Asche

Gespeichert von eloroke am Di., 21.03.2023 - 21:24

 

Die Landeansage des Kapitäns und die plötzliche Geschäftigkeit um ihn herum weckte Heinrich aus dem tiefen Schlummer, der ihn kurz nach Beginn der Reise eingeholt hatte. Der Flug war so schnell vorübergegangen, dass die endlose Warterei am Abflughafen im Nachhinein ungerechtfertigt lang erschien. Heinrich entfaltete seinen Körper, so weit es in dem engen Sitzpolster möglich war, und spähte durch das kleine, wetterblinde Bullauge zu seiner Linken auf die unter ihm liegende Welt, wo nichts und niemand auf ihn wartete außer den ausgebrannten Ruinen des Forschungsinstituts.

Der Gedanke an die vor ihm liegende Arbeit zwischen einsturzgefährdeten Gebäuderesten und die geringe Aussicht auf wirklich bahnbrechende Erkenntnisse ließen ihn kurzzeitig am Sinn seiner Unternehmung zweifeln. Ein wenig entmutigt fiel er in die unbequeme Haltung zurück, die ihm der Sitz diktierte und beobachtete, wie der langsame Sinkflug der Welt stetig neue Details hinzufügte. Er lauschte dabei auf das gleichmäßige Brummen der Motoren in der Hoffnung, dass es die Stimmen in seinem Inneren übertönte, denn Skepsis und Entmutigung gehörten zu den Lieblingsspeisen des lauernden Insekts hinter seiner Stirn.

Während Henrichs Blick auf immer detailreichere, aber gleichbleibend bedeutungslose und leere Welt dem Parasiten das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ, schlossen sich Heinrichs Finger um den großen braunen Umschlag, der auf seinem Schoß lag, und hielten sich krampfhaft daran fest. Er bemerkte sein Verhalten jedoch erst, als der routinemäßig den Gang abschreitende Flugbegleiter stehenblieb und besorgt zu ihm herabschaute. Heinrich befahl sich zu entspannen und lächelte. Der Flugbegleiter lächelte ebenfalls. Er war vermutlich erleichtert, sich nicht um einen Passagier mit Flugangst kümmern zu müssen.

Anstatt sich daran festzukrallen, schaute Heinrich den Umschlag einfach nur an. Er konnte Wilhelm jederzeit aus diesem Umschlag auferstehen lassen. Diese Gewissheit entfesselte eine Woge von Tatendrang, die durch Heinrichs Brust raste und Skepsis und Resignation mit dem festen Glauben an die Beständigkeit ewiger Bündnisse und Zuversicht ersetzte. Der Parasit hatte sich zu früh gefreut.

Im Flughafen wurde Heinrich nicht lange aufgehalten. Sein leichtes Gepäck, das den Zollbeamten keines größeren Aufhebens würdig schien, sein Dienstvisum, das er vorsichtshalber bei sich trug, und sein bewährtes Lächeln bescherten ihm eine schnelle Abfertigung an der Grenzkontrolle. Mit einem scheinbar grimmigen, jedoch sicherlich freundlich gemeinten Kopfnicken hieß ihn der Grenzbeamte in Lettland herzlich willkommen. Da er weder das lettische Wort für Danke kannte noch eine Grußformel parat hatte, um jemanden einen guten Morgen oder einen schönen Tag zu wünschen, zeigte Heinrich erneut sein Lächeln vor und beeilte sich, auf die andere Seite des Grenzschalters und hinaus in die weitläufige Eingangshalle des Flughafens zu kommen.

Lettland begrüßte seinen Besucher mit einer Fülle an Informationen, die diesem aber nichts weiter sagten, als dass er während des Flugs nicht hätte schlafen, sondern lieber einen von Uschis Sprachkursen für Eilige hätte lesen sollen. Einen der Reiseführer über Lettland dabei zu haben, hätte ihm sicherlich auch nicht geschadet.

Heinrich versuchte, seine Eindrücke zu sortieren. Der Flughafen befand sich im Umbau. Die meisten Abschnitte hatten die Metamorphose in ein neues Zeitalter bereits durchlaufen. Dazu gehörte die Haupthalle mit ihren riesigen elektronischen Anzeigetafeln und computerisierten Informationsschaltern. Einzelne Abschnitte präsentierten sich noch in einem Dekor, das vor einigen Jahrzehnten als schick und mondän gegolten haben mochte, inzwischen aber bieder und altbacken wirkte. Als wäre das Lettische mit seinen zusätzlichen Tüpfelchen und Häkchen nicht verwirrend genug, trugen einige der Hinweisschilder in dem noch nicht modernisierten Teil kyrillische Buchstaben. Heinrich verstaute seinen Reisepass, schulterte seine Umhängetasche und schoss sich dem Menschenstrom, der Richtung Ausgang floss.

Heinrich war hungrig. Er hatte den gesamten Flug über geschlafen und somit die üblicherweise während einer Flugreise angebotenen Snacks, Säfte und heißen Getränke verpasst. Nicht dass er diese verpasste Gelegenheit als größeren Verlust empfand, aber sein knurrender Magen war lästig. Nachdem er im Vorbeigehen ein paar skeptische Blicke auf Auslagen in den Flughafenläden geworfen hatte, deren Inhalt sich ihm nur offenbarte, wenn ein Bild auf den Verpackungen prangte, entschloss er sich, das flaue Gefühl in seiner Magengegend mit ein paar Kräuterbonbons zu beruhigen, die er noch in seiner Tasche hatte.

Als Heinrich zuletzt im Schlepptau einer von Pragen geleiteten halboffiziellen Untersuchungskommission hier gewesen war, hatten sich die lettischen Beamten um alles gekümmert. Sie hatten nicht nur für die komfortable Unterbringung und das leibliche Wohl ihrer Gäste gesorgt, sondern sich sämtlicher operativen Obliegenheiten angenommen. Sie hatten ihre deutschen Freunde vom Flughafen abgeholt, ihnen einen Übersetzer zur Seite gestellt und sie in den Stand der Ermittlungen eingeweiht. Zur Orientierung innerhalb der Stadt und für die Fahrt zu der im Wald gelegenen Brandruine hatte stets ein Beamter der lettischen Policijas als Chauffeur und ortskundiger Fremdenführer bereitgestanden.

Dieses Mal war Heinrich jedoch auf sich allein gestellt. Auf zahlreichen Lehrgängen in den Hörsälen verschiedener Militärstandorte und während der oft wochenlangen Biwaks im dichten Wald und kaltem Hügelland hatte er gelernt, sich in fast allen Umgebungssituationen schwieriger Orientierung zurechtzufinden. Er konnte sich unsichtbar durch offenes Gelände bewegen, mit rauem Wetter klarkommen, sich seinen Weg durch unwegsames Gelände bahnen, bei Nacht die Orientierung behalten und per Kompass und Karte zielsicher jeden Bestimmungsort erreichen. Zivile Landschaftsgeometrie wie die Flughäfen und Innenstädte europäischer Nachbarstaaten waren jedoch nicht Teil seiner soldatischen Ausbildung gewesen.

Heinrich kramte das Satellitenpeilgerät, das Jan ihm mitgegeben hatte, aus der Tasche. Das Gerät sah aus wie ein Taschenrechner. Es war allerdings etwa doppelt so groß, drei mal so dick und vier mal so schwer. Außerdem hatte es eine ausklappbare Antenne und brauchte nach dem Anschalten ewig, um sich zu initialisieren. Als es endlich seine Betriebsbereitschaft signalisierte, stellte Heinrich zufrieden fest, dass die Einheit tatsächlich noch über sämtliche Informationen von ihrem letzten Lettlandbesuch verfügte.

Er blätterte durch die gespeicherten Koordinaten und wählte sein Ziel: das Institut des alten Professors. Es lag nur zwanzig Kilometer Luftlinie in südöstlicher Richtung, aber Heinrich wusste noch von seinem letzten Besuch, dass die Straßen, auf denen man die letzten Kilometer zum Institut zurücklegen musste, sehr schlecht oder gar nicht ausgebaut waren. Streckenweise weniger als zwei Meter breite Wege verästelten und kreuzten sich zwischen Feldern und Wiesen und führten über etliche schmale Seitenarme der Daugava schließlich in den Wald. Heinrich war zuversichtlich, dass ihn das Satellitengerät sicher durch das komplizierte Netz aus Straßen und Wegen lotsen würde, aber es fehlte ihm noch ein fahrbarer Untersatz und die nötigen Sprachkenntnisse, sich einen solchen zu besorgen.

Das dachte Heinrich jedenfalls, bis er in einem Schaufenster ein Schild mit der Aufschrift ›billiger Mietwagen‹ entdeckte. Der Schriftzug war mit einem Kugelschreiber auf ein weißes Blatt Papier geschrieben worden, das zwischen dem Fensterglas und der von innen komplett heruntergelassenen Sonnenjalousie eines Ladens klemmte. Weniger in der Erwartung, einen billigen Mietwagen zu ergattern, als vielmehr in der Hoffnung, auf eine des Deutschen mächtige Person zu treffen, lenkte Heinrich seine Schritte in Richtung der Tür neben dem vielversprechenden Schild, trat ein und kam wenige Minuten später mit einem Autoschlüssel und dem Durchschlag seines Mietvertrags wieder heraus.

Ausnahmsweise klappte einmal alles wie am Schnürchen. Heinrich war froh, dass er das Schild entdeckt hatte. Während er um das Gebäude der Autovermietung herumlief, um auf dem dahinter liegenden Parkplatz nach seinem billigem Mietwagen zu suchen, trommelte er mit den Fingern, wie um sich selbst auf die Schulter zu klopfen, auf den braunen Umschlag unter seinem Arm. Der Rhythmus seiner Fingerspitzen klang wie ein Morsecode, sodass Heinrich kurz darüber nachdachte, Wilhelm per Morsezeichen von seiner gelungenen Mietwagenoperation zu berichten. Doch er verwarf diese Idee, noch bevor sie konkrete Form annahm, nicht wegen der Albernheit der Idee eines magischen Morsecodes, sondern wegen der Vorstellung, bei Wilhelm nach Lob zu fischen, obwohl er doch eigentlich nur Glück gehabt hatte.

Heinrich stellte das Trommeln ein und hielt nach dem Kennzeichen, das auf seinem Vertrag eingetragen war, Ausschau. Der Wagen war schnell gefunden und übertraf sicherlich niemandes Erwartungen an einen billigen Mietwagen. Heinrich warf den braunen Briefumschlag und seine Tasche auf den Beifahrersitz, setzte sich hinters Steuer und machte sich auf die Suche nach einer Unterkunft. Es musste nichts Besonderes sein. Er war in dieser Hinsicht nicht wählerisch, was sich meist mit Wilhelms Neigung zur Askese vertragen hatte. Nur bei wenigen Dingen hatte Heinrich mehr Wert auf Komfort gelegt als Wilhelm. Im Gegensatz zu seinem Freund war es Heinrich nicht egal, wenn die Bettwäsche klamm war, die Dusche nur kaltes Wasser lieferte oder das Klo außerhalb des Gebäudes lag. Mit derartigen Missständen war jedoch in der lettischen Hauptstadt eher nicht zu rechnen, weswegen er beim ersten Schild, das in deutscher Sprache freie Zimmer anpries, anhielt und sich einquartierte.

Obwohl er nicht getrödelt hatte, war es bereits später Nachmittag, als Heinrich nach einer langen, ungemütlichen Fahrt auf unbefestigten Straßen, holprigen Schotterwegen und engen Schleichpfaden endlich die Ruine des Instituts erreichte. Die Policijas hatte das Betreten des Grundstücks mit gelbem Absperrband als verboten gekennzeichnet und der Ernsthaftigkeit dieses Verbots Nachdruck verliehen, indem sie die beiden Türflügel des Eisentors mit einer Drahtseilplombe versiegelt hatte. Heinrich war jedoch vorbereitet.

Nachdem er ein Zimmer gefunden und dort kurz Bett und Dusche inspiziert hatte, war er zu einem Einkaufsviertel in der Nähe seines Hotels gefahren, hatte den Wagen in einer der verwinkelten Seitenstraßen abgestellt, sich das Päckchen, das er keinen Moment aus den Augen verlieren wollte, unter den Arm geklemmt, und war einkaufen gegangen.

Zwar hatte der dunkle Laden, dessen Schaufenster neben den toten Fliegen vom vergangenen Sommer einen Satz sonnengebleichter Waren feilgeboten hatte, auf den ersten Blick keinen besonders vielversprechenden Eindruck gemacht, doch war Heinrich in dem kleinen Handwerkermarkt mehr als fündig geworden. Alles, was auch nur den geringsten Verdacht auf Nützlichkeit erregt hatte, war in seinem Einkaufskorb gelandet: ein kleiner Werkzeugkasten, Batterien für seine Taschenlampe, eine Laterne und zwei Gaskartuschen dafür. Schaufel, Hammer, Zange, Stemmeisen, ein Paar Handschuhe und ein weiteres Paar. Zwei Eimer, zehn Meter stabile Nylonschnur und ein Paar hohe Gummistiefel, die seinen Schuhen und Hosenbeinen das Schlimmste ersparen sollten.

Dank seines vorsehenden Großeinkaufs und der Überredungskunst seines neuen Seitenschneiders gab die Plombe recht schnell nach und den Weg auf den verbrannten Innenhof des Instituts frei. Ein nagendes Gefühl sagte Heinrich, dass das Böse enden konnte. Schlimmstenfalls würde sein Tun bis nach Deutschland Wellen schlagen und nicht nur ihn, sondern auch Pragen und Jan Kopf und Kragen kosten. Doch er fühlte auch, dass er keine Wahl hatte. Deswegen hob er das zerschnittene Drahtseil, an dem das Metallsiegel der Policijas hing, vom Boden auf und ließ es in seiner Tasche verschwinden, als ob er die Tat damit verheimlichen könnte. Dann schob er das Eisentor weit auf.

Langsam ließ er den Wagen über den mit feinem Aschestaub bedeckten Kiesweg auf das Gelände rollen und folgte dort den von der Spurensicherung angelegten Trassen. Heinrich kannte den Tatort wie seine eigene Westentasche. Tagelang hatten er und Jan über den Fotos und Berichten der Policijas gebrütet, um eventuelle Unstimmigkeiten in der Rekonstruktion des Tathergangs aufzudecken und Wilhelm von dem Vorwurf der Brandstiftung zu befreien. Die dürftige Beweislage hatte jedoch weder zugelassen, die Schlussfolgerungen ihrer lettischen Kollegen endgültig zu untermauern noch sie zu entkräften. Bis zuletzt wies die Erzählung über den Tathergang zwei Lücken auf. Es fehlte sowohl ein stichhaltiges Motiv für eine Brandstiftung als auch eine konkrete Ursache für die Brandentstehung.

Es hatte zwar immer Spannungen zwischen Wilhelm und dem Professor gegeben, aber es war nichts bekannt, was Wilhelm dazu veranlasst haben könnte, nach Lettland zu reisen und das Institut des Professors niederzubrennen. Wilhelm galt eher als besonnen denn extrem und alle Gutachten, die etwas Anderes sagten, waren an den Haaren herbeigezogen. Man reiste nicht in einer Kurzschlusshandlung nach Riga und zündete ein Gebäude an. Die Reise nach Lettland, die Fahrt zum Institut und die für den Brand benötigten Utensilien, das alles brauchte Vorlauf und Planung. Auch die Brandursache war niemals mit einem zufriedenstellenden Ergebnis festgestellt worden. Die lettischen Ermittler waren anhand der Brandspuren zu Urteil gelangt, dass das Feuer in mehreren Gebäudeteilen gleichzeitig ausgebrochen war. Die Bausubstanz war dabei systematisch an empfindlichen Stellen destabilisiert worden, sodass sie schließlich zusammenbrach, als hätte sie ein Erdbeben erschüttert. Diese beiden Mysterien hatte bisher noch kein Ermittler, Experte oder Gutachter aufklären können weder von Seiten der Rigaer Policijas noch von deutscher Seite.

Heinrich stieg aus dem Wagen. Das war der Ort. Hier war Wilhelm vor ungefähr einem Monat – Heinrich rechnete nach – vor sechs Wochen inzwischen knapp dem Feuertod entronnen. Die Policijas hatte verbrannte Haut, Textilien und Blut gefunden, und offenbar auch Wilhelms von den Flammen zerstörtes Laptop, wenngleich sie diesen Fund am Anfang der Zusammenarbeit mit ihren deutschen Kollegen noch unter Verschluss gehalten hatten. Entweder nachdem sie enträtselt hatten, was die Botschaft in den herausgebrochen Tasten zu bedeuten hatte, oder nachdem sie gemerkt hatten, dass sie die Daten nicht wiederherzustellen vermochten, hatten sie die Person ins Vertrauen gezogen, an die Wilhelm das Laptop adressiert hatte, Kjt-Lwi Pragen. So lautete jedenfalls Heinrichs aktuelle Theorie.

