand bringen. Wie mit einer kabellosen Fernsteuerung greife ich mit meiner Aura in das Energiefeld eines Gegenstands ein und verändere die auf den Gegenstand einwirkenden Kräfte. Meissmann war schon immer der Meinung, dass dies möglich sein müsse. Mir ist es jedoch nie geglückt, bis ich gestern in einem kleinen Lokal zu Mittag aß.

Ich war wie immer früh dran, um dem verkehrsreichen Betrieb zur Mittagsstunde zu entgehen. Da ich mich nie lange aufhalte, verlasse ich das Lokal normalerweise, ehe die ersten Gäste eintreffen. Gestern allerdings betrat kurz nach mir eine weitere Person das Lokal, ein kurzbeiniger, dickleibiger Herr, der vermutlich in den Bergen Urlaub machte oder zur Kur hier war. Seine neue und teure Wanderausrüstung ließ ersteres vermuten, seine Kurzatmigkeit deutete auf letzteres hin. Vielleicht traf auch beides zu.

Seine Anwesenheit hätte mich nicht weiter gestört, wenn er nicht, kaum dass er Platz genommen hatte, eine Zigarette angezündet hätte. Er rauchte eine besonders aufdringlich riechende Marke, deren gelbe Rauchschwaden sich rasch in meine Richtung ausbreiteten. Ich warf dem Mann über meine Schulter hinweg einen Blick zu. Nicht nur, meine Missbilligung zum Ausdruck zu bringen, sondern auch um sicherzustellen, dass kein größeres Feuer ausgebrochen war.

Nachdem ich festgestellt hatte, dass es nicht brannte und dass missbilligende Blicke nicht helfen würden, wollte ich mich wieder meinem Essen zuwenden, hielt jedoch inne, als ich sah, wie eine von mir ausgehende Vektorwelle durch den Raum raste und dabei mit der durch die Luft schwebenden Rauchwolke zusammenprallte. In unzähligen kleinen Explosionen wurden die Rauchpartikel aus der Bahn geschleudert und zurückgedrängt. Irritiert beobachtete ich das Spektakel. So etwas wie eine Kollision von Vektoren konnte es meiner Erfahrung nach nicht geben. Vektoren sind so etwas unfertige Gedanken des Universums. Sie besitzen das Gewicht von Schatten und die Konsistenz von Licht. Die von meinem Körper ausgesandten Vektoren schienen jedoch plötzlich schwerer und fester zu sein als die Energiemuster, die von den Rauchpartikeln erzeugt wurden. So als hätte ihnen mein Ärger Gewicht und Masse verliehen.

Nach einem erneuten missmutigen Blick über die Schulter war ich sicher, dass ich mir das alles nicht eingebildet hatte, sondern dass ich den Zigarettenrauch nur energisch und wütend genug anschauen musste, um die auf mich zu schwebenden Rußpartikel zurückzustoßen. Durch die Drehung meines Kopfes erzeugte ich einen Impuls, der durch die Kraft meiner Gedanken Gestalt annahm. Die Bewegung spielte dabei eine untergeordnete Rolle, denn das Lenken der Vektoren geschah durch Konzentration und Willen. Ich wiederholte den Vorgang mehrere Male und stellte erstaunt fest, dass diese Form der Geistesarbeit meine Kräfte schneller aufbrauchte als ein Gewaltmarsch durchs Gebirge.

Mein Tischnachbar saß inzwischen unter einer Glocke aus dichtem Zigarrenrauch gefangen. Er hustete und prustete und wedelte mit seinen kurzen Armen, um den Rauch zu verscheuchen. Die Rauchpartikel flogen dabei wie wild durch die Luft, doch ich hielt mit aller Kraft dagegen, indem ich mich ein wenig in seine Richtung lehnte und auf die davonjagenden Rauchpartikel konzentrierte. Es dauerte eine Weile, bis der Mann bemerkte, dass seine hektischen Gesten nicht halfen, und er auf die Idee kam, die Zigarette auszumachen.

