Ein neues Jahr II

Gespeichert von eloroke am Do., 16.03.2023 - 21:08

Doch irgendwann und scheinbar ohne triftigen Grund ging Tomos Leidenschaft für hontonihontoniyorusu verloren und er wollte fortan nur noch Deutsch sprechen. Zurecht beschwerte er sich darüber, dass unsere eigene Sprache umständlich, unvollständig und begrenzt sei, aber er nannte sie sogar kindisch. Hatte sie sich bisher selbständig und intuitiv entwickelt, begann ich nun mit aktiver Sprachpflege und verbrachte ganze Tage damit, unser Kauderwelsch zu systematisieren. Ich legte Wörterbücher und Tabellen an und baute, während Tomo in der Schule lateinische Buchstaben und arabische Ziffern lernte, unseren bis dahin nur bruchstückhaft vorhandenen Zeichensatz zu einem vollständigen Alphabet aus. Um die unterschiedlichen Laute vollständig in Schriftform abbilden zu können, bediente ich mich größtenteils aus dem Repertoire der alten Germanen und Phönizier, erfand aber auch eigene Schriftzeichen und Akzente. Ich arbeitete Wochen und Monate an meinem umfassenden Sprachkompendium, da ich mir beim Schreiben größte Mühe gab und immer wieder, von Krämpfen in der linken Hand geplagt, ausruhen musste.

Tomo gefiel meine Arbeit. Jede Nacht ließ er sich mein Tagwerk ganz genau erklären, las meine Wörtersammlung durch und brachte Korrekturen an. Dennoch gewann das Deutsche immer mehr die Oberhand, während unsere eigene Sprache trotz meiner Mühen verkümmerte. Erst in der Nacht, in der ich mein Skalpell gegen meinen besten Freund richtete, anstatt Meissmanns Labortierchen damit zu Tode zu quälen, stammelte Tomo einen letzten Satz in unserer Sprache. Das Messer steckte bereits in seiner Brust.

Doch schmerzlicher als die Klinge trafen ihn wohl die Worte, mit denen ich ihn damals zum Teufel wünschte und mich für immer von ihm lossagte. Worte können manchmal tödlich sein. Schnell hat man sich im Ton vergriffen, zu viel gesagt, etwas Wichtiges ausgelassen, eine Fehlinformation weitergegeben oder sich um Kopf und Kragen geredet.

Deswegen las ich die ersten paar Sätze sicherheitshalber von einem Notizzettel ab und erkundigte mich nach einem zuvor mehrfach geprobten Hallo, ob er von seinem Fiebervirus genesen und heil nach München zurückgekehrt sei. Eliots Hallo klang überrascht, aber freundlich und er behauptete sogar, sich über meinen Anruf zu freuen. Es gehe ihm schon lange wieder gut, erzählte er. Gleich am nächsten Morgen sei er wieder auf den Beinen gewesen, taufrisch und quicklebendig, als wäre nichts gewesen. Nachdem die erste Hürde erfolgreich genommen war, atmete ich erleichtert aus und schaute in meine Notizen.

Der nächste Punkt auf meiner Liste war, ihm von dem bevorstehenden Dreikönigsmarsch zu erzählen und ihn zu unserer Wanderung durch die Alpen einzuladen, doch dazu kam ich nicht, da sich unser Gespräch, kaum dass wir das Begrüßungszeremoniell hinter uns gebracht hatten, verselbständigte und dabei längst nicht mehr aktuelle Tagesnachrichten, ungelöste philosophische Fragen des Abendlands und lästige, aber im Wesentlichen harmlose Alltagswehwehchen streifte. Eliot bestritt einen Großteil der Unterhaltung im Monolog, brachte jedoch keinen seiner Gedanken zu einem schlüssigen Ende. Er sprach über Gott und Ingwerwurzeln, lachte über seine eigenen Witze und fragte mich dann und wann auch nach meiner werten Meinung zu den Dingen. Ich versuchte, mit seinen wirren Gedankensprüngen Schritt zu halten, und lauerte auf eine günstige Gelegenheit, mein Anliegen vorzubringen.

Als ich ihm dann endlich meinen Vorschlag unterbreitete, an unserem diesjährigen Dreikönigsmarsch teilzunehmen, wurde es plötzlich still auf der Leitung. Eliot druckste herum und wand sich wie ein nasses Seil, das sich nicht aufnehmen lassen wollte, bis er nach etlichem Hin und Her seine Bedenken aufgab und zusagte. Ich musste ihm jedoch mehrmals versichern, dass er nicht der einzige Anfänger in der Truppe sein würde und dass die Route keine schwierigen Kletterstellen beinhaltete.

Der Dreikönigsmarsch ist eine von Falk ins Leben gerufene Neujahrstradition. Ich selbst habe bisher erst ein einziges Mal daran teilgenommen, aber die Unternehmung feiert inzwischen ihr fünfjähriges Jubiläum. Falk geht es dabei ausnahmsweise nicht um lebensgefährliche Höhenflüge, sondern er plant das Ganze als gemütlichen Spaziergang durch die winterliche Bergwelt – flache Gletscherebenen, abgesicherte Klettersteige, freundliche Berggrate und reichlich Zeit für Vesper und Schneeballkämpfe. Der größte Teil der Strecke stellt somit keine größeren Herausforderungen dar, und da die Hälfte der Teilnehmer ohnehin aus Bergführern besteht, ist auch für die Überbrückung der etwas schwierigeren Passagen gesorgt.