Drei Mann hoch war Pragen damals auf persönliche Einladung vom Polizeichef des Rigaer Verwaltungsbezirks nach Lettland gereist, in seiner Begleitung Heinrich und Eifel, ein Brandspezialist aus dem Kölner Geheimdienstkommissariat. Während seine beiden Unteroffiziere mit den lettischen Beamten den Tatort besucht, die Beweise studiert und die Fallakten gewälzt hatten, hatte Pragen mit dem Direktor der Rigaer Polizeidienststelle Tee getrunken. Bei einer dieser ausgedehnten Teepausen, hatte der Polizeichef schließlich ein Laptop aus der Schublade gezogen und Pragen in einen Fund eingeweiht, dessen Existenz den deutschen Kollegen bisher verschwiegen worden war. So reimte sich Heinrich das jedenfalls zusammen.

Er hatte Pragen in Lettland selten zu Gesicht bekommen. Erst kurz vor ihrer Heimreise hatte Pragen seine beiden Unteroffiziere überrascht: »Seht her, was ich gefunden habe. Dieses besondere Fundstück wird uns nach Hause begleiten und uns hoffentlich all die Antworten liefern, die wir so verzweifelt suchen.« Genauere Angaben zu dem Fund machte er auch auf wiederholtes Nachfragen nicht. »Nicht ich habe es gefunden. Es hat mich gefunden«, beendete Pragen die Diskussion.

Heinrich hatte Pragens Geheimniskrämerei nicht gefallen, aber er hatte sich schließlich mit dessen orakelhaften Hinweisen abgefunden. Weiter zu bohren, hätte bedeutet seinen Dienststellenleiter der Kölner Bürokratie auszuliefern, und so weit wollte Heinrich nicht gehen. Zumal überraschenderweise auch Eifel nicht weiter fragte.

Die Sonne stand bereits so tief, dass die Lichtung, die das Institut mit seinem Hof und dem umschließenden Garten bildete, komplett im Schatten der Bäume lag. Der Ort war kühl, dunkel und unheimlich, weswegen Heinrich, nachdem er in die Gummistiefel geschlüpft war und das Werkzeug in die beiden Eimer gepackt hatte, auch gleich die erste Gaskartusche in die Laterne einsetzte und den Docht anzündete. Der Lichtschein, den die Lampe um ihn herum erzeugte, ließ die Waldschatten am Rand der Lichtung und das rußgeschwärzte Gebäude in deren Mitte noch düsterer, feindseliger und unheimlicher erscheinen als zuvor.

Bevor Heinrich die Autotür zuwarf, nahm er noch die Kirschbonbons, die er sich unterwegs an einem Kiosk gekauft hatte, vom Beifahrersitz. Er hatte seit Mittenwald nichts mehr gegessen und brauchte den Zucker. Auch das braune Päckchen behielt er lieber bei sich.

Die Ruine begrüßte ihren späten Besucher mit einer düsteren Miene. Die Spurensicherung hatte zwei Wege ins Gebäude angelegt. Einer davon verlief ebenerdig, der andere führte über eine Rampe direkt in den ersten Stock, weil die beiden Treppenhäuser des Instituts unbegehbar waren. Im Westen hatte es laut Bauplan einst ein Treppenhaus für die Bediensteten gegeben. Davon war allerdings nicht mehr viel übrig und auch die breite Haupttreppe im mittleren Gebäudeteil war in großen Teilen zerstört oder von herabgefallenen Ziegeln, Balken, Mauerbrocken, die ursprünglich das Dach gebildet hatten, blockiert. Nur einzelne Mauerreste und Pfeiler des ehemaligen Dachstuhls standen noch und ragten wie ein schwarzes Gerippe in den Himmel, während die rußgeschwärzte Fassade mit ihren herausgeplatzten Fenstern und Türen und ihrem verbrannten Innenleben einem hohlen Schädel glich. Das Gebäude sah aus, als hätte sich das Feuer an seinen Eingeweiden gütlich getan und die abgenagten Knochen dann achtlos auf den Boden geworfen.

Während sich Heinrich dem Grab des schwarzen Riesen näherte, beäugte ihn ein Eichelhäher, der in einer der Augenhöhlen des Totenschädels saß. Unterhalb des Vogels befand sich schwarz auf schwarz ein geschwungener Schriftzug: Geist. Wären die Buchstaben nicht als Relief aus dem Stein herausgearbeitet worden, wären sie komplett unlesbar gewesen, aber Professor Meissmann oder sein Vorgänger, Professor von Leyden, – für Heinrich einerlei – hatte sich Mühe gegeben, dem Gebäude, das über Generationen und Epochen hinweg den unterschiedlichsten Bestimmungen gedient hatte, Familienwohnsitz, Schule und Militärkrankenhaus, seinen Stempel aufzuprägen. Wenn man genau hinschaute, konnte man den über die gesamte Front verlaufenden Schriftzug erkennen: Institut für Geist und Leben. Das »und« war nicht ausgeschrieben, sondern eine verschnörkelte Form und glich eher einem bauchigen Schreibschrift-E mit zusätzlichen Schleifchen links und rechts.

Nicht nur die Worte, sondern auch wie sie geschrieben waren, gab Zeugnis von Professor Meissmanns Neigung zu Eitelkeit und Anmaßung. Die Vermessenheit des Professors war Heinrich nicht neu. Einen Bund mit dem Teufel wollte er Meissmann zwar nicht unterstellen, aber wundern würde ihn die Enthüllung eines solchen Bündnisses auch nicht. Pragen hatte Heinrich gegenüber seine Meinung über dem Professor bereits mehrfach klar formuliert. Für Pragen war Meissmann der Teufel. Heinrich tat sich mit dieser Vorstellung jedoch schwer, denn in welches Licht rückte das seinen Vater Lysander Josef Luv, Meissmanns besten Freund und vertrauten Kollegen?

Der argwöhnische Schrei, mit dem der Eichelhäher den Fremden begrüßte oder vertreiben wollte, riss Heinrich aus seinen Gedanken. So faszinierend und schön er diese Tiere normalerweise fand, so sehr erfüllte ihn dieses spezielle Exemplar mit Angst. Der Vogel schien größer und intelligenter zu sein als die, denen Heinrich bisher begegnet war. Er ließ sich auch nicht durch die Anwesenheit eines Menschen oder das laute Klappern des Werkzeugs in den Eimern einschüchtern, sondern hielt seinen Aussichtsposten und stieß bei jedem Schritt, den Heinrich auf das Gebäude zuging, einen lauten Warnschrei aus. Jedenfalls interpretierte Heinrich das helle Rufen als Warnung. Als er jedoch bemerkte, wie seine irrationale Angst, das schlafende Tier hinter seiner Stirn zu wecken drohte, riss er sich zusammen und betrat rasch das Erdgeschoss des Instituts.

Im Haus roch es nach dem fauligen Wasser, das sich im Erdgeschoss gesammelt hatte und Heinrich bis zu den Knöcheln reichte. Bei seinem letzten Besuch hatte die Mischung aus Regen und Löschwasser noch nicht so einen unangenehmen Duft verströmt und er hatte einen sichereren Stand gehabt, während jetzt eine rutschige Schlickschicht das Vorankommen durch die trübe Brühe beschwerlich machte. Heinrich fragte sich, was der Eichelhäher hier verteidigte. Das Haus war ein Grab. Was hoffte der Vogel hier zu finden? Die gleiche Frage konnte er sich jedoch selbst stellen. Es war bereits alles untersucht, fotografiert und in der Fallakte ›Wilhelm Fenner‹ abgeheftet. Je mehr er darüber nachdachte, desto absurder erschien ihm, was er gerade tat. Jeder bei Trost und Verstand würde ihm vermutlich raten, nach Hause zu gehen und Wilhelms Tagebuch zu lesen.

Um sich von seinen Zweifeln abzulenken, hörte Heinrich auf sein Magenknurren, stellte die Eimer auf einem verkohlten Balken ab und nahm sich ein Bonbon. Bevor er mit seiner Laterne zu seinem ersten Erkundungsgang aufbrach, steckte er den braunen Umschlag in seine Umhängetasche. Er hatte Angst, dass das Päckchen ins Wasser fallen oder anderswie abhandenkommen könnte.

Planlos, aber vorsichtig bahnte sich Heinrich seinen Weg durch den Parcours aus Wasser und Schutt, hob hier und da einen Balken an, klopfte Wände ab und untersuchte ein paar verkohlte Gegenstände und rätselte, um was es sich dabei einst gehandelt haben mochte. Das Sonnenlicht ließ ihn allerdings schneller im Stich, als er angenommen hatte, sodass er bald vollkommen auf den Schein seiner Lampe angewiesen war.

Er wurde das Gefühl nicht los, Zeit verloren zu haben. Obwohl sowohl die Suche nach einem Mietwagen und einem Zimmer als auch die Herfahrt zügig vonstatten gegangen waren, war es auf der Lichtung bereits bei seiner Ankunft schattig gewesen, und die Sonne würde wohl binnen weniger Stunden vollständig untergehen. Die Kälte und die Dunkelheit zogen einen immer engeren Kreis um ihn.

Heinrich nahm sich noch ein Bonbon, drehte den Gashahn der Laterne auf und schritt voran. Er hatte die Hoffnung, dass seine eingeschränkte Sicht auf das, was im Schein der Lampe aufleuchtete, seinen Blick für das Besondere schärfen und seine Aufmerksamkeit auf das lenken würde, was man bei Tageslicht übersah. Die Schlaflosigkeit der vergangenen Nächte und die geistige Anspannung zehrten jedoch an ihm. Jedes Mal, wenn er einen Balken zur Seite stemmte oder über ein Hindernis kletterte, erfasste ihn ein kurzer Schwindel und er hatte bei jedem Schritt das Gefühl, dass sein Gehirn in seinem Kopf genauso herumschwappte wie das Wasser, durch dass er watete. Wellen von Kopfschmerzen brandeten von innen gegen seine Stirn.

Heinrich ärgerte sich, dass er das Wasser, das er unterwegs zusammen mit den Kirschbonbons gekauft hatte, im Auto zurückgelassen hatte. Er hatte Durst. Das Gebäude zu verlassen, um etwas zu trinken, war jedoch keine Option. Im Auto warteten die Zweifel. Er würde sich nicht überwinden können, das Gebäude noch einmal zu betreten, um sein sinnloses Unterfangen fortzusetzen. Es gab nur ein Jetzt oder Nie. Heinrich schluckte und bildete sich ein, damit seinen Durst zu stillen und drang weiter in das Gebäude vor.

Die Sonne war bereits vollends untergegangen, als Heinrich im ersten Stock das Fenster entdeckte, auf dessen Sims er wenige Stunden zuvor den Eichelhäher gesehen. Der Vogel war inzwischen verschwunden und Heinrich hatte erneut das Gefühl, Zeit verloren zu haben. Er hielt die Lampe aus dem Fenster und ließ eine Feder, die der Eichelhäher verloren hatte, nach unten segeln. Es hatte sich nichts an seiner Situation geändert, seit er dort unten lang gelaufen war und das Gebäude betreten hatte. Neue Erkenntnisse hatte er jedenfalls keine gewonnen. Die Anstrengungen hatten ihn nur erschöpft und durstig gemacht. Seine Hände waren schmutzig, sein Hemd durchgeschwitzt und die sich wellenförmig in seinem Kopf ausbreitenden Schmerzen hatten sich inzwischen zu gewaltigen Brechern ausgewachsen, die zwar nicht mehr so oft gegen seine Stirn schlugen, dafür jedoch mit umso größerer Intensität.

Heinrich wandte sich von dem Fenster ab und sah sich in dem Raum um. Er würde vorgehen, wie in den Räumen davor. Die Trümmer zur Seite räumen, um darunter eingeschlossene Möbelstücke oder Zugänge freizulegen, das Wasser abschöpfen, um den Boden zu inspizieren, Kacheln und Putz von den Wänden klopfen, um sicherzugehen, dass sie nichts vor ihm verbargen. Sowohl beim Hebeln von schweren Gegenständen als auch beim Schöpfen von Wasser und beim Abklopfen der Wände hatte ihm die Schaufel bisher treue Dienste geleistet. Sie war sein wichtigstes Werkzeug. Sie lag gut in der Hand und war robust und konnte, wie sich mit einem kräftigen Hieb gegen einen Trümmerhaufen in einer Ecke des Raumes herausstellte, auch findig sein.

Ein kreischendes Geräusch ertönte, als die Metallschaufel auf einen anderen metallenen Körper traf. Heinrich, der kurz davor gewesen war aufzugeben und sich schon von dem entmutigend hohen Trümmerhaufen schon hatte abwenden wollen, bemerkte, wie ein Strom der Erregung seinen Körper durchflutete und ihm neue Kraft gab. Er hatte etwas gefunden, was den Flammen widerstanden hatte, einen Tresor, einen Spind oder einen Aktenschrank. Aufgeregt klopfte er dem kastenförmigen Gegenstand unter dem Trümmerhaufen ab. Da alles schwarz war, war das metallene Objekt mit den Augen nicht auszumachen, sondern nur fühlbar und hörbar, glatt, kühl, hohl und kreischend.

Hatten seine Hiebe bis eben noch Schlag für Schlag an Wucht verloren, weil seine Arme kaum noch in der Lage gewesen waren ihr eigenes Gewicht zu stemmen, geschweige denn zu einem wuchtigen Schlag auszuholen, fühlte er wie die Entdeckung ungeahnte Kraftreserven in ihm freisetzte. Durst, Schwindel und Kopfschmerzen waren vergessen und der Gegenstand, der sich recht schnell als Karteispind herausstellte, schnell so weit freigelegt, dass man die Schubladen aufziehen konnte. Keine der vier Schubladen wollte sich allerdings auch nur einen Millimeter bewegen. Entweder waren sie verschlossen oder in der Hitze des Feuers mit dem Gehäuse verschmolzen. Oder beides. Als Heinrich versuchte, den kleinen Schubladenschlössern mit einem zierlichen Schraubendreher und einem Stück Draht beizukommen, musste er jedoch feststellen, dass diese nicht mehr intakt waren. Wenn er an den Inhalt des Schränkchens wollte, musste er schwerere Geschütze auffahren, weswegen er Schraubendreher und Draht zur Seite legte und wieder nach der Schaufel griff. Er war fest entschlossen, den Schrank zu öffnen, auf die eine oder andere Weise.

Er hielt die Schaufel abwechselnd wie eine Axt und einen Speer und hieb und stach damit auf den Metallschrank ein, bis ihm die Hände and Handgelenke weh taten. Er ließ sich von den Schmerzen jedoch nicht aufhalten, sondern wickelte sein Taschentuch um den Holzstiel der Schaufel und drosch weiter auf den Schrank ein. Selbst als die Kopfschmerzen, der Durst und der Schwindel zurückkehrten, ließ er nicht von dem Schrank ab, obwohl die Auswirkungen, die seine Hiebe auf den metallenen Würfel hatten, in keinem Verhältnis zu seinem Kraftaufwand standen.

Er schwitzte, rang keuchend um Luft und stieß dennoch mit jedem Hieb ein wütendes Knurren aus. Heinrichs Hoffnung stand und fiel mit diesem kleinen ­Metallspind. Die Gewissheit, dass ihm heute größere Entdeckung mehr beschwert werden würde, und die Delle, die sich langsam sich an einer der Schubladen formte und an der er vielleicht das Brecheisen als Hebel ansetzen konnte, trieben ihn weiter an. Nur noch ein paar Hiebe.

Heinrichs verbissenes Stöhnen und das Hämmern und Schrappen der Schaufel rissen jedoch den Parasiten, der hinter Heinrichs Stirn nistete, aus seinem Schlaf. Trotz seines prallen Körpers immer hungrig und immer gierig, ließ ihn die Aussicht auf ein Mahl aus vergeblicher Hoffnung und Verzweiflung lebendig werden. Er streckte seine steifen Glieder aus und schob seinen für die dünnen Beinchen viel zu schweren Körper langsam durch die Windungen der grauen Masse, die ihm während der letzten Wochen Geburtsstätte und Nest gewesen war. Am Rand von Heinrichs Verstand setzte er mit einem gewagten Sprung auf die andere Seite über, wo er sich an einem langen Faden in den dunklen Ozean abseilte. Da der Faden nicht lang genug war, legte er die letzten Zentimeter im freien Fall zurück und plumpste in das Wasser, das seinem Wirt immer noch bis zu den Knöcheln reichte.