Er lockerte seinen Hemdkragen, fuhr sich mit dem Handrücken über seine glänzende Stirn und verließ schließlich das Lokal, ohne etwas bestellt zu haben. Durch die geschlossene Tür hörte man, wie er sich draußen auf der Straße die Seele aus dem Leib hustete. Die Rauchschwaden, die er zurückgelassen hatte, lösten sich nur zögerlich auf.

Erst als ich mich nach meinem hart erkämpften Sieg wieder meinem Essen zuwendete, bemerkte ich, wie erschöpft und ausgelaugt ich mich fühlte. Meine Kehle war ausgetrocknet, ich zitterte und mir war schlecht. Die Kellnerin war zum Glück zu sehr damit beschäftigt, sich um die Quelle der Rauchwolke Sorgen zu machen, um meine Misere zu beachten. Zuerst schrie sie: »Feuer!«, aber als sie kurz darauf bemerkte, dass es sich lediglich um besonders hartnäckigen Zigarettenrauch handelte, riss sie alle Fenster auf und wirbelte wie kurz zuvor der Mann mit ihren Armen durch die Luft. Mit zittrigen Fingern füllte ich derweil die Milch aus meinem Glas in meine Feldflasche, legte Geld auf den Tisch und ging nach draußen, wo ich mich auf eine Bank sinken ließ und umgehend einschlief. Als ich erwachte, war alles wieder in Ordnung und die Sonne hatte die Milch in meiner Feldflasche auf eine angenehme Temperatur gebracht.

Eliot folgte dem Duft der warmen Brötchen ins Wohnzimmer und verabschiedete sich von dort aus gleich weiter ins Bad. Er war bester Laune, bis er feststellte, dass es in meiner Wohnung kein fließend Warmwasser gab. Weder im Bad noch in der Küche. Alles, was ich ihm anbieten konnte, waren die Duschen in den Mannschaftsunterkünften oder etwas Wasser aus dem Topf, den ich immer auf dem Herd bereitstehen habe.

Mit einem skeptischen Stirnrunzeln beäugte Eliot den großen Wassertopf. Er bezweifelte, dass das Wasser darin auch nur ansatzweise ausreichen würde, um damit eine Badewanne zu füllen. Ich zuckte mit den Schultern. Ich hatte die Badewanne bisher nur zum Reinigen von Seilen und anderen Ausrüstungsgegenständen verwendet. Meinen nicht ganz ernst gemeinten Vorschlag, dass wir uns zu zweit in die Wanne setzen konnten, um den Wasserspiegel anzuheben, fand er nicht witzig, und als ich ihm als Alternativen zu den Sammelduschen in den Quartieren die Duschen im Kompaniegebäude, in der Turnhalle oder bei den Sanis ans Herz legte, antwortete er nur mit einem resignierten Seufzen.

Er habe sich schon am Abend zuvor über die antike Badewanne in meinem Badezimmer gewundert, sagte er, während er desillusioniert seine wenigen Optionen gegeneinander abwog. Dass es kein Heißwasser gebe, sei ihm allerdings nicht in den Sinn gekommen. Da er die Duschen in sämtlichen umliegenden Kasernengebäuden ausschloss, willigte er schließlich missmutig ein, eine Schüssel mit warmen Wasser mit ins Bad zu nehmen.

Während er ein wenig von dem heißen Wasser vom Herd mit kaltem Leitungswasser mischte, erzählte er mir, dass die selbstgebauten Sanitärinstallationen der meisten Feldbiwaks einen höheren Standard hätten als mein Badezimmer, und er riet mir bei meiner nächsten Wohnungssuche ein von der Artillerie zerstörtes Haus auf einem Truppenübungsplatz in Erwägung zu ziehen. Da fehlten zwar zumeist ein paar Fenster, Türen und Wände, aber im großen Ganzen böten sie einen ähnlichen Komfort wie meine derzeitige Bleibe auf dem Kasernenhof.

Seine Übertreibungen machten jede Äußerung zu einer Provokation und jeden Wortwechsel zu einer kleinen Zankerei, sodass ich fast froh war, als endlich die Badezimmertür hinter ihm ins Schloss fiel. Als er jedoch nur wenige Minuten später bibbernd und nur mit einem olivgrünen Handtuch um die Hüften bekleidet aus dem Bad trat, um in seine Kleider zu schlüpfen, die ich am Tag zuvor neben dem Herd zum Trocknen aufgehängt hatte, kam ich nicht umhin, ihn trotz seiner schlechten Laune zu mögen.