Nachdem sich Eliot zu einer Zusage hatte überreden lassen, zerbrach er sich den Kopf über Kleidung und Ausrüstung, als würde er auf eine Expedition in das ewige Eis der Antarktis aufbrechen oder den Mount Everest besteigen. Erst als ich ihm versprach, dass wir uns um alles kümmern würden und er lediglich an warme Kleidung, winterfestes Schuhwerk und dicke Socken denken solle, legte sich seine Panik. Seine Vorsicht war zwar ein wenig überdreht, im Grunde aber nicht verkehrt. Mangelhafte oder falsche Ausrüstung kann einem sehr schnell den Spaß verderben.

Auf Meissmanns Forschungsreisen nach Nepal oder durch das russische Hinterland war ich oft für die dort vorherrschenden klimatischen Verhältnisse unzureichend ausgerüstet gewesen. Meine Füße wurden immer wieder nass und waren bald dermaßen durchgefroren, dass mir jeder Schritt Schmerzen verursachte. Während einer dieser Unternehmungen versuchte ich, der Tortur ein vorzeitiges Ende zu setzen, indem ich eine Waffe zum Einsatz brachte, die gegen Meissmann selbst zwar nichts auszurichten vermochte, aber bei einem der Expeditionssponsoren eine enorme Wirkung zeigte: Ich weinte. Und zwar so lange, bis der Marsch durch die menschenfeindlichen Eislandschaften abgebrochen wurde und wir ein nahegelegenes Zeltdorf ansteuerten. Die Tour wurde später aus verschiedenen Gründen nicht fortgesetzt. Vielleicht auch ein bisschen meinetwegen, aber Meissmann ist in dieser Hinsicht nicht nachtragend. Ich glaube, das liegt daran, dass er keine Gefühle hat. Er liebt nicht und er hasst nicht. Deswegen ist ihm Rache ebenso fremd wie Gnade. Er reagiert auf einen Störfall in dem Moment, in dem er auftritt, niemals nachträglich.

Obwohl mir der Vergleich im Nachhinein schwerfällt, da meine Beine früher kürzer waren und mein Wille heute stärker ist, glaube ich, dass die Winter meiner Wahlheimat den kalten und kargen Erdregionen, durch die uns Meissmann damals führte, an Garstigkeit in nichts nachstehen. Aber ich weine nicht mehr, sondern ertrage die Plackerei mit dem Stolz und Trotz, den man von jemandem aus Evas Linie erwarten würde.

Als ich die Geschichte vom Sündenfall zum ersten Mal hörte, war ich über Evas Dummheit bitter enttäuscht, doch Milada erzählte mir eine andere Geschichte über die Urmutter der Menschen. Sie sei keine Sünderin gewesen, wie das die Kirchengelehrten darstellten, sondern ein wissbegieriges Menschenkind, dessen Augen durch die Frucht der Erkenntnis geöffnet worden waren und das sich durch das Wissen um sein eigenes Selbst aus der Rolle des vollkommen auf Gottes Gnade und Willen gestellten Dieners befreien konnte. Freiheit habe in der Menschheitsgeschichte immer ihren Preis gehabt. Dennoch hatten wir uns von Sklaverei und Tyrannei befreit. Die verbotene Frucht, erklärte mir Milada, sei nur ein Symbol für Entwicklung, Einsicht, Erfahrung und Erkenntnis. Dieses Wissen wachse selbst im Paradies nicht einfach auf Bäumen, sondern müsse auch dort mühsam gesammelt werden. Laut Milada gab es auch im Paradies Bibliotheken, Laboratorien und andere der Forschung dienliche Einrichtungen. Mit Hilfe der Schlange habe sich Eva Zugang zu diesem für Menschen verbotenen Wissen verschafft, um anschließend gemeinsam mit ihrem Gefährten Adam aus Gottes goldenem Käfig zu fliehen. Sie mussten zwar fortan selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen, waren aber dafür keine Gottesmarionetten mehr, sondern freie Menschen.

Miladas Version des Sündenfalls begeisterte mich so sehr, dass ich mir umgehend vornahm, eines Tages selbst einen solchen zu begehen. Wie mein Vorbild EVA I würde auch ich den Weg der Erkenntnis wählen – gemeinsam mit Adam. Doch als ich später tatsächlich aus dem Garten Eden auszog, ließ ich meinen Gefährten, ließ ich Adam, ließ ich Tomo zurück. Schlimmer noch: Ich tötete ihn, damit er mir nicht folgen konnte.

Ich frage mich manchmal, ob Eva ihren Schritt je bereut hat, wenngleich nur für einen kurzen Augenblick. Als Meissmann damals unverhofft im Waisenhaus aufgetaucht war, habe ich mich an seinen Hosenbeinen festgehalten und ihn angefleht, mich wieder zurück ins Institut zu bringen. Ist Eva etwa auch zu den Pforten des Paradieses zurückgelaufen und hat die Cherubim gebeten, sie wieder hineinzulassen? Wahrscheinlich nicht. Denn sie hat Adam mit nach draußen in die freie Welt genommen. Die beiden konnten sich gegenseitig trösten. Ich hingegen war allein geflohen und der neuen Welt vollkommen trostlos ausgeliefert.

