Welt aus Wasser II

Gespeichert von eloroke am Do., 16.03.2023 - 21:29

Natürlich besaß Eliot eine Regenjacke. Er schlüpfte zudem in ein Paar ausgetretene, aber noch immer wettertaugliche Kampfstiefel und war plötzlich von dem Gedanken, durch den Regen zu spazieren, geradezu begeistert. Mehr als begeistert sogar. Denn plötzlich kam er auf die Idee, in einem nahegelegenen Baggersee baden gehen zu wollen. Dank des ungastlichen Wetters stünden die Chancen ganz gut, den gesamten See für uns alleine zu haben.

»Hm«, sagte ich und runzelte skeptisch die Stirn. Ich war nicht sicher, ob mir die Idee gefiel. Doch ungeachtet meines stummen Einwands ging Eliot an seinen Schrank und warf mir eine Schwimmhose zu: »Die müsste Dir passen. Bist Du ein guter Schwimmer?«, fragte er mich herausfordernd und stopfte eilig eine weitere Schwimmhose sowie ein Paar Handtücher und zwei Dosen Limonade in eine breite Umhängetasche.

»Ich habe sogar von den Eckernfördern Kampftauchern eine Ehrenurkunde ausgestellt bekommen«, erklärte ich, während ich die Badehose in meiner Hosentasche verstaute. Dass ich laut dieser Urkunde 100%ig wasseruntauglich war, verschwieg ich.

»Wirklich?«, fragte er mit einem überraschten Lächeln: »Ich habe auch an einem Trainingslager in Eckernförde teilgenommen. Eine Ehrenurkunde habe ich zwar nicht erhalten, aber den Unterwasserkampflehrgang als Jahrgangsbester abgeschlossen. Das bedeutet, wir sind ebenbürtige Gegner.«

Ich nickte zuversichtlich, doch er schlug mich anschließend in fast jeder Disziplin: Schwimmen, Tauchen, Springen. Nur im Umkleiden war ich schneller.

»Das ist wohl schon eine Weile her mit Deiner Ehrenurkunde«, lachte er, als wir mit dem wohlig brennenden Gefühl tauender Gliedmaßen die schlammige Uferböschung hinaufkletterten und unsere Kleider anzogen: »Damals warst Du wahrscheinlich noch jung, schön und athletisch. Pass gut auf: Je mehr Sternchen man auf der Schulter trägt, desto tiefer sinkt der eigene Stern. Ich schätze, Du musst erst wieder in Form kommen.« Er kriegte nicht genug davon, mich aufzuziehen, bis ich ihn mit einem grantigen »Ja, ja« stehen ließ und verärgert davonstob.

Doch in diesem Moment begriff ich einen grundlegenden Unterschied zwischen Tomo und Eliot. Tomo hatte mir damals wie etwas, das untrennbar zu mir gehörte, überall hin folgen müssen. Wenn sich der Abstand zwischen uns zu stark vergrößerte, wurde er quer durch Räume und sogar durch Wände und geschlossene Türen hindurch an meine Seite versetzt. Er war diesem kosmischen Mechanismus vollkommen wehrlos ausgeliefert. Eliot war hingegen nicht mit unsichtbaren Fesseln an mich gebunden. Es stand jedem von uns frei, seines eigenen Weges zu ziehen.

Ich hielt inne, drehte mich nach ihm um und beobachtete, wie er nun etwa zweihundert Meter von mir entfernt noch immer damit beschäftigt war, in seine engen Hosen zu schlüpfen. Als er aufsah, sagte er kein Wort, sondern wickelte stumm seine Badehose in ein Handtuch und packte die nassen Sachen in seine Tasche. Ich hörte ihn jedoch fluchen, als sich die ausgefransten Schnürsenkel nicht durch die Ösen seiner Kampfstiefel fädeln ließen. Meine schroffe Antwort hatte seine gute Laune verdorben. Es tat mir leid.