Ich hieß ihn sich hinsetzen und machte mir einen Spaß daraus, ihn zu bewirten. Ich stellte einen Toaster auf, machte Milch warm, schnitt Brot, wirbelte ein paar Eier durch die Pfanne und türmte alles auf, was ich an Essbarem in meinen Schränken und Schubladen finden konnte. Das Weißmehl munterte Eliots Stimmung schnell auf und bald war alles wieder so unkompliziert, als ob das Badewasserdebakel niemals stattgefunden hätte. Eliot hörte sich meine jammervolle Erzählung der Oslotragödie an, stimmte in meinen von Falk als nur bedingt komisch bezeichneten Humor ein und trank Tee, obwohl er eigentlich keinen wollte.

Nachdem ich ihm das Ende des Films der vergangenen Nacht erzählt hatte, nahmen wir den regnerischen Tag zum Anlass, einen weiteren Film aus Falks Sammlung einzulegen, und dieses Mal war ich derjenige, der dabei einschlief. Ich schlief nicht wirklich tief und fest. Es war mehr ein Dösen, wie wenn man eine Nacht am Berg verbringt und mit einem Ohr ständig auf seine Umwelt lauscht. Deswegen nahm ich trotz meines Dämmerzustands wahr, wie Eliot, nachdem die Videokassette durchgelaufen war, das Fernsehgerät ausschaltete, eine Nachricht auf ein Stück Papier kritzelte und sich schließlich auf Zehenspitzen aus der Wohnung stahl. Nachdem er die Tür leise hinter sich zugezogen hatte, richtete ich mich auf und beobachtete durch die zugezogenen Gardinen, wie er draußen in seinen Wagen stieg und dort einen kurzen Moment reglos verharrte. Bevor er losfuhr, schaute er noch einmal zu mir her, sah mich jedoch nicht.

Mit einem seltsam leeren Gefühl ließ ich mich auf das Sofa sinken und las die Nachricht, die er mir geschrieben hatte. Er bedankte sich für alles, bat um Entschuldigung für sein schlechte Laune am Morgen und verabschiedete sich mit einem ‘Bis bald’. Unterschrieben hatte er lediglich mit einem H und einem Punkt dahinter und in einem PS wies er mich zu guter Letzt noch darauf hin, dass er wisse, dass ich mich nur schlafend stelle. Sein PS war an meine Eitelkeit adressiert, doch ich verzieh ihm seine Stichelei genauso wie seine schlechte Laune und entschied noch im selben Moment, dass ich etwas an meiner Wohnsituation ändern musste.

Ein bis zwei Mal pro Jahr erinnert mich Heidt daran, dass die Wohnung nur als Übergangslösung gedacht ist und ich dort nicht auf ewig wohnen bleiben kann. Ich nicke dann immer und gelobe feierlich, dass ich mich darum kümmern werde. Obwohl Heidt weiß, dass nichts passieren wird, nickt er ebenfalls und die Angelegenheit ist wieder für eine Weile vom Tisch. Ich bin ein pflegeleichter Mieter. Von mir gibt es keine Beschwerden und ich verhalte mich so unauffällig, dass man meinen könnte, die Wohnung stünde leer. Heidts regelmäßiger Rausschmiss ist nur pro forma.

Die Standpauke, die mir Gudrun letzte Woche zu diesem Thema gehalten hat, war allerdings weniger pro forma: »Was willst Du ihm bieten? Einen Ausblick auf den Appellplatz mit musikalischer Untermalung durch die Marschlieder unserer Rekruten auf dem Weg zur Kantine? Du hast keinen Backofen, keinen Kühlschrank und kein Warmwasser. Unter Deinen Bodendielen befindet sich ein Naturschutzgebiet für Ungeziefer und an den Wänden Stock. Ein Schritt vor die Haustür bedeutet vier Kilometer Stacheldrahtzaun und noch mal ein Zehnfaches in Hektar an Beton. Um die eine Ecke ein Munitionsdepot und um die andere ein Truppenübungsplatz für Gefechtsübungen der Artillerie…« Ich musste ihrer Fantasie Einhalt gebieten, sonst hätte sie die Liste endlos so fortgesetzt.