Milada bestand darauf, dass wir niemals aufhören dürften, Fragen zu stellen, sondern dass wir dem Weg, den uns Eva geebnet hatte, weiter folgen müssten. Ich weiß nicht, ob ich meinen größten Sündenfall bereits hinter mir habe oder ob er mir noch bevorsteht. Nur eins weiß ich sicher, sollten sich mir die Pforten erneut öffnen, werde ich sie nicht alleine durchschreiten. Manchmal schaue ich zurück auf die vielen Pforten, die ich bereits passiert habe: das Institut, die Eltern, die Schule, die Bundeswehr, Oheim, die Ausbildung zum Bergführer. Es war ein steiniger Weg, aber ich habe viel dazugelernt.

Ich bin kein Schnellmerker, das gebe ich zu, und wirkliches Talent besitze ich auch keins, jedenfalls nicht für die Dinge, die im Leben zählen. Meine Art zu lernen ist eine langsame, sture und oftmals auch schmerzhafte und manche Dinge lerne ich scheinbar nie. Vor dem Element Wasser habe ich noch immer den größten Respekt, aber mit viel Geduld ist es mir gelungen, den Tücken des Hochgebirges zu trotzen und unter Menschen Mensch zu sein.

Im Gegensatz zu den Geheimnissen des Menschseins, kann man die meisten Gefahren der Bergwelt in Büchern nachlesen oder sich während der Ausbildung zum Bergführer von seinen Trainern erzählen lassen. Man kann aber auch auf seine Intuition vertrauen und alle Gefahren am eigenen Leib ausprobieren. Ich entschied mich für die intuitive Methode, denn für Bücher hatte ich als Gefreiter kein Geld und die Ausbildung am Berg ging bei der Bundeswehr am Anfang zu langsam voran. Wir verplemperten zu viel Zeit mit anderen Dingen. Zum Beispiel bauten wir ständig unsere Waffe auseinander und wieder zusammen. Wirklich ständig und meistens grundlos.

Ich konnte jedoch nicht warten, bis ich die ganze Theorie gelernt hatte, denn nachdem ich mein Zuhause in Calden aufgegeben hatte, verbrachte ich fortan alle meine Wochenenden und Feiertage am Standort und es gibt nichts Deprimierenderes als einen leeren Kasernenblock am Wochenende. Das Gebäude wird nicht kleiner, nur weil von den hundert lärmenden Soldaten nur noch einer übrig ist. Die Gänge sind leer, kalt und dunkel. Selbst wenn man das Licht anmacht, werden sie nicht hell. Ein menschenleerer Kasernenblock ist nicht zu vergleichen mit einem nächtlichen Kontrollgang durch die leeren Flure, während die Kameraden in ihren Stuben schlafen, obwohl auch das schon bedrückend sein kann.

Alle Geräusche, die man in dieser vollkommenen Einsamkeit verursacht, klingen wie ein entsetzliches Kreischen, egal ob man mit einem Stuhl über den Boden schrappt, eine Buchseite umblättert oder im Waschraum Wasser laufen lässt. Alles kreischt. Deswegen floh ich an den Wochenenden in die umliegende Bergwelt, selbst wenn der Wetterbericht davon abriet und der Alpenverein vor Lawinen und Steinschlag warnte. Auf diese Weise blieb es nicht aus, dass ich mich immer wieder in die ein oder andere, mehr oder minder missliche Lage manövrierte. Wie an dem Tag, als ich trotz heftiger Wolkenbrüche eine Wanderung durch die Wälder entlang der Steilhänge einer Schlucht unternahm.

Die Ausbilder hatten uns die ganze Woche über an kurzer Leine gehalten. Es hatte tagelang wie aus Kübeln gegossen, die Isar führte Hochwasser und die Berge reinigten sich von Schutt und Erde. Anstatt mit uns in den Bergen zu klettern oder auf den Gletschern skifahren zu gehen, hatten uns die Zugführer in voller Montur und Bewaffnung durch schlammige Felder kriechen und verschiedene Kampfmanöver absolvieren lassen. Als dann endlich das Wochenende kam, hängte ich mir ein Seil um den Hals und ging raus. Was scherte mich der Regen? Ich hatte ja einen wasserdichten Anorak.

Der Begriff ›wasserdicht‹ erschloss sich mir jedoch neu, als ich nach weniger als zwei Stunden bis auf die Knochen durchtränkt war. Dennoch zog ich weiter. Umkehren hätte ja bedeutet, in die verlassene Kaserne zurückzugehen, und das kam nicht infrage. Das Seil, das sich vollkommen nutzlos über meine Brust spannte – ich weiß nicht, warum ich es überhaupt mitgenommen hatte – war schlecht imprägniert. Wie ein durstiger Schwamm saugte es den Regen in sich auf und wog bald das Doppelte seines ursprünglichen Gewichts.

Meine Wanderung war total chaotisch. Anfangs folgte ich noch angelegten Wegen und Klettersteigen, verließ die vorgegebenen Routen jedoch, um mir ein Wettrennen mit ein paar Gämsen zu liefern, woraufhin ich die Orientierung verlor und schließlich im Nichts landete. Das Gelände wurde immer steiler und schwieriger, bis ich nur noch auf den Außenkanten meiner Bergstiefel Fuß fassen konnte. Aber durch die Nässe rutschte ich immer wieder ab. Es war eine Quälerei. Aber umkehren? Niemals! Ich kämpfte mich immer weiter voran. Durch den prasselnden Regen. Über die steilen Abhänge. Auf schlammigem Boden. Immer der Nase nach.