Ich legte meine Hände trichterförmig um den Mund und rief ihm etwas zu. Ich gab mir Mühe, witzig zu sein und mich wieder mit ihm zu versöhnen, ohne dabei meinen Fehler eingestehen zu müssen. Eliot antwortete jedoch nicht, sondern fluchte noch ein letztes Mal, bevor er schließlich mit offenen Schnürsenkeln angetrabt kam: »Ich habe Hunger«, sagte er und hängte sich seine Tasche um. Seltsamerweise lag nicht die geringste Spur von Groll in seiner Stimme. Ich war erleichtert. Entweder war er gar nicht so sehr verärgert gewesen, wie ich gedacht hatte, oder er hatte mein Versöhnungsangebot stillschweigend angenommen. Jedenfalls war alles wieder gut. Schweigend gingen wir durch das nasse Gras und den Regen Richtung Stadt.

Bei ihm zu Hause aßen wir schließlich das Brot, das ich mitgebracht hatte, mit Butter, Honig und Marmelade aus Eliots Kühlschrank und teilten uns die Milch. Eliot machte sich einen heißen Kakao und schwor mit vollem Mund und hellbraunem Milchbart, dass er noch nie so lecker getafelt hätte. Nachdem wir unser Vesper beendet hatten und Tschaikowski drei Mal durchgelaufen war, parodierte Eliot auf seiner Flöte einige Militärmärsche und ließ mich die Titel raten. Er konnte es jedoch partout nicht lassen, mich damit aufzuziehen, dass ich ihm im Schwimmen nicht das Wasser reichen konnte. Dabei war ich so schlecht gar nicht gewesen.

So plätscherte der Tag vor sich hin. Die Hälfe der Zeit stritten wir. Die andere Hälfte lachten wir. Wir gerieten uns dabei jedoch niemals ernsthaft in die Haare oder einander näher. Alles schien so inniglich und blieb doch unverbindlich. Ein ständiges Aufeinanderzutreiben und Zurückrudern.

Der kleine Zettel zwischen den Postkarten in der Pappschachtel unter Eliots Bett ging mir jedoch den ganzen Tag über nicht mehr aus dem Kopf. War es vielleicht ein Test gewesen? Ein Wink? Eine Aufforderung zum Bekenntnis? Ich bemerkte, wie ich anfing, zu fantasieren.

Als ich spät am Abend nach Hause kam, nahm ich mir ein Blatt Papier und antwortete auf Eliots Brief aus der Zeit, die er mit Voltaire verbracht hatte. Meine letzten Zeilen lauteten: »Für immer Dein Wilhelm. Mittenwald, Frühling 1992.« Anschließend lief ich unschlüssig im Zimmer auf und ab. Ich wusste, dass ich ihm den Brief unmöglich geben konnte. Ich hatte jedoch zugleich das Gefühl nicht mehr länger schweigen zu können. Deswegen redete ich mit mir selbst, bis ich schließlich einen Entschluss fasste und den Zettel zwischen die brennenden Holzscheite im Ofen warf. Als meine Beichte in Feuer aufging, fühlte ich mich jedoch auch nicht besser. Entmutigt ließ ich mich auf den Boden fallen und schrie lautlos in mich hinein, als wäre ich wahnsinnig geworden. Die Welt um mich herum wurde plötzlich gleißend hell und brannte in allen nur erdenklichen Farben. Vektoren, Vektoren, überall sah ich plötzlich Vektoren. Es war, als wäre das Feuer aus dem Ofen auf die Wohnung übergesprungen. Die Dachbalken bogen sich zu mir herab, die Fensterrahmen drohten aus ihrer Fassung zu springen, das alte Kasernengemäuer ächzte so laut unter seinem eigenen Gewicht, dass ich mir die Ohren zuhalten musste. Gleichzeitig brüllte ich so lange ohne Stimme weiter, bis all meine Kraft aufgebraucht war und ich in einen tiefen Schlaf fiel.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, war die Glut erloschen. Ich entsorgte die Asche, schnallte mir einen Rucksack auf den Rücken und wanderte den ganzen Tag durch eine Welt, in die ich nicht gehörte. Ich lief so lange, bis ich nach Hause zurückkehren konnte, um alles aufzuschreiben.

~ Wilhelm Fenner

Samstag, 4. Apr.. 1992
Bezugsdatum
Samstag, 4. Apr.. 1992
Kapitel
11
Dateinummer
1106