Ihre Vorwürfe waren natürlich übertrieben. Es gibt hier weder ein Naturschutzgebiet für Ungeziefer und noch einen Truppenübungsplatz der Artillerie. Zugegeben, die Wohnung hat etliche Mängel, doch sie hat auch viele Vorteile. Sie ist klein und übersichtlich und war von Anfang an mit allen Notwendigkeiten ausgestattet. Darüber hinaus könnte sie nicht näher an meinem Arbeitsplatz liegen. Hinter meinem Haus fließt die Isar und nach vorne hinaus habe ich einen Blick auf den Hohen Brendten. Manche Touristen geben für eine solche Lage ein Vermögen aus. Eliot fand den Ausblick sogar trotz Regenwolken und dichtem Nebel idyllisch und ihm ist auch die angenehme Stille aufgefallen, die hier am Wochenende herrscht.

Trotzdem hielt mir Gudrun nach ihrer Standpauke Christophs Wohnungsbroschüre unter die Nase und rang mir das Versprechen ab, mich baldmöglichst mit ihm in Verbindung zu setzen. Widerwillig sagte ich zu. Ich solle mich ja nicht wieder bei ihr blicken lassen, ohne vorher einen Mietvertrag unterzeichnet zu haben, rief mir Gudrun noch drohend hinterher, als ich mich mit einem ›Klar, klar, mach ich!‹ langsam Richtung Tür stahl und schließlich mit einem kurz angebundenen ›Bis bald!‹ schnurstracks aus ihrem Büro floh.

Es ist nicht so, dass ich mich gegen eine neue Wohnung wehre. Nicht mehr jedenfalls. Eliot ist verwöhnt und eine Wohnung mit Warmwasserleitung von daher Pflicht, aber das wird mein grundlegendes Problem nicht lösen. Mein Elend verfolgt mich auf Schritt und Tritt und wird nicht an der Schwelle zu einer neuen Wohnung haltmachen. Es ist, als bestünde ich nur noch aus Resignation und Sehnsucht, Wahnsinn und Wut.

Als ich am Abend von einem Rundlauf durch den Wald zum Kasernengelände zurückkehrte, fühlte ich Wut – Wut auf mich selbst und auf alles. Selbst das Flattern unserer geliebten schwarz-rot-gold gestreiften Flagge machte mich wütend. Kurz vor dem Schlagbaum zum Kasernengelände hob ich, während ich in vollem Lauf den Fahnenmast zurannte, meine Arme und beobachtete wie sich meine Vektoren dem flatternden Stück Stoff entgegenstreckten. Beschleunigt durch meinen Lauf und das Hochreißen meiner Arme erreichten sie die Flagge in Windeseile. Anstatt die Vektoren der Fahne durch die Luft zu scheuchen, wie ich es bei den Rauchpartikeln getan hatte, packte ich das flatternde Stück Stoff und hielt es fest. Es war ein Kampf gegen den Wind und die Schwerkraft, aber für einen kurzen Augenblick stellte die Fahne tatsächlich das Flattern ein.

Es sah nicht besonders elegant aus, eher wie ein Stück bemaltes Wellblech, das mehrfach von einem Panzer überfahren worden war. Der dösig in die Luft starrende Wachposten bemerkte die merkwürdig zerknitterte Flagge allerdings sofort und stürmte sogleich ins Wachhäuschen, um seinen Kameraden zu rufen. Als die beiden herauskamen, wehte die Flagge jedoch schon längst wieder im Wind, als wäre nichts gewesen, während ich mich vollkommen erschöpft nach Hause schleppte, wo ich mich zunächst übergab und anschließend schlafsüchtig ins Bett sank. Manchmal hat der Professor eben doch recht.

~ Wilhelm Fenner

Samstag, 11. Apr.. 1992
Bezugsdatum
Samstag, 11. Apr.. 1992
Kapitel
13
Dateinummer
1302