So vergingen Stunden und ich wurde hungrig. Ich hatte ein paar Münzen und einen Hartkeks dabei. Die Verköstigung in Berghütten und Almwirtschaften ist oftmals sehr teuer, aber bei einem armen Soldaten drücken sie bisweilen ein Auge zu. Man setzt sich nicht an den Tisch, sondern an den Kamin und behält Jacke und Mütze auf. Wenn die Bedienung dann nach den Wünschen fragt, zeigt man sein Kleingeld vor und fragt: »Was kriege ich dafür?« Entweder jagen sie Dich weg oder sie geben Dir einen Schlag aus dem Suppentopf und ein Glas Milch. Das alles habe ich nicht selbst herausfinden müssen. Oheim hat es mir beigebracht.

Die Münzen in meinen Taschen waren mir bei meinem Steilwandabenteuer jedoch keine Hilfe. Ich war weit entfernt von jeglicher Form von Zivilisation, aber für einen Hartkeks war mein Hunger noch nicht groß genug. Ich hatte gut gefrühstückt und es war erst früher Nachmittag. Statt etwas zu essen, trank ich mir an einem der unzähligen Rinnsale, die an den Kalkeinschneidungen der Waldhänge entlang rannen, den Magen voll und ging weiter. Ich musste mich jedoch inzwischen beeilen, denn ab fünf Uhr würde die hereinbrechende Dunkelheit das Weitergehen zunehmend erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen. Ich stand zu jenem Zeitpunkt noch sehr unter Meissmanns Einfluss und wagte es nicht, Vektoren einzusetzen. Doch ohne Vektoren bin ich bei Dunkelheit nahezu blind.

Ich lief und lief und lief. Doch das Gelände meinte es nicht gut mit mir, sondern lotste mich in Sackgassen oder schüttelte mich wie ein lästiges Insekt aus seinem Pelz. Mehrmals wäre ich beinahe in die Schlucht gestürzt, konnte mich jedoch immer wieder fangen. Zurückgehen war inzwischen keine Option mehr, als der Regen anzog und die Dämmerung begann. Die Erde über mir, unter mir und um mich herum geriet immer mehr ins Rutschen. Faustgroße Steine – zwischendurch auch der ein oder andere recht stattliche Felsbrocken – kullerten im Zickzack die Hänge hinunter und schlugen dabei immer wieder dumpf auf der Bergflanke auf, bevor sie endgültig in die Tiefe stürzten. Trotz meines Helms musste ich mich in acht nehmen. Doch meine Wanderung nahm ohnehin ein jähes Ende, als der Berg meine Kraxelei endlich satthatte und mich gemeinsam mit einer Lawine aus losem Geäst und matschigem Erdboden den Hang hinab schickte. Ich fiel nicht wirklich, sondern rutschte und schlitterte und versuchte mich dabei immer wieder festzuhalten. Doch nichts vom dem, was ich zu fassen bekam, konnte meinen Sturz aufhalten. Stattdessen riss ich alles mit mir, bis ich schließlich auf einem vorstehenden Felsdach zum Liegen kam. Links und rechts donnerte der Rest der Lawine weiter in die Tiefe, während ich mich sofort aufrappelte und unter den Wandvorsprung kroch, der meinen Sturz gebremst hatte. Dort kauerte ich mich auf mein nasses Seil und starrte entgeistert auf den Wasserfall, der über die Kante meiner neuen Felsbehausung spülte und dabei Unrat aus den höheren Hanglagen mit sich führte, Zweige, Steine, Erde, Laub.

Ich saß mit angezogenen Beinen auf meinem Seilnest und wartete im wahrsten Sinne des Wortes auf besseres Wetter, als plötzlich ein weiterer Gast Zuflucht unter dem Steindach suchte. Es war ein Fuchs, der sich mit einem behänden Satz durch den Wasserfall unter das schützende Dach rettete. Nachdem er sich das Wasser aus dem Pelz geschüttelt hatte, schaute er mich misstrauisch an. Vermutlich fragte er sich, was ich hier verloren hatte. Ich starrte jedoch ebenso misstrauisch zurück. Ich war noch nie zuvor einem wilden Tier so nah gewesen.

Auf diese Weise verbrachten wir bestimmt eine halbe Stunde, bevor sich der Fuchs endlich entspannte und auf dem kühlen Erdboden zusammenrollte. Auch ich entspannte mich, ließ meine Knochen knacken und kramte mein Hartkeks hervor. Sofort sprang der Fuchs wieder auf seine vier Pfoten und verfolgte jede meiner Bewegungen mit einem argwöhnischen Blick. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Als Soldat stank ich nach Panzeröl und Munition, anhängliche Gerüche, gegen die selbst die stärkste Seife und die kratzigste Bürste nicht ankommen. Ich sagte ihm, er solle sich beruhigen. Bis der Steinschlag aufhöre, säßen wir nun einmal im selben Boot. Aus seinem weiterhin misstrauischen Blick schloss ich, dass er mich nicht verstehen konnte.