Obwohl Heinrich sein Hämmern eingestellt hatte, hörte er das leise Plätschern nicht. Die Widerstandskraft, die das Schränkchen bereits in der Feuerbrust unter Beweis gestellt hatte, war größer als der kurze Energieschub, der es Heinrich erlaubt hatte, noch ein wenig länger durchzuhalten. Entkräftet ging er in die Knie und hielt sich dabei mit einer Hand an dem Schrank fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ihm war inzwischen zum Speien und die Welt um ihn herum schwankte und drehte sich. Auch die Kopfschmerzen hatten zugenommen. Er war jedoch noch nicht bereit aufzugeben. Da er allerdings kaum noch die Arme heben konnte, zog er erneut den Schraubendreher und das Stück Draht hervor und versuchte sich ein zweites Mal an den Schlössern. Vielleicht hatte er beim ersten Mal etwas übersehen oder vielleicht hatten sein Hämmern und Schreien den Mechanismus wieder eingerenkt.

Heinrich war zu sehr mit dem Schrank beschäftigt, um das im Kielwasser seiner Gummistiefel treibende Insekt zu bemerken. Er wischte sich die nassen Ponyfransen aus der Stirn und leckte sich den salzigen Schweiß von den Lippen, bevor er die Schließzylinder der Schubladen erneut mit dem Draht abtastete. Nachdem er bei der ersten Schublade keinen Erfolg hatte, nahm er sich die nächste vor und die nächste und schließlich die letzte, doch es schien, dass sämtliche Schlösser spätestens jetzt vollkommen zerstört waren.

Der Zeck fühlte sich in dem trüben Wasser wohl. Heinrichs Unglück war für ihn wie warmer Sonnenschein. Es flößte ihm Leben ein und gab ihm Kraft. Während er in den sanften Wellen auf und ab schaukelte und in kreisenden Bewegungen über das Wasser trieb, verschmolz er mit den Geistern und Geschichten des Gebäudes. Er wuchs über seine mikroskopische Körpergröße hinaus und nahm Menschengestalt an. Langsam, jedoch nicht ohne das Wasser ein wenig aufzuwirbeln, und leise, jedoch nicht vollkommen lautlos, erhob er sich aus dem Wasser.

Heinrich griff instinktiv an seine Brust, als das Wasser um ihn herum plötzlich, ohne dass er sich bewegt hatte, Wellen schlug und er hinter sich ein plätscherndes Geräusch hörte. Das Einzige, was seine Hand jedoch zu fassen bekam, war die Kopfleiste seines verschwitzten Hemds. Auf den Inseln hatte er oft einen Glücksbringer um den Hals getragen oder in der Hosentasche stecken gehabt. Die gab es am Hafen zu kaufen, auf Sommerfesten als Preis, zu besonderen Festen im Tempel oder wenn sein Großvater ein Stoffreste übrig hatte. Die Glücksbringer halfen gegen Malheure der unterschiedlichsten Art, gegen Bauchweh, gegen Prüfungsangst und gegen Geister.

Heinrich wagte kaum zu atmen. Selbst nachdem sich das Wasser wieder beruhigt hatte, blieb er reglos und still und lauschte angestrengt in die Dunkelheit hinter sich. Neben dem Seufzen des alten Gemäuers und dem Pfeifen des Windes, der ungehindert von Türen und Dach und Fensterscheiben durch die Räume und Flure blies, vernahm er nach und nach weitere Geräusche: weit draußen im Wald das Rauschen der Blätter und das Schreien und Rufen der Tiere der Nacht, ganz nah und tief in ihm drin das Klopfen seines Herzens und irgendwo dazwischen ein Geräusch, das nicht hätte da sein sollen: ein leises, aber stetes Tropfen.

Die Quelle befand sich direkt hinter ihm. Etwas hatte sich dort aus dem Wasser erhoben und das Wasser, dass es in seinen Haaren, seinem Fell oder seinem schuppigen Panzer dabei mitgerissen hatte, suchte nun tröpfchenweise seinen Weg zurück nach unten. Heinrich wusste, was dort hinter ihm lauerte. Seine Großmutter hatte ihn immer vor ihnen und ihrer Vorliebe für Wasser, Dunkelheit und Fäulnis gewarnt, doch aller guter Ratschläge zum Trotz war er ihnen nun in die Falle gegangen.

Jedes Mal bevor er zu seinen täglichen Strand- und Küstenexpeditionen aufbrach, hatte er die Belehrungen seiner Großmutter über Kobolde über sich ergehen lassen müssen. Sie seien weitgehend harmlos bei Tage, unter offenem Himmel, auf trockenem Grund und in Gesellschaft lebendiger Menschen, waren aber fürchterliche Monster oder listenreiche Dämonen, wenn man ihnen in einer dunklen, feuchten Höhle begegnete, alleine unterwegs war oder durch abgestandenes Wasser watete. Bei Flut in einer Höhle oder auf einem Riff festzusitzen, machte einen zu leichter Beute für Kobolde.

Heinrichs Großmutter hatte ihm alles erzählt, was es über Kobolde zu wissen gab, und er hatte all ihre Anweisungen, stets artig befolgt. Von Höhlen und alten Brunnenschächten hatte er sich ferngehalten, das Hin und Her der Gezeiten nur mit gehörigem Sicherheitsabstand beäugt und bei Anbruch der Dunkelheit flugs den Heimweg angetreten. Die Kobolde hatten ihn nie gekriegt. Auch wenn das zurückweichende Wasser ihn dazu anstachelte, immer weiter in die freigelegten Geheimnisse der Meereswelt vorzudringen, und auch wenn er die Abende lieber am kühlen Strand als in seinem schwülen Zimmer verbrachte, hatte er lieber der Vorsicht Vorrang gegeben.

Er erinnerte sich daran, wie er den Priester, der das großelterliche Haus mit Gesängen und Salz gegen Unglück und gewappnet hatte, darum gebeten hatte, ihm einen Bannspruch beizubringen, mit dem man Kobolde besiegen konnte. So einfach war das leider nicht mit den Bannsprüchen, aber der alte Mann hatte ihm ein paar praktische Tipps gegeben, die er bei einer Begegnung mit einem Kobold beherzigen sollte. Er dürfe ihnen auf keinen Fall seinen Namen nennen oder die Hand reichen. Außerdem müsse er sich vor ihren Täuschungsmanövern in Acht nehmen. Manchmal erschienen sie in Gestalt geliebter verstorbener Menschen oder tarnten sich als freundliche Geister. Heinrich hatte sich mit seinem fundierten Wissen über Kobolde seinen Gegnern immer überlegen gefühlt, ohne jedoch leichtsinnig zu werden.

Während all der Jahre auf den Inseln, wo bald jeder Erwachsene eine Geistergeschichte aus erster Hand zu erzählen wusste, war ihm jedoch kein einziger Kobold begegnet. Er hatte sich das als Kind so erklärt, dass die Kobolde ihn vermutlich fürchteten, weil er so genau über sie Bescheid wusste. All dieses Wissen brach nun wie eine Springflut aus seiner Erinnerung hervor, während er sein Werkzeug vorsichtig auf den Spind und sich langsam aufrichtete.

Er wagte es nicht, sich umzudrehen, sondern beobachtete schweigsam und reglos, wie sich die Wasseroberfläche von seiner Bewegung erholte und langsam wieder zur Ruhe kam. Der Kobold schien es nicht eilig zu haben. Er verharrte ebenfalls ruhig. Das Einzige, was Heinrich von ihm vernahm, war das stete Tropfen.

Heinrich versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren und sich gegen eventuelle Täuschungsspielchen des Kobolds zu wappnen. Er fragte sich, welche Gestalt der Kobold annehmen könnte, um ihn zu verwirren. Die seiner Mutter oder seines Vaters? Heinrichs traute sich nicht, den Gedanken weiterzuverfolgen, denn vielleicht war inzwischen noch jemand gestorben, von dem er es noch gar nicht wusste. Seine Großmutter oder Wilhelm? Heinrich bemerkte, wie der Kobold bereits seine Gedanken kontrollierte, obwohl er ihm noch nicht einmal in die Augen gesehen hatte.

Er lauschte weiter auf das hypnotische Tropfen, während er tiefer in seinen Erinnerungen grub. Was hatten die Erwachsenen noch über Kobolde und böse Geister zu erzählen gewusst? Wie waren sie ihnen lebend entkommen? Manche Kobolde konnten Gedanken lesen. Einige waren an einen bestimmten Ort gebunden und machtlos, sobald man diesen verließ. Es gab sogar Geisterwesen, die nur nach Mitleid oder Aufmerksamkeit dürsteten und sich bereits damit zufriedengaben, dass man sich vor ihnen fürchtete.

Heinrich fürchtete sich und versuchte, um den Kobold nicht unnötig zu reizen, sich möglichst still zu verhalten. Er richtete seine Gedanken auf das sanfte Plätschern, mit dem die Tröpfchen ihren freien Fall zur Wasseroberfläche beendeten. Mit jedem zweiten Tropfen atmete er ein und mit jedem anderen zweiten Tropfen wieder aus. Während er so im Takt der Tropfen atmete, zählte er die verstreichende Zeit in Tropfeneinheiten. Er hatte die Hoffnung, dass der Kobold das Interesse an ihm verlieren würde, wenn er sich nur weiter still verhielt.

Der Kobold war jedoch geduldig. Die Zeit verstrich und er tropfte weiter. Allerdings löste sich jeder Tropfen zögerlicher als der davor. Das zunächst kaum bemerkbar, aber nach einiger Zeit, war der Abstand zwischen zwei Tropfen so groß geworden, dass Heinrich nicht nur jeden zweiten Tropfen einen Atemzug tat, sondern einen pro Tropfen und noch später machte er zwei Atemzüge, bevor der nächste Tropfen fiel. Das zunehmend schleppende Rinnsal verlangsamte die Zeit, und gerade als Heinrich in einen hypnotischen Dämmerschlaf zu gleiten drohte, riss ihn ein Geräusch aus seiner Trance.

Seine Großmutter hatte immer davor gewarnt einzuschlafen, wenn man es mit Kobolden zu tun hatte, während andere Erwachsene da ganz anderer Meinung gewesen waren und Schlaf sogar als wirksame Waffe gegen Kobolde angeführt hatten. Sie sagten, Kobolde könnten nicht gut in Träumen wandeln und würden die Spur ihrer Opfer verlieren, sobald diese im Tiefschlaf versanken. Im Zweifelsfall hielt sich Heinrich jedoch an seine Großmutter und war froh, dass das Geräusch ihn vor dem Schlummer bewahrt hatte. Seine Freude darüber hielt sich jedoch in Grenzen, denn er hörte Schritte im Wasser. Etwas kam auf ihn zu.

Heinrichs Puls und Atem beschleunigten. Angst kroch durch seine Adern und trieb ihm den Schweiß aus den Poren, als das Wasser um ihn herum immer mehr in Aufruhr geriet. Er fasste sich ein Herz, griff nach der Lampe und drehte sich um.

Nur wenige Meter vor ihm leuchtete im Schein der Lampe eine zierliche Gestalt auf. Durch Heinrichs plötzliche Bewegung oder vom Licht aufgeschreckt, wich sie einige Schritte zurück.

Heinrich war starr vor Schreck. Vor ihm stand ein kleiner Junge, mit blasser Haut und langem, hellem Haar. Er trug ein kniebündiges, weißes Nachthemd und war komplett durchnässt. Mit hängendem Kopf hielt er seine Schultern umschlungen und fror. Bis auf das Zittern, das den Jungen sachte schüttelte und seine Lippen beben ließ, verharrte er jedoch ruhig und reglos. An einem Zipfel seines Nachthemds hing ein Wassertropfen, der langsam immer größer und schwerer wurde, bis er sich nicht mehr halten konnte und mit einem sanften Plätschern auf der Wasseroberfläche aufschlug. Sofort bildete sich ein neuer Tropfen. Als der Kobold schließlich den Kopf hob, kniff er geblendet vom Licht die Augen zusammen.

»Entschuldigung«, murmelte Heinrich und senkte die Lampe.

»Schon in Ordnung.« Die Stimme des Jungen klang sanft, aber nachdem sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, durchbohrte er Heinrich mit einem neugierigen Blick.

Heinrich war sich nicht sicher, ob das ein Trick des Kobolds war, aber der Junge kam ihm auf eine seltsame Art und Weise vertraut vor. Einerseits erschien er ihm fremd und feindselig, andererseits sah er mit seinen hellen Haaren und blauen Augen Wilhelm so ähnlich.

»Wovor fürchtest Du Dich?« Der kleine Junge legte seinen Kopf zur Seite und die Stirn in Falten. Er schien, sich ernste Sorgen um Heinrich zu machen.

Keine Namen, kein Händeschütteln und glaub nicht, was du siehst, wiederholte Heinrich in Gedanken. Da er dem Kobold bereits in die Falle gegangen war, hielt er es vorerst für das Beste, ihn ein wenig hinzuhalten und Zeit zu schinden, bis sich eine Gelegenheit zur Flucht bot. Mit etwas Glück würde ihm der Kobold jenseits der Institutsmauern nicht folgen können und spätestens an der Grundstücksgrenze würde der Bann sicherlich enden.

»Ich bin zur Zeit ein wenig zerstreut.« Heinrich bemerkte, wie zögerlich er die Worte sprach und wie schwach seine Stimme klang. Er versuchte, ihr ein bisschen mehr Volumen und Selbstsicherheit zu geben, und fügte hinzu: »Ich finde seit einigen Nächten keinen Schlaf mehr.«

»Was raubt Dir den Schlaf?«

Heinrich atmete tief durch. Das wusste er selbst nicht so genau. Die Arbeit, die Alpträume, die Sorgen? Er vertraute dem Kobold an, dass er auf der Suche nach einem Freund war und Tag und Nacht Tag und Nacht damit zubrachte, die Puzzleteile, die sein Freund beim Verschwinden hinterlassen hatte, zu drehen und zu sortieren, um das Bild zusammenzusetzen, aber er hatte zu wenig Teile oder zu wenig Fantasie.

»Wie heißt Dein Freund?«

Keine Namen, kein Händeschütteln und glaub nicht, was du siehst. Erneut rezitierte Heinrich im Geist die wichtigsten Regeln beim Umgang mit Kobolden, spürte jedoch zugleich den Drang zu antworten. Er wollte Wilhelms Namen sagen, laut und deutlich: »Wilhelm. Wilhelm Fenner.« Es war eine wahre Wohltat, Wilhelms Namen aussprechen und hören zu dürfen.

»Und dein Name?«, bohrte der Kobold sofort weiter.

Heinrich stockte. Der eigene Name war etwas anderes. »Wilhelm nennt mich Elli.« Er hoffte, dass er mit dieser Antwort durchkam, und ärgerte sich zugleich, dass er nicht auch für Wilhelm einen Spitznamen genannt hatte. Die Augen des Kobolds funkelten jedoch auf. Er schien bemerkt zu haben, dass sein Gegenüber die Regeln kannte. Schnell versuchte Heinrich, den Spieß umzudrehen: »Und Du?«

»Ich habe keinen Namen, nur eine Nummer: ein V und zwei I.« Der Kobold machte mit den Fingern der rechten Hand ein Siegeszeichen und die Finger der linken Hand hob er, als wollte er sich in der Schule melden, aber anstatt nur einen Finger streckte er zwei in die Luft.

»Sieben?«, fragte Heinrich, als er die römischen Ziffern Fünf und Zwei erkannte.

Der Junge nickte: »Eva sieben, um genau zu sein. So nennt mich aber niemand. Die meisten Erwachsenen sagen einfach nur Kleiner oder Großer zu mir.«

Heinrich fragte sich, ob es möglicherweise auch für einen Kobold gefährlich war, seinen wahren Namen preiszugeben, und gab sich mit der Antwort zufrieden. Er zögerte einen Moment, nannte den kleinen Geist schließlich bei dessen Größe und fragte, warum er sich in diesem alten Gemäuer herumtreibe.

»Ich wohne hier.« Die Antwort klang schnippisch, so als hätte Heinrich eine dumme Frage gestellt. »Und Du?«, fuhr er fort. Auch der Kobold konnte den Spieß umdrehen.