Als ich ihm jedoch ein Stück von meinem Hartkeks anbot, verstand er sehr wohl, was ich meinte, und ließ sich nicht zwei Mal bitten, sondern verschlang den kleinen Brocken, den ich ihm hingeworfen hatte, als wäre er am Verhungern. Ich gab ihm noch ein paar Krümel von meiner Ration ab, aß selbst einen Happen und packte den Rest wieder in meine Tasche. Bevor ich mich jedoch wieder in meine kauernde Haltung begab, rollte ich mein Seil ein wenig aus, damit mein neuer Freund nicht auf dem Boden liegen musste. Er nahm das Angebot jedoch nicht an. Auch dann nicht, als ich ihm etwas von Körpertemperatur, Auskühlung und Wärmedämmung erzählte. Solche Dinge verstand er nicht.

Als es plötzlich dunkel wurde – so plötzlich, als ob jemand einen Lichtschalter gedrückt hätte –, war ich vollständig auf Hören und Fühlen angewiesen. Zu hören gab es nicht viel, denn das Prasseln des Regens und das Poltern der runterfallenden Steine übertönten alles, sogar das Heulen des Windes und das Rumoren der Tierwelt. Aber ich spürte, wie es sich der Fuchs in der Seilschlaufe, die ich für ihn ausgelegt hatte, bequem machte. Ich fand in jener Nacht zunächst kaum Ruhe, weil sich mein Mitbewohner immer wieder streckte und rekelte und seine Schnauze an meiner Tasche rieb. Als ich jedoch am nächsten Morgen erwachte, war ich allein in der Höhle. Auch der Hartkeks war weg. Kein allzu großer Verlust, denn der Regen hatte aufgehört, was meine Laune auch ohne Frühstück hob. Der Rand der Sonne glitzerte über den Bergzinnen, der Boden dampfte und ich war mittendrin. Ich freute mich über den neuen Tag, hängte mir mein nasses Seil über die Brust und wanderte weiter.

Elli würde ich diese Art Erfahrung ersparen können. Größtenteils jedenfalls, denn die Natur ist unberechenbar und leider nicht immer gnädig. Er hatte inzwischen zur seiner anfänglichen Gesprächigkeit zurückgefunden und erzählte von den Dingen, die ihn zurzeit beschäftigten. Er hatte sich nach der Jahresabschlussfeier von Pragen und Cecilia mit zurück nach München nehmen lassen und sich unterwegs die Unterstützung des Oberstleutnants für seine Idee sichern können, mit der er die Ausbildung unserer Schützeneinheiten reformieren wollte. Es ging dabei um die Verbindung traditioneller asiatischer Nahkampfstrategien mit modernen, halbautomatischen Handfeuerwaffen. Auf meine Frage, was ich mir darunter vorzustellen habe, folgte ein konfuser Abriss über Ballistik, räumliche Polarkoordinaten und die waffenlose Kampfkunst aus dem Süden Japans. Ich kam kaum mit, als er vom Bundesverteidigungsministerium, vom Kölner Dom und von der Hammelburger Infanterieschule redete, glaubte jedoch bald zu verstehen, dass er nach Köln gehen wollte.

»Köln?«, fragte ich in der Hoffnung, mich verhört zu haben. Dem war jedoch nicht so. Eliot war begeistert von der Aussicht, nach Köln versetzt zu werden, und auf meine Frage, ob er denn München nicht vermissen würde, antwortete er mit einem entschiedenen Nein. München sei eine unfreundliche und bornierte Stadt. Sobald er sich in Köln häuslich und beruflich eingerichtet habe, wolle er seinen Freund Jan nachholen, der die kleinkarierte Münchner Uniformität ebenfalls satthabe. Jan lebe wie er in einem kleinen Apartment im Feldwebelwohnheim und sehne sich schon lange nach einer farbenfreudigeren Umgebung. Während es Jan dabei mehr um die Auswahl an Frauen ging, war Eliot, wie er es ausdrückte, auf der Suche nach einem Heilmittel gegen das Nichts. Vielleicht würde in Köln seine Flöte Amaterasu zu neuem Leben erwachen, seufzte er, denn er spiele in letzter Zeit immer dieselben einfallslosen Liedschnipsel oder komplizierte Fingerübungen ohne Melodie.

Ich solle ihn unbedingt in Köln besuchen, lud er mich schließlich ein, dann würde ich den Unterschied schon sehen. Ich erklärte, dass, selbst wenn er mit seiner Meinung über München und Köln recht behalten sollte, Köln niemals eine Option für mich sein könne. Ein Gebirgsjäger könne ebenso wenig dem deutschen Süden den Rücken kehren, wie ein Kampfschwimmer seine norddeutschen Gefilde verlassen könne. Das sah er ein und ich glaubte sogar, ein wenig Mitleid aus seiner Stimme zu hören.

Seine Anteilnahme währte jedoch nur einen kurzen Moment, bevor er mit seiner begeisterten Erzählung fortfuhr. Ich folgte seinen Ausführungen schweigend. Seine kurzer Anflug von Mitgefühl lag vor mir wie als Gnadenbrot über den Zaun geworfene Essensreste. Mehr hatte er nicht für mich übrig.

Tomo hatte mich damals auf ähnliche Art zurückgewiesen. Nachdem er unsere Sprache verraten hatte, entfernte er sich immer weiter von mir. Wenn ich ihm zu nahe kam, zuckte er zurück. Wenn ich seine Hand nehmen wollte, schubste er mich weg. Er nannte meine Anhänglichkeit damals kindisch, aber heute verstehe ich, was er mir mit seinem abweisenden Verhalten eigentlich sagen wollte. Er brauchte mich nicht so sehr, wie ich ihn brauchte, und vielleicht war das auch einer der Gründe, warum er später sterben musste. Dabei hatten wir uns einst feierlich das Jawort gegeben. Ich gebe zu, es klingt schon bemitleidenswert einsam, wenn man seinem eigenen Schatten einen Heiratsantrag macht.

Tomo war zwar nicht mein Schatten, aber die wahre Natur seines Wesens habe ich bis heute nicht richtig verstanden. Es gab Zeiten, da zweifelte ich daran, dass ich wirklich ein Mensch war, und es gab Zeiten, da zweifelte ich daran, dass Tomo wirklich nur ein Hirngespinst war. Fest steht allerdings, dass ich von Liebe nicht besonders viel verstehe. Damals nicht und heute auch nicht. Wie auch? Man bekommt dafür keine Anleitung wie etwa beim Skifahren, Klettern oder Iglubauen. Die Literatur hilft an dieser Stelle auch nicht weiter. Ich habe Werthers Briefe so oft gelesen, dass ich sie auswendig kenne. Ich erkannte zwar mich in seiner Betrachtung der Dinge und in seiner Wut wieder, aber die letzten Seiten ließ ich beim wiederholten Lesen allerdings immer aus, da sich unsere Wege an seiner letzten Entscheidung trennten. Sein Konzept von Liebe war verstörend. Sebastian war auch von Werthers Schlag. Im Gegensatz zu mir, teilte er jedoch nicht nur Werthers Stärken, sondern auch seine letzte Schwäche.

Es war ein eisiger Novembertag, als der junge Offiziersanwärter an meiner Wohnungstür auf dem Kasernengelände klingelte. Ich war überrascht, da ich für gewöhnlich keinen Besuch in meiner zwischen dem westlichen Isarufer, der Mannschaftsküche und dem Standortlazarett gelegenen Einsiedelei empfange. Mein Wunsch nach Zurückgezogenheit und Distanz wird von den meisten Leuten respektiert. Selbst Falk hält sich an dieses ungeschriebene Gesetz. Bis auf den mittäglichen Durchgangsverkehr zur Kantine, gelegentliche Kampf- und Bergungsmanöver auf dem hinteren Kasernenhof und den Motorenlärm der Sanitätsfahrzeuge habe ich es sehr ruhig getroffen. Nur in Notfällen schellen sie mich raus: Wie damals, als ein volltrunkener Kompaniechef halbtot in den seichten Fluten am Isarhorn trieb oder als sich ein Volltrottel aus unserer Ausbildungskompanie während einer Klettertour mit seinen Eltern durch einen fehlenden Endknoten im Sicherungsseil fast zur Halbwaise gemacht hatte.

Doch Sebastian hatte weder einen Major in der Isar gefunden noch seinen Vater in einer Bergschlucht verloren. Er hatte ein anderes Anliegen. Ein größeres, dringenderes und innigeres. So groß, dringend und innig, dass er sich weder auf einen anderen Zeitpunkt noch auf einen anderen Ort vertrösten lassen wollte. Nach etlichem Hin und Her bat ich ihn schließlich herein. Als wir uns dann in der Mitte meines Wohnzimmers gegenüberstanden – Stühle habe ich keine und mein durchgesessenes Sofa wollte ich ihm nicht zumuten – brachte er sein Anliegen unumwunden auf den Punkt: »Ich liebe Sie, Hauptmann Fenner.«

Sein Blick, seine Stimme und seine Innbrunst ließen keinen Zweifel daran, dass er meinte, was er sagte. Sebastians Offenheit war von solch entwaffnender Wucht, dass ich einen Schritt zurückwich. Sebastian stand unterdessen schweigend da und wartete auf den Fangstoß, der ihm entweder das Rückrat brechen oder sein Leben retten würde. Obwohl ich seine Not erkannte, war es mir unmöglich, ihn zu trösten. »Das funktioniert nicht«, war das Beste, was ich schließlich über die Lippen brachte. Ich versuchte, dabei möglichst gefasst und rigoros zu klingen. Sebastian erwiderte nichts, als sich das Seil mit einem festen Ruck um seine Brust spannte und dabei nicht nur seine Rippen brach sondern sämtliche Sicherungshaken aus ihrer Verankerung riss.

Als ich bemerkte, dass er am ganzen Leib zitterte, deutete ich schließlich doch auf das alte Sofa. Er versuchte ein Lächeln, was ihm jedoch misslang, und setzte sich. Seine Haut hatte alle Farbe verloren und seine Lippen bebten. Auch ich fühlte mich unwohl.

Mit Nervenzusammenbrüchen aufgrund körperlicher oder psychischer Überanstrengung bin ich von Berufs wegen vertraut. Doch schienen die üblichen Routinen gegen Erfrierungen, Höhenkrankheit, Panik und Resignation hier wenig angebracht. Während ich Sebastian ein Kissen und einen aufgefalteten Schlafsack brachte, monologisierte ich vor mich hin. Ich dankte ihm für seine Offenheit, versicherte ihn meiner kameradschaftlichen Zuneigung und befahl ihm, sich zusammenzunehmen. Sebastian sprach kein Wort, sondern starrte nur apathisch unter der olivgrünen Daunendecke hervor, die ich über ihn geworfen hatte.