»Ich glaube, dass mein Freund vor Kurzem hier gewesen ist. Vielleicht finde ich etwas, was mir dabei helfen kann, ihn zu finden.«

Der Junge stemmte beide Arme in die Hüften: »Du hast also Deinen Freund verloren? Wie konnte das passieren?« Heinrich glaubte, Tadel in der Stimme des Kobolds zu hören. Vielleicht war es aber auch nur sein eigenes schlechtes Gewissen. Er senkte den Kopf und schwieg. Nicht aus Angst, zu viel von sich preiszugeben, sondern weil der Kobold einen wunden Punkt getroffen hatte. Schuldbewusst sah er zu seiner Tasche hinüber. Die Ecken des braunen Umschlags lugten vorwurfsvoll über den Rand der Tasche. Heinrich fühlte sich besiegt und schwach. Er ließ sich auf einen Balken sinken und stellte die Lampe vor sich ab, mitten ins Wasser.

»Wenn Du willst, kann ich Dein Freund sein.« Heinrich hörte die Worte, erwiderte jedoch nichts. Er saß einfach nur da und starrte in die Flamme der Laterne. Sie flackerte. Sie brannte nun schon seit Stunden. Das Gas würde vermutlich bald ausgehen.

»Ich könnte Dir bei Deiner Suche helfen.« Der Junge versuchte, diplomatisch zu klingen, aber Heinrich hatte keine Lust auf Diplomatie. Er dachte gerade darüber nach, dass die zweite Gaskartusche im Auto lag. So wie das Wasser. Er hatte immer noch Durst.

»Ich weiß eine Menge über dieses Gebäude. Ich kenne alle seine Geheimnisse«, fuhr der Kobold fort. Heinrich nickte, ohne aufzusehen.

»Wilhelm Fenner?« Der Kobold sprach den Namen wie eine Frage aus. Zugleich klang es wie eine Aufforderung, die Ärmel hochzukrempeln und zur Tat zu schreiten. Als Heinrich aufblickte und zwei strahlend blaue Augen und eine ausgestreckte Hand sah, fühlte er, wie der Optimismus des Kobolds auf ihn abfärbte. Der Kobold hatte recht, dazusitzen und nichts zu tun, würde seine Probleme auch nicht lösen. Heinrich fühlte sich zwar noch immer schwach, aber besiegt war er noch nicht. Er griff nach der Hand und ließ sich von dem Kobold auf die Beine ziehen.

»Wenn Dein Freund hier gewesen ist, muss es auch eine Akte von ihm geben. Wir sollten in der Festung nachschauen, ob es dort Aufzeichnungen über ihn gibt«, sprudelte der Kobold voller Tatendrang hervor.

»Festung?« Heinrich verstand nicht, doch der Kobold ging ohne weitere Erklärungen los und zog Heinrich hinter sich her. Die Schritte der beiden setzten das Wasser so stark in Bewegung, dass die Laterne von einer hohen Welle erfasst wurde und erlosch. Doch genau in dem Moment, als der Raum dunkel wurde, führte der Kobold Heinrich hinaus in den von künstlichem Licht beleuchteten Flur.

Die Wände waren weiß getüncht und der polierte Marmorboden glänzte im Widerschein der Deckenlampen. Alle Zimmertüren waren verschlossen und die fernen Enden des Flures waren mit schweren Holztüren versiegelt. Heinrich wandte sich zu dem Raum um, aus dem sie gerade gekommen waren, und fand dessen Tür ebenfalls verschlossen. Eine kleine, rote Leuchtdiode über einem elektronischen Ziffernfeld wies offenbar darauf hin, dass der Raum ohne die Eingabe des richtigen Sicherheitscodes nicht zugänglich war.

Irgendetwas fühlte sich verkehrt an. Das Institut wirkte plötzlich so klein. Heinrich hatte die Gänge viel breiter und die Decke viel höher in Erinnerung. Sein Gefühl von Beengtheit ließ sich jedoch nicht mit der objektiv wahrnehmbaren Realität in Einklang bringen. Das Gebäude war in einem anderen Jahrhundert erbaut worden. Die Flure waren ausladend, beinahe platzverschwenderisch weit, und die Decke hing höher, als es der moderne Großstädter gewohnt war. Heinrich blieb kurz stehen, kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder, doch das paradoxe Gefühl blieb.

Als sich der Junge nach ihm umblickte, lächelte Heinrich und ließ sich von seinem kleinen Begleiter weiter den Flur entlang führen. Schweigsam liefen sie hintereinander her, der Junge in dünnen, weißen Socken voraus, Heinrich in seinen flachen Schnürschuhen, die gelegentlich quietschten, hintendrein.

Durch die weißen Wände, die grelle Deckenbeleuchtung und den hellen Marmorboden wirkte alles klinisch steril und kalt. Die Schildchen an den Türen, die zu beiden Seiten des Flures abgingen, gaben Heinrich das Gefühl, in einem Krankenhaus unterwegs zu sein: Laboratorium I, Laboratorium II, Laboratorium III, Patientenraum, Patientenraum, Material, Ultraschall, Röntgen, Seminar I, Seminar II, WC, Anmeldung – Born, Sprechzimmer.

Die meisten Tafeln und Hinweisschilder, denen Heinrich in Lettland bisher begegnet war, hatten ihre Informationen zweisprachig verkündet: auf Lettisch und Russisch. Manche waren auch nur in einer der beiden Sprachen beschriftet gewesen. Obwohl Heinrich keine der beiden Sprachen beherrschte, konnte er sie aufgrund ihres Schriftbildes auseinanderhalten. Das lettische Alphabet war nicht ganz so rätselhaft wie das russische. Seiner Muttersprache war er bisher jedoch nur selten begegnet. Hier im Institut waren jedoch sämtliche Beschriftungen auf Deutsch.

Heinrich wusste nicht viel über das Institut, nur dass es während der sechziger Jahre Meissmann als Stützpunkt für seine private Forschung und als Begegnungsstätte für Wissenschaftler und Parawissenschaftler mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten – hauptsächlich jedoch vor Jahrzehnten verworfene oder erst kürzlich neu entdeckte Randgebiete der Humanmedizin – gedient hatte. Der Bundeswehr hatten Meissmanns häufige Auslandsaufenthalte im Osten Europas missfallen und so hatte der Professor Mitte der siebziger Jahre unter dem Druck des militärischen Geheimdienstes nicht nur seine regelmäßigen Lettlandreisen eingestellt, sondern auch das Institut aufgegeben. Urkundlich war er zwar noch immer der Eigentümer des Anwesens, doch laut der Berichte der Sicherheitsüberprüfungen hatte er seit Jahrzehnten keinen Fuß über die deutsche Staatsgrenze gesetzt, jedenfalls nicht Richtung Osten. Selbst Pragen, der lange an der Gründlichkeit der Sicherheitsüberprüfungen oder an dem Wahrheitsgehalt der darüber verfassten Berichte gezweifelt hatte, hatte schließlich ihre Richtigkeit bestätigen müssen. Wenngleich unter dem Vorbehalt, dass Ermittlungen in die Vergangenheit und hinter den eisernen Vorhang nicht unbedingt die besten Voraussetzungen für solide Ergebnisse seien.

Auch dass jüngste Sicherheitsüberprüfungen Meissmann nichts nachwiesen, hatte Pragen stets mit einem Stirnrunzeln kommentiert. Er vermutete, dass die Stilllegung des Instituts und die Aufgabe aller Auslandsverbindungen in den Osten Europas nur dazu geführt hatte, dass Meissmann seine Machenschaften nun in Köln fortsetzte. Solange die Spuren nach Osten geführt hatten, hatten sie wenigstens überhaupt eine Spur gehabt. Jetzt tappten die Agenten vollkommen im Dunkeln, während Meissmann im toten Winkel der Bürokraten des Heeresamts und direkt unter der Nase des Chefs des Geheimdienstes tat, was auch immer er tat. Pragen hatte die Gewohnheit der rheinischen Generalität, Probleme nur zu verlagern, zu verschieben und zu verdrängen anstatt sie zu lösen, immer kritisiert, doch niemand hörte auf ihn und Meissmann, dessen Fährte sich früher in einer Wüste aus rotem Treibsand verloren hatte, war nun im Bermudadreieck der deutschen Militärbürokratie, das sich zwischen Köln, Koblenz und Bonn aufspannte, gänzlich unsichtbar geworden.

Hier in Lettland war Meissmanns Fährte jedoch noch sichtbar und so frisch, als ob er erst gestern hier gewesen wäre, und Heinrich folgte ihr. Als er und der Junge aus dem Westflügel ins offene Treppenhaus und auf die Empore hinaus traten, blickten sie in die eiserne Miene eines alten Herrn, der aus einem Gemälde heraus den gesamten Mittelbau überwachte, den breiten Treppenaufgang sowie die Empore und die ein Stockwerk tiefer gelegene Eingangshalle. Das Gemälde war riesig und nicht dafür gedacht, aus der Nähe betrachtet zu werden. Es sollte wohl Besuchern des Instituts, gleich nachdem sie die Eingangshalle betreten hatten, Ehrfurcht einflößen, wenn nicht gar Furcht. Ehrfurcht oder Furcht, das Bild machte einen klein und der Blick des Mannes ging tief und erzeugte ein Kribbeln hinter der Stirn.

Mit stechender Strenge blickte der Mann auf Heinrich und den Jungen herab. Nein, das war nicht Meissmann. Das wusste Heinrich sofort. Dem vornehm gekleideten Mann, der sich mit seinem feinen Spazierstock vor einer Kulisse aus Goldtapete, Samtvorhang, Herrensessel, Beistelltisch und Vase zeigte, fehlten Meissmanns Jovialität, Zerstreutheit und Cordhosen. Dennoch kam Heinrich das Bild bekannt vor, was jedoch auch an dem wenig originellen Hintergrund liegen konnte. Heinrich hatte schon viele Bilder dieser Art gesehen, denn er mochte Kunstsammlungen. Nicht wegen der Kunst, sondern wegen der Stille. Eigentlich stand seine Eigenbrötelei der von Wilhelm in nichts nach, nur dass Heinrich die Einsamkeit unter Menschen suchte, während Wilhelms Einsamkeit eine leere, abgeschiedene war. Deswegen war Wilhelm, nachdem er Heinrich zu einer Bilderausstellung in der Kunsthalle oder in die Gemäldesammlung eines Museums begleitet hatte, in der Regel nicht weniger erschöpft als Heinrich, wenn dieser seinem Freund durch Schnee und Eis und über Stock und Stein auf den Gipfel eines Berges gefolgt war.

»Das ist der alte Professor. Er hat das Institut gegründet.«

»Was?«, fragte Heinrich, von dem kleinen Jungen aus dem Bann des Gemäldes und aus seinen Gedanken gerissen. »Wer?«

»Von Leyden«, verkündete der Junge. Er schien erfreut darüber, Heinrichs Interesse an dem Bild bemerkt zu haben und nun Auskunft darüber geben zu können.

»Von Leyden?« Heinrich nickte. Er kannte den Namen des Institutsgründers aus Pragens Akte über Meissmann und aus den Unterlagen seines Vaters. Wie Meissmann war auch der alte Luv von Leydens Schüler gewesen.

»Professor von Leyden«, erklärte der Junge weiter: »Er ist schon lange tot.«

Heinrich nickte wieder. Die Berichte, in den von ihm die Rede gewesen war, hatten ihn nicht wie eine Person, sondern wie ein Relikt behandelt. Personen konnte man nachspüren, sie befragen und Fotos von ihnen schießen. Relikte hingegen waren ein Überbleibsel aus einer fernen Zeit, kalt und stumm. »Was weißt Du über ihn?«, fragte Heinrich, ob er es für unwahrscheinlich hielt, dass der Junge viel über von Leyden wusste.

»Ich kenne ihn nur von diesem Bild und aus Professor Meissmanns Selbstgesprächen. Von Leyden hat alles hier erbaut und eingerichtet und Professor Meissmann bedauert sehr, dass sein Lehrer nicht mehr hier ist, um zu sehen, was sein Schüler geschaffen hat.« Der Junge zeigte stolz auf seine Brust: »Nämlich mich.«

Heinrich erschauderte, doch bevor er darüber nachdenken konnte, was das genau bedeutete, zog ihn der Junge weiter, vorbei an dem Bild Richtung Ostflügel. »Komm«, sagte er: »Wir wollten doch zu den Akten gehen, damit Du dort nach einem Eintrag über Deinen Freund suchen kannst.«

»Was sind das überhaupt für Akten?«, fragte Heinrich.

»Alles Mögliche. Zum Beispiel Karten, viele Karten, Karten von Ländern, von Höhlen und von Ausgrabungsstätten. Magst Du Karten? Ich mag Karten. Briefe und Daten von Personen, Personen, die hier arbeiten, und Personen, die als Patienten hier waren. Die Daten sind teilweise gekühlt und manche auf Videoband oder Mikrofilm. Weißt Du, wie man ein Mikrofichelesegerät bedient?«

Heinrich tat dem Jungen den Gefallen und schüttelte den Kopf, wenngleich er an seinem Arbeitsplatz bisweilen wochenlang nicht anderes tat, als von morgens bis abends auf den Bildschirm eines solchen Geräts zu starren und sich Rolle für Rolle und Seite um Seite durch alte Berichte und Bilder zu blättern. Der Junge strahlte und erklärte Heinrich nicht nur, wie man eine Mikrofilmrolle in das Lesegerät spannte und worauf man dabei besonders achten musste, sondern auch wie die Mikrofilme beschriftet und katalogisiert waren. Meissmann hat ein besonderes System, das Koblenzer System. Heinrich ließ den Jungen eine Weile reden, bevor er ihn unterbrach: »Wo genau befinden sich diese Berichte? Wo bringst Du mich hin?«

»In die Festung. Das habe ich doch schon gesagt«, sagte der Junge und fügte auf Heinrichs Stirnrunzeln schnell hinzu: »Die Festung ist ein unterirdischer Schutzbunker. Damit bei einer Katastrophe den Daten nichts passiert. Unter der Erde sind sie geschützt vor Feuer, Flut, Erdbeben.«

›Feuer‹, wiederholte Heinrich nachdenklich und stellte sich das Institut erst in Flammen und dann als ausgebrannte Ruine vor. Seine Fantasie war so lebhaft, dass er für einen kurzen Moment nur noch verkohlte Wände und Unrat um sich herum sah. Der Boden und die Decke waren verschwunden. Statt über weißen Marmor lief er plötzlich durch knöcheltiefes Wasser, während über ihm der Nachthimmel durch das Loch starrte, das vor dem Feuer einmal das Dach gewesen war.

»Außerdem sind die Dokumente in der Festung sicher vor Dieben und Schnüfflern.« Die helle Stimme des Jungen zerschnitt die Dunkelheit und brachte Heinrich zurück ins Hier und Jetzt. Er kniff die Augen zusammen, um die Vision abzuschütteln, und versuchte sich stattdessen den Bunker vorzustellen, von dem der Junge redete.

Heinrich kannte die Gebäudepläne des Instituts. Seines Wissens verfügte das Gebäude über einen Keller, der über das Haupttreppenhaus sowie über eine schmalere Treppe im Westteil des Gebäudes zugänglich war. Darüber hinaus führte ein Souterraineingang aus dem Keller in den Garten hinter dem Gebäude und zwei Bodenluken, eine im Osten und eine Westen, ermöglichten die Anlieferung von Heizmaterial und Vorräten direkt in die Kellerräume. Der Keller lag nicht besonders tief, war von fünf Zugängen aus erreichbar, hatte zum Garten hin sogar ein großes Fenster und war von den verwendeten Baumaterialien nicht als Schutzraum konzipiert. Mehr noch als die Behauptung, dass sich im Keller ein Bunker für Dokumente befinden sollte, wunderte Heinrich jedoch, dass der Junge ihn nicht nach unten führte, sondern durch den Ostkorridor. Als Heinrich abrupt stehenblieb, schaute der Junge verwundert auf.

»Hier geht es aber nicht zum Keller«, sagte Heinrich.

»Wir gehen nicht in den Keller«, antwortete der Junge. »Wir gehen in die Festung. Sie liegt tiefer. Um dorthin zu gelangen, muss man durch diese Tür.« Er deutete auf das Ende des Korridors. Man musste schon genau hinschauen, um die rahmenlos in die Wand eingelassene Tür zu erkennen. Heinrich rief sich erneut den Gebäudeplan ins Gedächtnis, doch diese Tür kam darin nicht vor.

»Die Tür führt zum Turm«, erklärte der Junge, doch Heinrich kannte die Architektur des Instituts in- und auswendig. Auch ein Turm war nicht Teil des Plans.

»Es ist ein Zauberturm«, fuhr der Junge fort. Seine Freude darüber, mit seinem Wissen glänzen und beeindrucken zu können, stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. »Wenn man den Turm von außen betritt, führt eine Wendeltreppe hinauf ins Turmzimmer. Es ist das einzige Zimmer in dem Turm und man kann von dort den Wald in alle Richtungen überblicken. Betritt man den Turm jedoch vom Inneren des Gebäudes führte eine Treppe in die Tiefe.« Mit einem verschwörerischen Blick zog der Junge einen schwarzen Eisenschüssel aus der Tasche seines Nachthemds.

Heinrich war verwirrt und enttäuscht. Verwirrt war er, weil es laut Plan keinen solchen Turm gab, und enttäuscht, weil er ein Schloss, das sich mit einem derart klobigen Eisenhaken öffnen ließ, auch mit einem Schraubendreher aufbekommen hätte. Die mangelnden Sicherheitsvorkehrungen ließen Heinrich an der Brisanz der Dokumente zweifeln, die in dieser Festung aufbewahrt wurden, dennoch ließ er sich von dem Jungen Richtung Tür ziehen.

Als sie an der Tür ankamen, ließ der Junge Heinrichs Hand los und machte sich mit dem Schlüssel an dem Schloss zu schaffen. Er erklärte dabei, dass der Schlüssel eigentlich gar nicht zu dieser Tür gehörte, aber dass er rausgefunden hatte, dass der Bibliotheksschlüssel mit ein wenig Geduld und Geschick auch hier passte. Er erzählte auch, wie er an den Bibliotheksschlüssel gekommen war, aber Heinrich hörte nicht richtig zu. Seine Hand, die die ganze Zeit über die Hand des Jungen gehalten hatte, war kalt und nass. Nicht warm und feucht, wie man erwarten würde, wenn sich Chemie und die Körpertemperatur von zwei Menschen miteinander vermischten. Seine Fingerspitzen waren taub wie nach einer Schneeballschlacht ohne Handschuhe und die Haut so weich wie nach dem Baden. Als er seine Hand hob, sah er, wie Wasser seine Finger entlang rann, und er spürte, wie sich die Kälte in seiner Hand in Bewegung setzte und erst auf seinen Arm und dann auf seinem ganzen Körper ein Frösteln erzeugte.

Heinrich umschlag zitternd seine Schultern und überlegte, ob er nun doch zum Auto zurückgehen und seine Jacke holten sollte. Als er sich umblickte und hinter sich nur Schwärze sah, fiel ihm ein, dass er die Lampe und seine Tasche in dem Zimmer zurückgelassen hatte, in dem er den Jungen getroffen hatte. Heinrich wurde nervös. In der Tasche war Wilhelms Tagebuch. Er musste zurück und seine Tasche holen. Er hoffte, dass dem Tagebuch nichts passiert war, doch als er sich umdrehte, um in die Dunkelheit zu laufen, rief der Junge: »Geschafft!« Im selben Augenblick hörte Heinrich, wie die Tür aufschwang, und fühlte wie die Hand des Jungen wieder nach der seinen griff und ihn durch Tür ins Innere des Turms zog.

Verwirrt stolperte Heinrich hinter dem Jungen her. Es kam ihm so vor, als hätte er etwas Wichtiges vergessen, doch er wusste nicht was. Er kannte dieses Gefühl vom Kofferpacken und er wusste aus Erfahrung, dass es ihm erst wieder einfallen würde, wenn es zu spät war. Auch wenn es ihm schwerfiel, versuchte er nicht weiter über seine Vergesslichkeit nachzudenken.

Es waren schließlich die Stufen, die ihn von seinen Gedanken ablenkten. Die Metallstufen, die im Inneren der Turmwand verliefen, machten bei jedem Schritt ein helles Geräusch und schwankten leicht unter seinem Gewicht. Obwohl die Stufen fast einen Meter breit waren und alle paar Meter eine Lampe den Treppenschacht erhellte, wirkte der Gang schmal und düster. Heinrich warf einen Blick zurück, doch die Tür war bereits, sie erst wenige Schritte in die Tiefe gewagt hatten, aufgrund der Krümmung der Turmwand aus ihrem Blickfeld verschwunden. Er malte sich aus, was passieren würde, wenn jemand außerhalb des Turms ein schweres Bücherregal vor die Tür schieben würde oder die Tür zumauerte. Würde man ihn rufen hören oder würden seine Rufe wie ein geisterhaftes Flüstern der Wände klingen? Ein beklemmendes Gefühl machte sich in ihm breit.

»Gibt es noch einen weiteren Zugang zur Festung? Oder anderen Ausgang?« Heinrich versuchte, die Frage beiläufig klingen zu lassen, mimte Neugierde, um seine Panik zu kaschieren.

Der Junge schüttelte, ohne stehenzubleiben, den Kopf und antwortete ebenso beiläufig, wie die Frage gestellt worden war: »Es ist der einzige Zugang.« Doch dann fuhr er mit seiner Lehrmeisterstimme fort: »Der Turm ist der Schlüssel zur Festung. Hier in den Wänden,« er zeigte nach links und rechts, »verlaufen nicht nur die Kabel für die Lampen, sondern auch die Zündschnüre für den Sprengstoff.«

»Welchen Sprengstoff?« Dieses Mal gab sich Heinrich keine Mühe, beiläufig zu klingen.

»Der Sprengstoff, der hier überall in den Wänden verteilt ist. Und bei einer Gefahr, zing, bumm– fliegt der ganze Turm in die Luft. Die Mauern und Treppen stürzen in die Tiefe und versiegeln den Eingang zur Festung.« Der Junge untermalte seine Schilderungen mit krachenden und zischenden Lauten und ließ dabei seine geballte Faust aufspringen wie eine sich ausbreitende Explosion. »Die Explosion ist so heftig, dass das ganze Institut in Flammen aufgeht und nichts davon übrigbleibt. Nur ein paar Steine. Aber alles, was in der Festung ist, ist sicher. Die Festung kann sogar einen Krieg überstehen oder eine Atomkatastrophe.«

Heinrich kam es so vor, als ob er das die ganze Zeit über gewusst oder zumindest geahnt hätte, und sich deswegen so unwohl zwischen den zwei Turmwänden gefühlt hatte. »Und wie wird der Sprengstoff gezündet?«, fragte er schließlich.

»Er zündet automatisch bei Gefahr. Und wenn der Professor einen geheimen Schalter drückt. Nein– umgekehrt, wenn er ihn nicht drückt.«

Heinrich lief schweigsam hinter dem Jungen her und dachte nach. Die Worte des Jungen schienen einen Knoten in seinem Kopf gelöst zu haben. Sie waren die Antwort auf eine Frage, die er vergessen hatte. Seltsamerweise fühlte er sich, je mehr er über den Turm, die Festung, den Sprengstoff, den Zünder und das Institut in Flammen nachdachte, zunehmend in Sicherheit. Diese Falle war nicht für ihn gebaut. Sie würde nicht heute losgehen.

»Du brauchst aber keine Angst zu haben«, sagte der Junge, wie um Heinrichs Gedanken zu bestätigen. »Ich weiß, worauf zu achten ist, um keinen Alarm auszulösen. Die Festung besteht aus mehreren Kammern, die sich mit einer Geheimzahl öffnen lassen. Die Türen zu den Kammer dürfen nicht zu lange offenstehen, damit in den dahinterliegenden Räumen Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Sauerstoffgehalt reguliert werden kann. Ich weiß das alles, weil ich oft dabei helfe, Materialien aus dem Archiv zu holen und sie später wieder einzulagern.«

Es dauerte nicht lang, bis das monotone Klopfen ihrer Schritte auf den Metallplanken endete und ihre Füße auf grobkörnigem Zementboden aufsetzten, die Socken des Jungen lautlos, Heinrichs Gummisohlen mit einem leisen Knirschen. Im selben Augenblick hörten sie das Knistern einer Neonröhre, die über ihren Köpfen aufflackerte. Die Lampe hatte ihre Ankunft offenbar über einen Bewegungssensor registriert und leuchtete ihnen nun den Weiterweg in Form eines türlosen Ausgangs auf der anderen Seite des runden Kellerraums, in dem sie nach ihrem Abstieg durch die Turmwand gelandet waren.

Der Raum war klein und niedrig, wirkte aber dank des hellen Lichts und der weiß verputzten Wände nicht beklemmend. Die Luft roch nach Baustelle und war trocken und kalt. Einen Luftschacht konnte Heinrich nicht ausmachen, aber er vertraute darauf, dass das System ausgeklügelt und erprobt war. Für einen kurzen Erkundungsgang sollte die Luft reichen. Immerhin hatten von Leyden, Meissmann und ihre Mitarbeiter – darunter vielleicht sogar sein Vater – dieses Geheimarchiv jahrelang genutzt. Auch wenn die sensorgesteuerte Neonröhre und der nach Chemikalien riechende Wand- und Deckenputz relativ frisch und neu wirkten, war es durchaus denkbar, dass der Turm und der Zugang zu dem unterirdischen Archiv sogar noch älter waren als das Institut. Vielleicht hatten es die Russen als geheimen Fluchtweg oder Luftschutzbunker bauen lassen.

Heinrichs Neugierde war inzwischen stärker als sein Misstrauen. Zielstrebig ging er auf den Ausgang zu und dieses Mal zog er den Jungen hinter sich her, anstatt sich wie bisher von diesem vorwärts ziehen zu lassen. Als er die Schwelle des Ausgangs erreichte, blieb er stehen und warf einen staunenden Blick auf die steile Treppe und die zwei Handläufe, die in die Tiefe führten.

Die Treppe war so steil, dass das Licht aus dem runden Kellerraum nicht ihren Fuß erreichte. Doch das schreckte Heinrich nun nicht mehr ab. Er wusste, dass er Meissmanns Geheimnis näher war, als es sich Pragen in seinen kühnsten Träumen zu erhoffen gewagte. Deswegen lächelte Heinrich, als er einen Fuß auf die erste Treppensprosse setzte. Kaum hatte er einen Schritt auf die Treppe gewagt, hörte er, wie sich der Glühfaden einer Lampe erwärmte und den Schacht vor ihm erhellte. Heinrich mochte die automatisch geschalteten Lampen. Es fühlte sich so an, als würde Meissmann einen roten Teppich für ihn ausrollen.

Der Treppenschacht war so niedrig, dass Heinrich gerade so darin stehen konnte und es für ihn bequemer war sich anstatt am Handlauf an der Decke festzuhalten. Mit einer Hand an der Decke und mit der anderen den Jungen hinter sich herziehend, drang er immer tiefer vor. Die Treppe machte keine Kurven und keine Knicke, sondern ging schnurgeradeaus in die Tiefe, wobei sich in gleichmäßigen Abständen Lampen einschalteten, um ihnen den Weg zu erhellen. Entweder liefen sie gerade unter dem Gebäude durch Richtung Westen oder entfernten sich von dem Gebäude eine der anderen Himmelsrichtungen. Heinrich versuchte abzuschätzen, wie tief sie inzwischen vorgedrungen waren und wie weit sie sich von ihrem Einstiegspunkt entfernt hatten. Er ärgerte sich darüber, dass der spiralförmige Abstieg durch den Turm ihn seiner Orientierung beraubt hatte. Da er nicht wusste, wo Norden war, konnte er seine Position lediglich in Beziehung zu der Tür setzen, die aus dem runden Kellerraum in die Tiefe führte, aber er konnte seinen Weg nicht auf einer Karte eintragen.

Die Treppe war steil. Heinrich schätzte, dass der Treppenschacht sie knappe zwanzig Meter in die Tiefe, aber nur etwas mehr als zwanzig Meter in eine unbekannte Richtung geführte hatte, als sie schließlich den Fuß der Treppe erreichten, wo sie vor einer schweren Eisentür zum Stehen kamen. Die Tür verfügte weder über eine mechanische noch über eine elektrische Sicherheitsvorrichtung und ihre primitive, aber stabile Bauart erinnerte an ein Brandschott oder eine wasserdichte Schiffsluke. Sie ließ sich über ein tellergroßes Drehrad entriegeln. Heinrich ließ die Hand des Jungen los, um die Tür zu öffnen.

Über dem Rad waren in grüner Farbe zwei gegenläufige Pfeile auf das Metall gepinselt. Einer zeigte gegen den Uhrzeigersinn und war mit ОТК beschriftet. Über dem anderen stand ЗАК. Heinrich knetete seine nassen, kalten Finger, bevor er das Rad packte und es einer Intuition folgend linksrum probierte. Es tat sich jedoch nichts. Auch nicht, wenn er fester drehte. Seltsamerweise tat sich jedoch auch dann nichts, als er die andere Richtung ausprobierte.

Nach einigen vergeblichen Versuchen, legte Heinrich schließlich ein Ohr an die Tür. Während er erst vorsichtig, dann ruckartig das Rad hin und her drehte, lauschte er, ob sich hinter dem Metall ein Mechanismus in Bewegung setzte. Er hörte jedoch nichts. Heinrich strich sich die nassen Stirnfransen aus dem Gesicht und wischte seine nassen Finger an seinem Hemd trocken. Ihm war kalt. Hier unten war es zehn Grad kälter als oben im Institut. Er rieb kurz seine Handflächen gegeneinander und versuchte erneut, das Rad zu drehen. An dieser Tür zu scheitern kam ebenso wenig in Frage, wie sich von der Kälte von seinem Pfad abbringen zu lassen.

»Du kannst in dieser Welt keine Türen öffnen.«

Heinrich drehte sich nach dem Jungen um: »Was sagst Du?«

»Das konntest Du noch nie.« Der Junge trat vor, stellte sich auf die Zehenspitzen, griff mit beiden Händen nach dem Drehrad und bot seinem angestrengten Atmen nach zu urteilen seine gesamte Kraft auf, um es nach links zu drehen. Mit einem lauten Schrappen setzten sich die mit dem Rad verbundenen Riegel in Bewegung und gaben nach einem letzten Ächzen des Jungen die Tür frei. Der Junge lehnte sich zurück und zog mit seinem Körpergewicht die Tür auf.

Als sich die Tür aus der Fassung löste, lief Wasser über die leicht erhöhte Schwelle und es schlug ihnen ein fauliger Geruch entgegen. Heinrich wich zunächst einen Schritt zurück, doch dann hielt er sich eine Hand vor Nase und Mund und trat in den dunklen Gang hinter der Tür. Der Junge folgte ihm und drückte einen Schalter, um das Licht einzuschalten.

Heinrich blickte einen scheinbar endlos langen Gang entlang. Die Decke war gewölbt und die dort angebrachten länglichen Deckenstrahler so spärlich verteilt, dass der vor ihnen liegende Tunnel abwechselnd aus dunkleren und helleren Abschnitten bestand. Heinrich nahm die Hand runter und schlang beide Arme fest um seinen Körper. Das Wasser, das sich hinter der Tür angestaut hatte, stand noch immer zwei, drei Zentimeter hoch, obwohl ein Teil davon in den Vorraum abgeflossen war. Heinrich war froh über seine Gummistiefel. Aber sein Hemd war komplett nass und die Nässe verließ der Kälte Biss. Heinrich zitterte, während er sich ein paar Schritte vorwärts wagte und sich neugierig umblickte.

Gleich neben der Schotttür war ein vergitterter Verschlag. Hinter dem Gitter erkannte Heinrich trotz des spärlichen Lichteinfalls rostige Rohrleitungen in verschiedenen Stärken, über Handräder steuerbare Ventile, Verteilerkästen mit Sicherungen, schwere Eisenkurbeln und eine Matrix aus Schaltern und Knöpfen. Die Beschriftungen auf den an der Wand angebrachten Metallschildern waren auf Russisch. Heinrich ging davon aus, dass es sich bei den Gerätschaften um eine Wasserpumpe, einen Stromgenerator und ein Belüftungssystem handelte. Er ging allerdings nicht davon aus, dass irgendetwas davon noch funktionierte.

Als er nähertrat, sah er, dass eines der Rohre leckte, was den Wasserstand erklärte. An der Decke hatten sich Tropfsteine gebildet. Sie waren dünn, aber von stattlicher Länge. Er streckte zögerlich eine Hand danach aus, doch er führte die Bewegung nicht zu Ende. Stattdessen schlang wieder beide Arme um seinen Körper und wandte sich dem Gang zu.

Zu beiden Seiten des Tunnels gingen Türen ab. Einfache Eisentüren, einige davon nur angelehnt und bei einem Raum fehlte die Tür sogar. Dieses Bild passte nicht zu den von dem Jungen beschriebenen Sicherheitstüren mit eingebauter Alarmanlage und geheimer Zugangskombination.

»Was liegt hinter diesen Türen?«, fragte Heinrich, ohne sich nach dem Jungen umzudrehen. »Mach sie auf.« Dass er in dieser Welt keine Türen öffnen konnte hatte er sich gemerkt.