Ich machte Tee. Das gab Sebastian Zeit, sich zu erholen, und mir ein wenig Abstand von der heiklen Situation. Während ich eine Teesorte und passendes Geschirr aussuchte, dachte ich über Sebastians Geständnis nach. An und für sich gab es an dem hochgewachsenen Blondschopf nichts auszusetzen. Ein war ein guter Kletterer und verlässlicher Seilgefährte. Er war talentiert, aber nicht eingebildet. Still, aber nicht verschlossen. Bescheiden, aber nicht willfährig. Vielleicht liebte ich ihn sogar ein bisschen. Einfach dafür, dass er Fürst Myschkin durch sein Geständnis zu einem liebenswerten Wesen gemacht hatte. Die Sache hatte jedoch einen gravierenden Haken: Sebastian war nicht Tomo.

Als ich ihm seinen Tee brachte, hatte er sich bereits wieder aufgerappelt. Ich setzte mich mit meiner Tasse auf den niedrigen Wohnzimmertisch und forderte ihn auf, zu trinken. Nachdem ihn der Tee langsam ins Leben zurückgerufen hatte, brach der Bann. Ich hätte nie gedacht, dass Sebastian und ich uns so viel zu erzählen hatten, doch ich machte noch zwei Kannen Tee und tischte sogar ein bescheidenes Abendbrot auf, bevor er spät am Abend mit einem festen Händedruck und in stabiler Verfassung Abschied nahm.

Wir verblieben bis zu seinem tragischen Ausscheiden freundschaftlich. Er grüßte mich immer schon von Weitem, bedachte mich zu Weihnachten, Ostern und Va­len­tins­tag mit kleinen Aufmerksamkeiten und hielt mich ab und zu mit einem kurzen Gespräch auf. Ich grüßte immer zurück, ließ mich beschenken und hörte ihm geduldig zu. Mehr konnte ich nicht für ihn tun.

Rückbetrachtet glaube ich, dass Sebastian nur aus Versehen von Liebe gesprochen hat. Wahrscheinlich wusste er gar nicht genau, was er da fühlte. So wie mir aus Dankbarkeit ein liebesähnliches Gefühl erwachsen war, hatte wohl auch er einfach nur zwei Dinge miteinander verwechselt. Dennoch war er mutig bei mir aufgeschlagen, um mir seine Gefühlswirren auseinanderzulegen. Ich bin noch immer zutiefst beeindruckt von seinem Schneid. Solch ein Wagnis würde ich aus Angst vor Zurückweisung niemals eingehen. Ich bewies es während meines Telefonats mit Elli mit jedem Atemzug. Ich behielt meine Gefühle für mich – die guten wie die schlechten – und teilte Elli stattdessen die Uhrzeit und den Treffpunkt für die Königswanderer mit. Er notierte sich alles auf und versprach mir, an alles zu denken und pünktlich zu sein. Bevor wir uns bis zum übernächsten Tag verabschiedeten, bedankte er sich noch mehrmals für die Einladung zu der Bergwanderung und für meine Nachsicht mit seiner Unerfahrenheit. Ich hätte es als übertriebene Höflichkeit deuten können, entschied mich jedoch dafür, dass seine Worte aufrichtig klangen.

Nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, machte ich mir eine Kanne Tee, setzte mich wieder an meinen Schreibtisch und schrieb zum ersten Mal seit Langem wieder eine Liste. Sogar mehr als eine. Vier gleich. Denn ich war mir nicht sicher, ob ich mich auf unser bevorstehendes Wiedersehen freuen sollte. Diese Sache mit Köln hatte mir bewiesen, wie gleichgültig ich ihm war. Ich habe früher viele solcher Listen erstellt: eine Liste der Dinge, die ich mag, und eine Liste der Dinge, die ich nicht mag. Eine Liste der Dinge, die ich tun wollte, wenn ich wüsste, dass ich nur noch eine Minute zu leben habe, und eine Liste der Dinge, die man nicht sehen kann, die aber doch da sind. Eine Namensliste, eine Bücherliste und eine Regelliste. Eine Liste für Länder, eine Liste für Städte, eine Liste für Berge, eine Liste für Seen, eine Liste für Flüsse und eine Liste für Wälder. Silben-, Buchstaben- und Zahlenlisten. Und natürlich eine Liste der Listen. Dies war meine Art, die Dinge zu sammeln. Ich hatte fast hundert solcher Listen. Die meisten davon umfassten mehrere Seiten, die wiederum in zwei, drei oder vier Spalten untergliedert waren. Nachdem ich mir aus den Abschreibungsbeständen der Murnauer Feldjäger dieses Laptop gekauft hatte, wusste ich zunächst nichts Gescheites mit dem Computer anzufangen und nahm mir vor, als erste Übung meine gesammelten Daten in das Gerät zu übertragen. Doch die Listen waren über die Jahre hinweg bedeutungslos geworden. Ich fand sie plötzlich langweilig und sinnlos und darüber hinaus störte mich, dass sie schlecht sortiert und nicht aktuell waren. Ich legte sie zu den Holzscheiten im Ofen. Auch die vier Listen, die ich heute geschrieben habe, jagte ich unmittelbar nach dem letzten Tintenstrich durch den Papierhäcksler in Falks Büro.