Der Junge ging an Heinrich vorbei und macht die Türen auf. Hinter der ersten Tür sah Heinrich ein altmodisches Telefon auf einem einfachen Tisch und an der Wand dahinter eine Landkarte. Hinter der zweiten Tür hatte sich offenbar einst ein ärztliches Behandlungszimmer befunden. Das Polster der Patientenpritsche war aufgerissen, auf dem Boden lag eine Art Wärmestrahler, dessen Bauweise so antiquiert war, dass sie schon wieder futuristisch wirkte. Hinter der dritten Tür befanden sich Stockbetten, keine Matratzen, keine Kopfkissen oder Decken, nur nackte Stahlgerüste. Der Raum hinter der vierten Tür war leer, aber die untere Hälfte der Wände war weiß gekachelt und an manchen Stellen ragten Rohre und Eisenhalterungen aus der Wand. Hinter der fünften Tür befanden sich grob gezimmerte Holzkisten, auf denen ein runder Eisendeckel lag. Heinrich wusste nicht, wie diese mittelalterlich anmutende Latrinen aus Holz zu dem futuristischen Arztzimmer passten. Der sechste Raum war der Raum ohne Tür. Er war klein und voller Schutt, fein säuberlich in der Raummitte zu einem Berg zusammengekehrt.

Als der Junge die Tür zum siebten Raum aufstoßen wollte, hielt Heinrich ihn zurück: »Ist das–«, setzte er an und zeigte erst auf die Türen, die hinter ihnen lagen, und dann auf die Türen vor ihnen. Er brauchte seine Frage nicht auszusprechen. Der Junge schüttelte den Kopf und zeigte den Gang hinab.

»Dann lass uns uns nicht weiter aufhalten.« Die Kälte machte Heinrich ungeduldig und grantig. Dass er immer noch nichts getrunken hatte und langsam müde, machte die Situation nicht angenehmer. Der Gedanke an etwas zu trinken, erinnerte Heinrich daran, dass er eigentlich hatte zurückgehen wollen, seine Jacke und etwas Wasser aus dem Auto holen. Und seine Tasche. Wo war seine Tasche?

Als sich die Hand Jungen in seine legte und ihn vorwärts den Gang entlang zog, verflogen seine Bedenken. Außerdem ließ die Kälte nach.

Heinrich versuchte, konstruktiv zu denken. Wenn er diesen unterirdischen Stollen auf einer Karte einzeichnen wollte, brauchte er weitere Informationen. Der Tunnel verlief ohne Steigungen oder Gefälle. Er machte auch keine Kurven. Die links und rechts abgehenden Türen endeten bald und Heinrich hatte nur noch Wände neben sich. Er befühlte mit seiner freien Hand den erst nur grob und später gänzlich unverputzten Beton, schmeckte die abgestandene Luft, achtete auf die Flechten, die sich in der Nähe der Lampen angesiedelt hatten, und zählte seine Schritte.

Keiner der beiden sprach ein Wort, auch dann nicht, als Heinrich einem unbestimmten Impuls folgenden stehenblieb und einen panischen Blick zurückwarf. Er konnte die Tür, durch die sie den Stollen betreten hatten jedoch nicht mehr sehen. Und selbst wenn er sie hätte sehen können– Er konnte in dieser Welt keine Türen öffnen. Er fragte sich, was er in dieser Welt noch nicht konnte und welche außerordentlichen Fähigkeiten er dafür besaß. Vielleicht musste er nur drei Mal die Hacken zusammenschlagen und sich nach Hause wünschen. Aber wo war sein Zuhause ohne Wilhelm? Er wollte weder zu dem verlassenen Geisterhaus auf dem Mittenwalder Kapitol zurückkehren noch nach München, wo ihn ein verwüstetes Apartment erwartete.

Heinrich war froh, als der Junge ihn weiterzog und er weiter seine Schritte zählen konnte. Von einer Lampe bis zur nächsten waren es jeweils zwölf Schritte, was Heinrich mit einer Länge von acht Metern gleichsetzte, da seine Schritte aufgrund der kurzen Beine des Jungen kleiner waren als sonst. Schweigsam liefen sie hintereinander her. Ihre Schatten begleiteten sie. Immer wenn sie eine Lampe erreichten, eilten ihnen ihre Schatten zunächst voraus, wurden dann länger, verblassten und verloren sich ganz, wenn sie den dunkelsten Punkt zwischen zwei Lampen erreichten, und wurden schließlich im Lichtkegel der nächsten Lampe wiedergeboren.

Heinrich war so sehr auf das Zählen seiner Schritte fixiert, dass er erst aus seinen Gedanken gerissen wurde, als sich sein Schatten, der ihm bisher entweder gefolgt oder vorausgeeilt war, plötzlich in sechs einzelne Schattenklone aufteilte. Die Klone waren zwar allesamt ein wenig blass, aber jeder von ihnen wies in eine andere Richtung. Heinrich schaute auf. Sie hatten das Ende des Tunnels erreicht. Über ihren Köpfen waren sechs Lampen angebracht, deren Aufgabe es war, die vor ihnen liegende Tür zu beleuchten. Heinrich wusste sofort, dass er die Tür zur Festung erreicht hatte. Obwohl sie mindestens ebenso so solide und robust wirkte wie die erste Bunkertür, sah sie graziler und moderner aus. Anstatt sich mit dicken Nieten und eisernen Querbändern zu präsentieren, lagen ihre Stabilität gebenden Komponenten hinter einer glatten Stahlfront verborgen. Ihr weißer Anstrich war makellos und zeigte keinerlei Spuren von Abnutzung oder Korrosion. Anstatt über ein großes Drehrad ließ sich diese Tür offenbar über ein elektronisches Eingabefeld öffnen.

Heinrich trat näher an die Tür heran und legte seine Hand auf das kalte Metall. Knapp fünfhundert Meter hatte er seit der letzten Tür gezählt.

»In welche Himmelsrichtung sind wir gelaufen?«, fragte er den Jungen.

»Das kann ich Dir nicht sagen«, erwiderte dieser und fügte, erst als Heinrich skeptisch die Augenbrauen hob, erklärend hinzu: »Das ist, weil du mich das bisher noch nie gefragt hast. Eigentlich bist nicht Du derjenige, der die Schritte zählt, sondern ich.« Diese Antwort leuchtete Heinrich ein. Er wandte sich wieder der Tür zu.

Neben der Tastatur, die auf die Eingabe eines digitalen Aktivierungsschlüssels wartete, befanden sich ein Griff, um die Tür aufzuziehen, und eine Klappe, die sich durch Drücken öffnen ließ. Hinter der Klappe fand Heinrich zwei Einlassungen, eine runde mit silbernen Zahnrädern umgebene Öffnung und eine quadratische Fassung. Das zur quadratischen Fassung passende Werkzeug befand sich zwischen den beiden Einlassungen, eine z-förmige Kurbel. Mit dem richtigen Schlüssel ließ sich die Tür offenbar aufkurbeln. Heinrich schloss die Klappe und drehte sich zu dem Jungen um: »Jetzt ist deine Magie gefragt.«

Der Junge brauchte keine zweite Aufforderung. Er schien einmal mehr darüber erfreut, Heinrich mit seinem Wissen von Nutzen sein zu können. Heinrich beobachtete die Eingabe der Nummern genau. Auch wenn es ein Gesetz zu geben schien, dass es ihm unmöglich machte, in dieser Welt Tür zu öffnen, konnte die Information vielleicht dennoch hilfreich sein. Vielleicht galt so eine absurde Regel nicht für Pragen oder Jan.

Ein viermaliges Piepen und das Aufleuchten eines grünen Lämpchen signalisierten, dass die Eingabe des Codes erfolgreich war. Während sich Heinrich noch einmal vergewisserte, dass er sich die Nummer eingeprägt hatte, hörte er, wie sich im Inneren der Tür kleine, aber kräftige Motoren in Bewegung setzen, um die Tür zu entriegeln. Den eigentlichen Schließmechanismus hörte man im Gegensatz zur ersten Tür nicht. Es war weder ein Schrappen noch ein Schleifen zu hören, stattdessen löste sich, nachdem die Motoren wieder zur Ruhe gekommen waren, die Tür mit einem leisen Zischen aus ihrer Fassung und ließ sich von dem Jungen mühelos aufziehen.

Erwartungsvoll trat Heinrich hinter dem Jungen durch die Tür. Er achtete kaum darauf, wie sich die Tür wieder hinter ihm schloss und ihre Verriegelung aktivierte, sondern blinzelte kurz, um sich an das grelle Licht auf dieser Seite der Tür zu gewöhnen, bevor er sich neugierig umschaute. Entgegen seiner Erwartung befand er sich jedoch nicht in einem Archiv mit Regalen voller Akten, Büchern und Microfichebändern. Vor ihm lag nur ein weiterer langer Stollen. Dieses Mal waren die Betonwände allerdings nicht mit Wasserflecken übersät und von Flechten bewachsen, sondern glatt verputzt und weiß strichen.

Auf dieser Seite der Tür gab es keine Schatten. Es gab hier nicht nur mehr Lampen, sie leuchteten auch heller und ihr Lichtschein wurde von den weißen Tunnelwänden reflektiert. Dass der Gang ein wenig breiter war als der vorige trug ebenfalls dazu bei, dass hier alles heller wirkte. Oder war es umgekehrt? Erschien der Gang nur breiter, weil er hell gestrichen war? Heinrich streckte seine Arme aus.

»Nicht die Wände berühren«, riet ihm der Junge.

»Warum?«, frage Heinrich und fuhr mit seiner Hand über den glatten, weißen Putz.

»Das ist Leuchtfarbe. Sie bleibt an den Fingern kleben, wenn man sie berührt, und der Professor sagt, sie ist giftig.«

Heinrich betrachtete seine Finger. Sie waren von schimmerndem Staub überzogen, der sich zu mehligen Krümeln zerreiben ließ. Heinrich schnaubte leise. Es amüsierte ihn, dass bei einem Projekt wie diesem am Ende an der Farbe gespart worden war. Sie hatten zwanzig Meter unter Erde einen kilometerlangen Stollen gegraben, ihn mit allerlei elektronischem Firlefanz ausgestattet und dann billige, schlecht abgebundene, und falls der Professor dem Jungen nicht nur Angst machen wollte, sogar giftige Wandfarbe benutzt. Er wischte seine Hand an seinem Hosenbein ab und schlang seine Arme wieder um seine Schultern. Wärmer war es hier jedenfalls nicht.

Als der Junge jedoch nach Heinrichs Hand griff und ihn weiterzog, merkte Heinrich nach ein paar Schritten, wie es angenehm warm wurde. Sein Hemd war nun auch nicht mehr nass und statt der klobigen Gummistiefel trug er wieder seine weichen Schnürschuhe.

Heinrich ging wieder dazu über, seine Schritte zu zählen. Dieser Gang führte jedoch nicht eben und schnurgeradeaus, sondern stiegt sanft an und wand sich nach leicht nach rechts. Nach fast der exakt gleichen Schrittanzahl wie im Tunnel zuvor erreichten sie eine weitere Schotttür mit einem elektronischen Eingabefeld. Heinrich ließ dem Jungen den Vortritt.

»Diese Tür hat einen anderen Code«, erklärte dieser, und fügte, weil er offenbar von der Selbstverständlichkeit, mit der Heinrich seine Dienste in Anspruch nahm, enttäuscht war, hinzu: »Wenn man etwas falsch eingibt, wird ein Alarm ausgelöst und – zing, bumm – stürzt der Turm ein und wir verbrennen hier unten.«

Heinrich nickte. Er hatte nichts anderes erwartet. »Konzentrier Dich«, sagte er und meinte damit sowohl den Jungen als auch sich selbst. Denn er musste sich auch diese Nummer merken.

Die Tür öffnete sich nach einem kurzen Surren der Motoren ebenso elegant wie die davor. Dieses Mal führte sie jedoch nicht in einen weiteren Gang, sondern in eine Kammer von der vier weitere Türen abgingen.

Fast ehrfürchtig betrat Heinrich die Kammer. Direkt neben der Tür war ein Verschlag mit einer Toilette, wie man sie manchmal auf Campingplätzen fand, ohne Wasser. Ein Waschbecken fehlte ebenfalls. Diese Toilette war wohl nur für äußerste Notfälle gedacht. Ein Stück weiter stand eine große Kiste. Neugierig öffnete Heinrich den Deckel. Die Holzkiste enthielt ein umfangreiches Sortiment an Notfallinventar. Von Verbandmaterial über Decken bis hin zu unendlich lang haltbaren Nahrungsmitteln für Katastrophenfälle war alles da. Sogar Gasmasken, Sauerstoffkerzen, Brandäxte und Feuerlöscher.

Heinrich inspizierte den Proviant und griff nach einer silbernen, etwa handtellergroßen Packung. Die Beschriftung der Metallfolie war auf Russisch, aber das war nicht der Grund, warum Heinrich den blau auf Silber gedruckten Schriftzug nicht lesen konnte. Die Buchstaben waren unscharf, und je mehr er sich darauf konzentrierte, desto verschwommener erschienen sie ihm. Er wusste jedoch auch, ohne die Aufschrift zu lesen, dass er die russische Versionen einer speziell für Soldaten im Feld gebackenen Kekssorte in der Hand hatte. Sie war berüchtigt für ihren hohen Nährwert und ihre absolute Unverderblichkeit. Manche nannten das Gebäck, das aus gleichen Anteilen an Zucker, Mehl und Fett bestand, Hartkeks oder Soldatenkeks. Andere sprachen, um dem Geschmack und er Konsistenz der Kekse Rechnung zu zollen, von Panzerplatten.

Da Heinrich nur eine Hand frei hatte, zog er die Metallfolie über die Klinge der Axt. Kaum war die luftdichte Verpackung geöffnet, fiel ihr Inhalt in sich zusammen. Überrascht kippte Heinrich den Beutel aus und musste feststellen, dass das Keks zu so feinem Staub zerfallen war, dass die Staubpartikel in der Luft schwebten anstatt auf den Boden zu fallen.

Heinrich wühlte durch den restlichen Proviant in der Kiste und fand unter den Decken Konservendosen und Wasserbeutel. Er nahm einen Wasserbeutel und öffnete ihn auf die gleiche Weise wie zuvor die Kekspackung. Was bereits für ein Gebäck aus Mehl und anderen festen Zutaten unwahrscheinlich war, war für Wasser gänzlich undenkbar. Dennoch kam auch aus dem Wasserbeutel nichts weiter als feiner Staub.

Heinrich schlug den Deckel zu und trat einen Schritt zurück. Er wusste nicht, was er von einem Ort halten sollte, an dem Hartkekse und Wasser zu Staub zerfielen, doch wer auch immer die Kiste hier aufgestellt hatte, war davon ausgegangen, dass man hier im Notfall – zing, bumm – ein paar Tage ausharren konnte, bis Hilfe kam. Als sich Heinrich wieder dem Jungen zuwandte, schaute ihn dieser erwartungsvoll an. Heinrich nickte. Er war bereit.

Der kleine Junge zog Heinrich tiefer in den Raum zu einer der hinteren Bunkertüren. Doch Heinrich blieb plötzlich stehen und zeigte auf die beiden Türen, an denen der Junge kommentarlos vorbeigehen wollte. Die Türen trugen Beschriftungen. Sie waren mit weißer Kreide auf den grauen Stahl geschrieben worden: ›Drosselmeyer‹ links, rechts ›Prinzessin Martha‹. Im Gegensatz zu den Türen am Ende der Kammer, besaßen die vorderen Türen Bullaugenfenster, die jedoch mit Farbe oder Ruß geschwärzt waren.

»Was ist mit diesen beiden Türen?«

»Ich kann sie nicht öffnen.« Die Stimme des Jungen klang zerknirscht. Heinrich nickte, bewegte sich jedoch kein Stück weiter, als der Junge an seinem Arm zog.

»Wer oder was ist Drosselmeyer?«, fragte Heinrich, aber der Junge schien es nicht zu wissen. Er schüttelte nur den Kopf und wollte Heinrich weiterziehen, doch dieser blieb weiterhin wie angewurzelt stehen.

»Und das?« Heinrich zeigte auf die Tür gegenüber, auf der ›Prinzessin Martha‹ stand.

»Das ist die Grabkammer meiner Mutter«, antwortete der Junge: »Ich habe diesen Raum noch nie betreten. Die Kombination kennt nur der Professor.«

»Deine Mutter?«, fragte Heinrich verwirrt.

»Ja, meine Mutter. « Der Junge verzog keine Miene.

»Die Grabkammer Deiner Mutter? Deine Mutter ist tot?« Heinrich selbst hatte nur die ersten vier Jahre seines Lebens in der Obhut seiner Mutter verbringen dürfen und hütete die wenigen Erinnerungen, die ihm an diese Zeit verblieben waren, wie einen kostbaren Schatz. Er wollte etwas Tröstliches sagen, aber er wusste, dass Trost nicht half, es manchmal sogar schlimmer machte.

»Was ist passiert? Woran ist sie gestorben?«, fragte er schließlich. Die Worte kamen ihm nur zögerlich über die Lippen und seine Stimme klang spröde. Nicht wegen seiner trockenen Kehle, sondern weil ihr die Kraft fehlte.

»Sie ist nicht gestorben«, erklärte der Junge in seinem üblichen sachlichen Ton, aus dem allenfalls eine Spur Besserwisserei, aber nicht der geringste Hauch von Betroffenheit herauszuhören war: »Sie war einfach immer schon tot.«

Die Unbekümmertheit des Jungen machte es Heinrich nicht leichter. Er trat näher an die Tür heran und betrachtete den Schriftzug. Er musste an die Totentafel seiner Mutter denken, die in festen Stoff gewickelt in seiner Nachttischschublade in Mittenwald lag. Der Name seiner Mutter war in goldenen Buchstaben auf einer dunkelbraunen Holztafel verewigt worden. Der schnörkellose Schriftzug auf der Eisentür wirkte eher wie die Beschriftungen, die man bei einem Umzug auf Türen, Möbel und Kartons schrieb, damit die Möbelpacker wussten, was wo hingehörte.

Heinrich fuhr mit seiner Hand über das in die Tür eingelassene Fenster. Er hätte gerne gesehen, welche Geheimnisse der Professor in diesem Raum hütete, doch die schwarze Farbe, die diese Geheimnisse vor neugierigen Blicken schützte, war von innen an die Scheibe gepinselt worden und es gab keine blickdurchlässige Stelle.

»Meine Mutter war eine Prinzessin. Sie kommt aus einem fernen Königreich, in dem ewiger Winter herrscht«, plauderte der Junge plötzlich los: »Ihr Reich ist aber längst untergegangen. Es ist in Schnee und Eis versunken. Sie war die letzte Prinzessin. Und sie war die Letzte ihrer Art. Der alte Professor hat sie dort im Eis gefunden.«

»Meissmann?«, entfuhr es Heinrich. Meissmanns gelegentliche Fernreisen in die Sowjetunion sowie in den nahen, fernen und noch ferneren Osten waren aktenkundig. Von Exkursionen in arktische oder antarktische Gebiete oder andere Regionen, die man mit ewigem Eis verband, wusste Heinrich nichts.

»Nein, nicht Meissmann«, korrigierte ihn der Junge: »Der alte Professor. Von Leyden.«

Heinrich rief sich den Mann in Erinnerung, der ihn auf der Galerie von einem Bild aus angestarrt hatte, und nickte. Natürlich von Leyden.

»Im ewigen Winter ist alles weiß«, fuhr der Junge fort: »So weiß, dass man meint, man wäre blind. Und es ist kalt. So kalt, dass man, wenn man nicht in Bewegung bleibt, sofort erfriert.«

Der Junge schaute Heinrich mit großen Augen an. Dieser räusperte sich und überlegte kurz, bevor er der schweigsamen Aufforderung nachkam: »Meine Mutter kam auch aus einem fernen Land, aus dem Land des ewigen Sommers. Dort gibt es hohe Palmen, bunte Blumen, endlose Strände mit glitzerndem Muschelsand und viele Tiere: Krabben, Geckos, Fledermäuse und viele mehr.« Heinrich erinnerte sich ein Foto seiner Mutter, das bei seinen Großeltern im Wohnzimmer aufgestellt gewesne war. Das Bild war am Tag ihrer Volljährigskeitszeremonie aufgenommen worden und sie trug einen traditionellen Kimono und ihr Haar war mit einem Blumenkamm hochgesteckt gewesen. »Meine Mutter sah auch aus wie einen Prinzessin, auch wenn sie keine war. Nein, eigentlich sah sie aus wie ein Engel. Sie fehlt mir.« Heinrich seufzte: »Und Du? Vermisst Du Deine Mutter sehr?«

Der Junge schaute Heinrich nachdenklich an, so hätte er die Frage nicht verstanden, doch dann antwortete er: »Ich brauche meine Mutter nicht zu vermissen. Sie lebt in mir fort. Nicht nur sie, sondern ihre gesamte Art. Ich bin der letzte Wille des alten Volkes und ich habe nicht nur ihre Erinnerungen, sondern auch ihre besonderen Fähigkeiten geerbt. Ihre Geschichte steht in meinem Blut geschrieben wie in einem Buch.« Er ließ Heinrichs Hand los und streckte beide Arme nach vorne, sodass Heinrich das blaue Geflecht aus Adern auf der Innenseite seiner Arme sehen konnte.

Heinrich ging in die Hocke nahm beide Hände des Jungen und schaute sich die Arme genauer an. »Welche Erinnerungen? Welche besonderen Fähigkeiten?«

Der Junge blickte nervös nach links und rechts und versuchte, seine Arme zurückzuziehen, aber ließ seine Hände nicht los. Der Junge hatte an beiden Armen dicke Pflaster, mehrere Lagen Mullbinden, die mit medizinischem Klebeband befestigt waren.

»Es ist– geheim. Und ich kann es nicht so, wie ich es sollte. Es ist– Ich bin zu nichts nütze«, quälte der Junge auf Heinrichs eindringlichen Blick heraus und versuchte erneut, seine Arme zurückzuziehen. Er hatte Angst wie ein Tier der Falle.

»Was ist hier passiert?« Heinrich verstärkte seinen Griff und blickte dem Jungen fest in die Augen. Erst jetzt bemerkte er, dass der Junge auch um den Kopf einen Verband trug. Seine langen Haare lugten teilweise darunter hervor, teilweise verdeckten sie die weiße Binde. Heinrich konnte sich nicht erklären, wie ihm der Kopfverband bisher hatte entgehen können. Ebenso wie die roten Druckstellen, die er nun am Hals und Kinn des Jungen entdeckte.

»Wo kommen diese Verletzungen her?«, fragte Heinrich. Da der Junge schwieg, fragte er weiter: »Der Professor? Hat er diese Verletzungen zugefügt?« Bei der Erwähnung des Professors schüttelte der Junge jedoch energisch den Kopf: »Der Professor ist sehr streng. Aber nicht mit mir, sondern mit allen anderen. Wenn ich auch nur einmal Au sage, kriegen sie einen Höllenärger.«

Heinrich löste vorsichtig ein Klebeband am rechten Arm des Jungen. Falls es ziepte, ließ sich der Junge nichts anmerken. Als Heinrich unter das Pflaster sah, entdeckte er zwei Blutergüsse und mehrere Einstichlöcher. Der eine Bluterguss war etwas größer und dunkelviolett, der andere blassgelb und die Einstichlöcher waren mit einer orangefarbenen Tinktur eingepinselt worden. Es sah aus wie ein Picasso-Tattoo. Eine Schar kleiner Pickel, die sich am Rand des Pflasters gebildet hatten, gaben dem Gemälde sogar einen Rahmen.

»Wie oft hast Du Au gesagt?«, fragte Heinrich, bevor er das Pflaster vorsichtig wieder aufklebte.

»Kein einziges Mal«, verkündete der Junge stolz, während er einen Finger unter den Rand des Pflasters schob und kratzte. »Es juckt nur manchmal wie wild. Aber ich bin tapfer.«

»Das bist Du«, bestätigte Heinrich. Er richtet sich auf und schaute sich nachdenklich um: »Gib es noch andere wie Dich?«, fragte er schließlich.

»Andere?«, fragte der Junge zurück.

»Du sagst, Dein Name ist Eva sieben. Wenn Du Nummer sieben bist, wer oder wo sind dann die Nummern eins bis sechs?« Als der der Junge jedoch nur unsicher den Kopf schüttelte, versuchte Heinrich es anders: »Bist Du das einzige Kind hier?«

Diese Frage konnte der Junge mit einem klaren Nicken beantworten. Das Mitgefühl, das sich daraufhin in Henrichs Blick zeigte, wollte ihm allerdings ganz und gar nicht gefallen. Es schien seine Selbstdarstellung zu untergraben, seinen Stolz zu verletzen und größere Wunden offenzulegen, als die Pflaster verbargen.

»Ich habe aber einen Freund, der mich jede Nacht besuchen kommt«, sagte er ebenso nachdrücklich, wie er zuvor von dem Alarmsystem gesprochen. Nur ohne zing, bumm.

Heinrich schaute sich um: »Aber heute Nacht ist er nicht da«, stellte er fest.

»Aber Du bist doch da«, sagte der Junge. Die Selbstverständlichkeit, die in seiner Aussage lag, klang entwaffnend. Heinrich wollte die Redseligkeit des Jungen jedoch noch ein wenig ausreizen: »Dein Freund, hat er auch eine Nummer?«

»Nein«, der Junge schüttelte den Kopf: »Er ist anders als ich. Er hat alles, was ich nicht habe. Er kann alles und er weiß alles besser. Manchmal hasse ich ihn.« Der Junge sah erschrocken zu Heinrich auf. Er schien, seine letzten Worte zu bereuen, aber er sah in Heinrichs Blick, dass er sie nicht zurücknehmen konnte.

»Das sollte ich nicht, richtig?«, fügte er zerknirscht hinzu.

Heinrich dachte nach, hatte jedoch keine Antwort für den Jungen.

»Ist das ein Zeichen dafür, dass ich kein Herz habe?«, fragte dieser weiter.

»Kein Herz?« Diese Aussage kam Heinrich absurd vor. »Wer sagt das?«, wollte er wissen.

»Mein Freund«, antwortete der Junge.

Heinrich zuckte zusammen. Er fühlte sich schuldig. »Kein Herz?«, fragte er und schüttelte den Kopf, um Zeit zu gewinnen. Nach einem langen Seufzer fuhr er fort: »Tut es dort weh, wenn der Hass in Dir aufwallt?« Heinrich klopfte sanft auf die Brust des Jungen, der erst zögerlich, dann heftig nickte. Heinrich nickte ebenfalls: »Egal, ob Du hasst oder liebst, es ist immer Dein Herz«, erklärte er. »Lass uns zu dem Archiv gehen, von dem Du gesprochen hast.« Jetzt war es Heinrich dessen wunde Stellen offenlagen und der vor seiner Schuld zu fliehen versuchte.

Er ging auf die Tür zu, zu der ihn der Junge gleich nach dem Betreten des Raumes hatte bringen wollen.

»Es tut weh, wenn ich daran denke, dass du gehst«, hörte er den Jungen hinter sich sagen.

Ohne sich umzudrehen antwortete Heinrich: »Ich bin da. Und ich werde immer wieder kommen. Das weißt Du.«

Der Junge nickte. Er ließ Heinrichs Hand los und eilte voraus, um die Tür zu öffnen. Sie hatte kein elektronisches Schloss, sondern nur ein großes Drehrad.

Während Heinrich beobachtete, wie der kleine Junge mit beiden Händen und einem heftigen Ruck das große Rad in Position brachte, bemerkte er wie die Kälte in seine Glieder kroch. Als sich die Tür aus ihrer Fassung hob und von dem Raum dahinter ein leises Piepen hörbar wurde, schaute Heinrich noch einmal zurück. Unter der Kiste, in der er das Verbandsmaterial und die Notvorräte gefunden hatte, floss Wasser hervor. Es war nur eine kleine Lache wie von einer umgefallenen Wasserflasche.

»Komm schnell rein. Wenn die Tür zu lange geöffnet bleibt–«, rief ihm der Junge zu.

Heinrich wirbelte herum und war schneller in dem Raum, als der Junge brauchte, um seinen Satz zu beenden. Kaum fiel hinter ihm die Tür wieder zu, fühlte Heinrich die Wärme zurückkehren. Nur seine Hand, die die Hand des Jungen gehalten hatte, blieb vor Kälte taub und unbeweglich. Er knetete sie ein wenig, während er sich in dem Raum umschaute.

Neben der Tür beruhigte sich gerade die piepende Anzeige und ein rotes hektisches Warnsignal erlosch. Auch wenn es keinen elektronischen Zugangscode gab, wurden offenbar verschiedene andere Werte elektronisch erfasst.

»Bei anhaltend veränderten Druck-, Temperatur- oder Feuchtigkeitsverhältnissen wird ein Alarm ausgelöst. Deswegen muss die Tür immer schnell geschlossen werden«, kommentierte der Junge Heinrichs Interesse an der Anzeige. Heinrich drehte sich zu dem Jungen um. Als sich ihm dabei ein Druck auf die Ohren legte und er das Gesicht verzog, erklärte der Junge: »Das passiert machmal.« Er schien Heinrichs Blick zu deuten zu wissen. »Um den Druck loszuwerden, muss man sich die Nase zuhalten und kräftig Schlucken. So–« Er machte es vor und nickte zufrieden, als Heinrich es ihm gleichtat.

»Wir haben hier eine regelmäßige Temperatur von achtzehn Grad Celsius und der Hygrometer misst eine Luftfeuchtigkeit von fünfzig Prozent. Das ist eigentlich ein angenehmes Raumklima. Wenn es zu kühl ist, kann man die Raumtemperatur bis auf zwanzig Grad anheben. Möchtest Du, dass ich die Temperatur hochdrehe?«

Die Worte des Jungen erreichten Heinrich kaum. Der Raum hatte seine Konzentration ganz in Beschlag genommen. Gleich neben der Anzeigetafel für die Umgebungsmesswerte befand sich ein Tisch, auf dem einige einfache Holzkisten zu einer kleinen Pyramide übereinander gestapelt waren.

Das Holz war unbehandelt und schien schon einiges mitgemacht zu haben. Einige Latten waren verbogen, andere am Rand gesplittert und bei einer der Kisten, glaubte Heinrich sogar Einschusslöcher zu entdecken. Hier und da waren noch einzelne Buchstaben von einer verblichenen Beschriftung in Russisch ausmachen. Es handelte sich dabei offenbar um alte Militärkisten zum Transport von Munition, Rationen oder Sanitätsmaterial. Sie hatten an den Seiten stabile Metallgriffe montiert und waren unverschlossen. Heinrich spähte in eine hinein.

Der Inhalt erschien Heinrich wie ein heilloses Durcheinander. Unter einem Klemmbrett, dessen zerknitterte Berichtsblätter mit handschriftlichen Vermerken übersäht war, fand er ein elegantes Notizbuch, in dem ein Füller mit einem abgestoßenen silbernen Deckel steckte. Der Boden der Kiste war mit Büchern ausgelegt. Darauf stand ein Gestell mit dunklen Medizinfläschchen und eine Schale mit Nadeln, Tupfern und Pipetten. Die Spitzen der Nadeln waren verkohlt und mit einer grünlichen Patina überzogen, die Tupfer waren schmutzig und die gläsernen Pipetten mit feinen Tropfen beschlagen. Neben der Schale stand eine Kassette mit gläsernen Objektträgern, die man in ein Mikroskop einspannen konnte, und daneben lehnte ein großes Lederetui mit Reißverschluss.

»Das sind die Arbeitskisten der Wissenschaftler«, erklärte der Junge, als Heinrich das Etui herausnahm, um den Reißverschluss aufzuziehen.

»Es ist den Wissenschaftlern nicht erlaubt, Dokumente oder Labormaterialien unbeaufsichtigt im Haus aufzubewahren. Deswegen müssen alle Arbeitsplätze beim Verlassen des Institutes und sei es nur über Nacht oder für ein Wochenende in einer Kiste verstaut und hier abgestellt werden.«

Heinrich nickte. Bei dem Gedanken an die steilen Turmtreppen und die beiden endlos langen Tunnel war er froh, dass er auf dem Weg hierher keine schwere Kiste hatte schleppen müssen.

»Wenn etwas gekühlt werden muss–« Der Junge hielt mitten im Satz inne, als Heinrich mit einem zischenden Laut das Etui fallen ließ. Neben dem dumpf aufschlagenden Etui fiel klirrend ein Skalpell zu Boden und Heinrich hielt sich die Hand, als hätte er sich geschnitten. Als er jedoch kurz darauf die schmerzende Stelle betrachtete, war keine Wunde und klein Blut zu sehen. Seine Finger waren nur merkwürdig feucht. So als hätte er geschwitzt, kalt geschwitzt.