Als dieser mich kurz vor zwölf zum Mittagessen abholte, freute er sich, dass er noch einen weiteren Namen auf seine Liste der Königswanderer setzen durfte: »Das wird zwar langsam knapp mit den Schlafplätzen in den Winterräumen der Berghütten, aber wenn wir dicht zusammenrücken, kriegen wir das schon hin. Ich werde auch Gunnar heute Abend nochmals anrufen, dass er sich vor der Tour nicht wieder mit blähendem Gemüse vollstopft. Weiblich?«, fragte er voller Hoffnung – für mich – und kramte die zerknitterte Liste aus seiner Hosentasche hervor. Ich musste ihn jedoch enttäuschen.

»Bergerfahrung?«, fragte Falk weiter und versuchte, seinen Kugelschreiber durch festes Aufdrücken und Fluchen zur Kooperation zu überreden.

»Keine«, antwortete ich.

»Das macht insgesamt sechs Bergerfahrene und sechs Grünschnäbel«, rechnete Falk laut vor sich hin. Es seien dieses Mal auch viele Frauen mit von der Partie, fuhr er wieder an mich gewandt fort. Anna habe eine Freundin im Schlepptau, Andrés Verlobte bringe ihre Schwester mit und Strefler komme in Begleitung einer langjährigen Weggefährtin aus seinem Heimatdorf. Als der Kugelschreiber erste Anstalten machte, farbige Flüssigkeit auf das zerknitterte Blatt Papier abzugeben, fragte mich Falk nach dem Namen des kurzfristigen Neuzugangs.

»Eliot«, sagte ich, und als ich seinen Namen laut aussprach, bemerkte ich, wie meinem verschwommenen Traum plötzlich ein Hauch von Wirklichkeit innewohnte. Ich musste jedoch, auch wenn es peinlich war, mit den Schultern zucken, als Falk wissen wollte, wie man den Namen buchstabierte.

»E – l – i – o – t«, improvisierte Falk, ohne sich lange der korrekten Schreibung aufzuhalten, und fuhr mit dem störrischen Kugelschreiber jeden einzelnen Buchstaben mindestens zehnmal nach, bevor dieser endlich lesbar auf dem Stück Papier erschien. Ich hielt ihm meinen Füller hin, aber Falk wollte diesen Zweikampf ohne fremde Hilfe für sich entscheiden. Den Nachnamen ersparte er sich jedoch und den Kugelschreiber beförderte er nach seinem Sieg umgehend in den Mülleimer. Als er mir schließlich den Beweis seiner Hartnäckigkeit unter die Nase hielt und ich Eliots Namen in Falk krakeliger Schrift auf der Teilnehmerliste sah, entschied ich mich spontan dazu, mich auf die gemeinsame Unternehmung zu freuen.

Nach einem kurzen, aber erbitterten Germknödelwettessen, aus dem Falk mit ganzen drei Längen Vorsprung als klarer Sieger hervorging, verabschiedete er sich in seinen verfrühten Feierabend und überließ mich meiner neu gewonnenen Zuversicht. Aber Zuversicht hin oder her, verbrachte ich den Rest des Tages mit der liegengebliebenen Arbeit vom Vorjahr und versank in Zahlen, Paragrafen und Amtsbriefen der Wehrverwaltung, bis es draußen dunkel wurde. Erst das Klingeln des Telefons riss mich aus meiner hypnotischen Zahlenschieberei. Es war Heidt, der sich nochmals für meine Hilfe bedankte, mir die besten Wünsche von seiner Tochter bestellte und mich daran erinnerte, den von Pragen aufgewirbelten Ruß zusammenzukehren. Nach einem Gerne-Danke-und-Jawohl ließ ich die Arbeit für den Tag gut sein und machte mich auf den Weg zu der auf dem Hohen Brendten gelegenen Luttenseekaserne, wo ich durch die riesigen Lagerhallen und Magazine der Gebirgs- und Winterkampfschule furagierte, um eine Schneeausrüstung für Elli zusammenzustellen. Trotz meines schweren Seesacks voller Material machte ich auf dem Heimweg noch einen Schlenker durch die inzwischen menschenleeren Gassen der Stadt, wo ich mich vor der großen Kirche am Markt auf eine Bank setzte und auf die Elf wartete.

Ich sitze dort oft, beobachte die Zeiger der großen Kirchturmuhr und warte darauf, dass die donnernden Schläge des Glockenspiels meine Gedanken vertreiben. Keine besonders düsteren oder traurigen Gedanken, sondern einfach alles Denken in mir – auch auf die Gefahr hin, dass ich dabei einen guten Plan für den nächsten Tag aus dem Kopf verliere. Glocken wirken bei mir wie Magie. Wenn sie in meinem Kopf dröhnen, kann ich für einen kurzen Moment an nichts anderes als ihr lautes und durchdringendes Wesen denken. So auch dieses Mal.

Nach dem Abendgeläut und einem zügigen Marsch über die zugeschneiten Wege entlang der Isar kehrte ich kurz vor Mitternacht zu meiner Wohnung auf dem Kasernengelände zurück, schmiss ein paar Holzscheite in den Ofen, kochte eine Kanne Tee auf der heißen Feuerplatte und ließ den Tag Revue passieren.

~ Wilhelm Fenner

Donnerstag, 2. Jan.. 1992
Bezugsdatum
Donnerstag, 2. Jan.. 1992
Kapitel
8
Dateinummer
804