Heinrich versuchte, seine Hand an seiner Hose trocken zu wischen, aber das Wasser schien aus ihm herauszusickern wie aus einem Schwamm. Er erinnerte sich daran, was seine Großmutter über die blauen Augen seines Vaters gesagte hatte. Auf den Inseln waren sie ein Zeichen von zu viel Wasser im Blut. Wässriges Blut machte einen schwach and anfällig gegen Wesen, denen Wasser stärke verlieh und die Wasser als Tor benutzten. »Im Wasser spielen die Kobolde«, hatte seine Großmutter immer gesagt.

Als Heinrich aufsah, stand der Junge mit dem Skalpell vor ihm und durchbohrte ihn mit seinen wasserblauen Augen. Heinrich wich vor Schrecken einen so großen Schritt zurück, dass er unsanft gegen den Tisch stieß. So wie er zuvor einen Schnitt gespürt zu haben glaubte, fühlte er nun einen Stich mitten ins Herz. Er schlug beide Hände vor die Brust und keuchte. Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen, während er um Atem rang.

Der Junge stand jedoch nur da und schaute ihn an. Es war wie damals, wie in seinem dunklen Traum. Aber hier war es nicht dunkel. Und es war auch kein Traum. Heinrich sah sich um, wie um sich am Licht und der Realität festzuhalten. Dies war nicht sein dunkler Traum. Er würde hier nicht sterben.


 

Heinrich nahm die Hände von seiner Brust und sah an sich herab. Auf seinem Hemd war nur ein nasser Fleck. Wie zuvor bei seiner Hand war kein Blut zu sehen oder nur Blut, das wie Wasser war. Während sich sein Atem beruhigte, richtete sich Heinrich langsam auf und beobachtete, wie der Junge das Messer in das Etui steckte und dann alles wieder in die Kiste räumte. Er machte dem Jungen Platz, dankte ihm mit einem wortlosen Nicken und versuchte sich auf die Aufgabe vor ihm zu konzentrieren: Meissmanns Geheimnisse.

Der Raum ließ nicht erahnen, dass man sich zwanzig Meter unter der Erde am Ende eines langen Tunnels befand. Obwohl er keine Fenster hatte, wirkte der Raum aufgrund seiner Weite nicht erdrückend. Die bis fast unter die Decke reichenden Regale waren so aufgestellt, dass man bequem dazwischen laufen konnte. Heinrich hatte schon ganz andere Archive erlebt. Mit einem leichten Schaudern dachte er an Koblenz, die Enge, das schummerige Licht, die schlechte Luft.

Aber hier was alles anders. Der Boden war weiß gefliest, die Wände hell gestrichen, zwischen den Regalen waren breite Gänge und es roch nach nichts. Heinrich nahm einen tiefen Atemzug. Doch, es roch nach dem Lack der weißen Regale und nach den erhitzten Neonröhren, aber es roch nach Büro, nach neu, nicht nach Papier und Moder.

Er wagte sich ein paar Schritte weiter vor. Nur wenige Regale waren mit Büchern und Aktenordnern gefüllt. Das meiste war in Schubladen, Kisten und Kästchen verborgen. Auch die Bücher und Ordner bewahrten ihre Geheimnisse, denn die Buchrücken waren ohne Aufdrucke und die Ordnerbeschriftungen waren nur Kombinationen aus Buchstaben und Ziffern. Leitern auf Rollschienen ermöglichten den Zugriff auf die oberen Fächer. Dort erspähte Heinrich weitere Kisten und sogar Tonbänder und Filmkassetten.

Heinrich schritt langsam durch die Regalreihen bis er an eine Stelle kam, wo zwischen zwei Regalen eine größere Fläche freigelassen worden war und den Blick auf ein Möbelstück freigab, das gänzlich aus dem Rahmen fiel. Ein unaufgeräumter Schreibtisch aus dunklem Holz.

»Diesen Schreibtisch benutzt der Professor manchmal als Arbeitsplatz, wenn ihm der Weg in sein Arbeitszimmer im Haus zu weit ist.«

Heinrich ging zu dem Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand. Der Stuhl war ebenfalls aus dunklem Holz und mit goldenen weichen Polstern bespannt. Armlehnen hatte er auch. Heinrich machte es sich bequem.

»Wir fassen hier besser nichts an«, sagte der Junge. Er klang nervös.

Heinrich sah sich nur um. Der Schreibtisch sah nicht interessanter aus als der Inhalt der Arbeitskisten am Türeingang. Doch als er zwischen einem Mikroskop und einem Berg aus Papieren, Karten, Büchern einen mechanischen Globus entdeckte, der aus mehreren übereinander liegenden Metallebenen bestand und an manchen Stellen einen Blick auf die Zahnräder, Federn und Hebel in seinem Innern freigab, streckte Heinrich fasziniert die Hand danach aus.

»Nein«, rief der Junge. Heinrich zuckte zurück.

»Das ist ein Simulator für die Kontinentaldrift und Erdkrustenverschiebung«, erklärte der Junge. »Doch wenn man nur ein wenig an den Rädchen dreht, verkanten sich die Eismassen der Antarktis mit dem Ring des südlichen Polarkreises. Deswegen fasst man die Maschine am besten erst gar nicht an.«

Heinrich nickte. Er legte seine Arme wieder auf den Armlehen ab und ließ seinen Blick weiter über die Arbeitsfläche schweifen. Neben dem Mikroskop lagen Aufzeichnungen und eine Ansammlung verschiedener medizinischer Geräte und Instrumente, mit denen Heinrich nichts anzufangen wusste. Als Schutzunterlage diente eine riesige in Kunststoffglas eingeschlossene Weltkarte.

»Wir sollten zu den Arbeitsplätzen am Ende des Raums gehen. Dort steht auch das Microfichelesegerät.«

Heinrich stand auf. Nicht jedoch, weil er das Microfichelesegerät sehen wollte. An der Wand hinter dem Schreibtisch hing eine große Tafel in einem Holzrahmen. Von der schwarzen Schreibfläche war allerdings kaum etwas zu sehen, da die Tafel als Pinnwand verwendet worden war. Eine alte Seekarte sowie unzählige Diagramme, Tabellen und Notizzettel bedeckten fast die ganze Fläche. Dort wo die Karte aufgeklebt war, hatte jemand ein paar Postkarten und Fotos zwischen die Tafel und den Rahmen gesteckt. Heinrich streckte die Hand nach einem der Fotos aus: »Wer ist sie?«, fragte er, obwohl er es wusste. Auch wenn sie auf dem Bild zwanzig oder dreißig Jahre jünger war als damals in Leipzig, wo er sie kennengelernt hatte, und obwohl er das einzige Bild, das ihm nach der tragischen Geschichte von ihr geblieben war, vor Jahren verbrannt hatte, erkannte er Luise sofort. Daran konnte auch der dunkle Wintermantel, den sie statt ihres weißen Apothekerkittels trug, nichts ändern.

»Wir sollten hier lieber nichts anfassen«, wiederholte der Junge. Heinrich hielt mitten in der Bewegung inne, er konnte jedoch seinen Blick nicht von dem Foto wenden. Als junge Frau sah Luise Wilhelm so ähnlich, aber das hatte er zuvor auch schon bei dem kleinen Jungen gedacht. Vermutlich spielten ihm seine Fantasie und sein Wunschdenken Streiche. Es beunruhigte ihn jedoch, ein Bild von ihr hier im Institut zu finden. Er hatte nicht gewusst, dass ihre Bekanntschaft mit Meissmann so weit zurückreichte. Oder doch? Hatten die Recherchen, mit denen er den alten Stasimann beauftragt hatte, nicht genau das ergeben?

Heinrich versuchte, sich zu erinnern. Aber der Stich, das Koma und das Versprechen, alles zu vergessen, lagen wie Fesseln um seine Gedanken. Er gab sich einen Ruck und zog das Foto zwischen den anderen Bildern und Postkarten hervor. Falls der Junge protestierte, hörte Heinrich ihn nicht.

Der Atemzug, den Heinrich entließ, als er sich das Foto näher betrachtete, klang erschöpft. Die Erschöpfung kam jedoch von einer alten Wunde, nicht von den Anstrengungen des Tages. Wegen des dicken Wintermantels musste man genau hinsehen, um es zu erkennen, aber dann war es eindeutig und nicht mehr weg zu sehen. Luise war schwanger. Heinrich biss sich auf die Lippen. Das war also das Kind, von dem Luise überzeugt war, dass es lebte.

Er kannte sowohl ihre Geschichte als auch sämtliche Akten zu diesem Vorfall. Im Archiv des Koblenzer Zentrallazaretts hatte er sich damals auf die Suche nach den Untersuchungsberichten aus den frühen sechziger Jahren gemacht und der Stasimann hatte ihm eine übersetzte Kopie des Berichts über Luises Entbindung in einem Rigaer Krankenhaus anfertigen lassen.

Bisher hatte er die Vergangenheit nur aus diesen beiden Extremen rekonstruieren können, aus Luises hysterischen Anfällen und aus den leidenschaftslosen Krankenhausberichten. Nun hatte er ein Foto, das auf seine Art allerdings auch extrem war. Es war extrem real, ein Stück Wirklichkeit. Seine Femme Fatale, die er nur wechselweise abweisend, sensibel oder rasend erlebte hatte, war einmal eine fröhliche junge Frau mit einem stolzen und zugleich gütigen Lächeln gewesen. Die Frau auf dem Bild war voller Erwartung und kannte keinen Schmerz.

Der Schmerz lag noch vor ihr, der Verlust ihres Kindes, und dann viele Jahre später, als die Wunden fast verheilt waren, die Bekanntschaft mit Heinrich, der ihr den Hof machte und der glaubte, ihr einen Dienst zu erweisen, indem er nach ihrem verlorenen Kind suchte. Der dazu seine Befugnisse als Agent des militärischen Abschirmdienstes nutzte, aber auch weniger offizielle Kanäle bemühte. Der mit seinen Recherchen am Ende jedoch nur erreichte, dass ihre Schwermut in Hysterie umkippte. Und dass Meissmanns auf den Plan trat. Und Pragen.

Was dem Foto zusätzlich Leben einhauchte, war der Hintergrund. Der Schriftzug auf dem Gebäude, vor dem Luise stand, lautete: Institut für Geist und Leben. Nicht nur ihr Foto war hier. Sie selbst war hier gewesen. Hier, wo er jetzt war.

Das Institut war ein Drehkreuz. Von Leyden hatte seine beiden Schüler hier unterrichtet, Hans-Joachim Meissmann und Lysander Josef Luv, Heinrichs Vater. Luise war hier gewesen, hochschwanger. Er selbst hatte die ersten vier Jahre seines Lebens mit seiner Mutter ganz in der Nähe gelebt und Meissmann hatte sich während dieser Zeit aufgrund der häufigen Abwesenheiten seines Vaters um sie beide gekümmert. Zuletzt war Wilhelm hier gewesen. Er hatte die Sprengung im Turm ausgelöst und das Drehkreuz damit fast geschlossen. Aber eben nur fast, denn nun war Heinrich hier. Und der Junge.

Heinrich wollte sichergehen, dass alles zusammenpasste und drehte das Bild auf der Suche nach einem Datum um. Auf der Rückseite fand er einen handschriftlichen Vermerk: Weihnachten 1962, ganz, wie er es erwartet hatte. Das war ein Monat vor seiner Geburt. Und somit auch ein Monat vor Wilhelms Geburt. Sie hatten am gleichen Tag Geburtstag, ein besonders schwerer Fall des Geburtstagsparadoxons. Dafür lagen zwischen ihren Geburtsorten mehrere Landesgrenzen und ein Meer. Heinrich war in Lettland geboren, in Riga, Wilhelm irgendwo in Deutschland. Wo genau, fiel Heinrich gerade nicht ein. Nicht in Kassel. Oder doch?

Heinrich drehte sich zum dem Jungen um: »Wann bist Du geboren? Und wo?«

Der Junge sah ihn an, als ob er die Frage nicht verstünde: »Eigentlich«, sagte er schließlich nach einigem Nachdenken: »Eigentlich war ich immer schon hier.«

»So wie Deine Mutter nicht gestorben ist, und dennoch tot ist, wurdest Du nie geboren und lebst doch?«, fragte Heinrich. Der Junge nickte anerkennend, als hätte Heinrich für seine Auffassungsgabe einen Orden verdient.

In diesem Institut schien die Zeit stillzustehen oder das Gesetz von Ursache und Wirkung keine Geltung zu haben. Heinrich runzelte die Stirn und schaute erneut auf das Bild: Luise in ihrem dunklen Mantel in einer winterweißen Welt. War sie am Ende die Schneekönigin, von der ihm der Junge erzählt hatte? Er hielt dem Jungen das Bild unter die Nase.

»Ist das Prinzessin Martha?«, fragte er ernst, doch der Junge schaute ihn erneut an, als ob er die Frage nicht verstünde. »Ich kenne diese Frau nicht«, sagte er schließlich und imitierte Heinrichs Stirnrunzeln.

Heinrich seufzte. Was hatte er erwartet? Luises Kind war ein Mädchen gewesen. Er ließ seine Hand mit dem Bild sinken. Bevor er den absurden Gedanken jedoch ganz verwarf, schielte er noch einmal zu dem Jungen hinab. Die Runzeln waren von der Stirn des Jungen verschwunden. Erwartungsvoll schaute er zu seinem großen Freund auf, wobei seine schulterlangen Haare nach hinten fielen und den Blick auf seine trotz der Pausbacken kantige Kinnpartie und seine leicht abstehenden Ohren freigaben.

»Du bist ein Junge?«, fragte Heinrich vorsichtig. Als die Augen des Jungen auf die Frage hin scheinbar größer wurden, fügte Heinrich hinzu: “Also kein Mädchen. Oder etwas anderes?” Die Augen des Jungen wurden immer größer. Ihm schienen Heinrichs Fragen nicht einzuleuchten.

»Natürlich bist Du ein Junge«, beantwortete Heinrich schließlich seine Frage selbst und kramte tiefer in seinem Gedächtnis: Woher wusste er doch gleich, dass es sich bei Luises Kind um ein Mädchen handelte? Von dem Stasimann? Und wo hatte der sein Wissen hergehabt? Aus den Krankenhausberichten von Luises Entbindung. Und was hatte dort genau gestanden? Das wusste Heinrich nicht. Der Agent hatte die Dokument für Heinrich übersetzen lassen. Hatte in dem Krankenhausbericht wirklich Geschlecht weiblich gestanden, oder vielleicht einfach nur eine Bezeichnung, die wie ein Mädchenname klang?

»Eva sieben«, sagte Heinrich und schaute den Jungen erneut ernst an. Der Junge nickte.

»Warum Eva?«, fragte Heinrich, obwohl er nicht damit rechnete, dass der Junge darauf eine Antwort wusste. Das war eine Frage für den Professor. Zu Heinrichs Überraschung machte der Junge jedoch dieses Mal kein ratloses Gesicht, sondern antwortete mit seiner lauten Erklärstimme: »Wegen der Adamsakten.«

»Was sind die Adamsakten?«, fragte Heinrich.

Der Junge zeigte in den Raum: »Alles hier.«

Heinrich drehte sich einmal um die eigene Achse, um sich dieses alles noch einmal zu vergegenwärtigen: »Und was bedeutet Adam?«

Der Junge zuckte mit den Schultern. Es war jedoch nicht um eine Antwort verlegen, sondern verwundert über Heinrichs Unwissen: »Adam eben.« Er schien nicht zu wissen, wo er anfangen sollte. »Adam und Eva eben. Kennst Du Adam und Eva nicht? Eva hat den Menschen das Wissen gebracht. Ohne sie wären wir alle dumm und blind und nackt. Wie Tiere.«

»Doch, doch. Ich kenne Eva«, beschwichtigte Heinrich den Jungen, obwohl er nicht mit den Einzelheiten ihrer Legende vertraut war. »Und Adam? Weißt Du über ihn auch so gut Bescheid? Welche Rolle spielt er?«

Dieses Mal zuckten die Schultern des Jungen aus Unwissenheit auf und ab. Ganz so bibelfest war er dann doch nicht.

»Oder sag mir: Was steht in den Adamsakten?«, fragte Heinrich weiter. Die biblischen Hintergründe waren für ihn ohnehin von nachrangigem Interesse.

»Sie sind eine Sammlung fehlgeschlagener Versuche. Von Leyden hält es dennoch für notwendig und wichtig, sie alle aufzuheben, da man für die Zukunft aus den Fehlschlägen der Vergangenheit lernen kann. Ein Großteil der Adamsakten hat jedoch laut Professor Meissmann inzwischen keine klinische Relevanz mehr, da die Informationen zu ungenau und zudem unvollständig sind.«

Heinrich wandte sich noch einmal dem Schreitisch zu, um das Bild zurückzulegen, doch es war aus seiner Hand verschwunden und steckte wieder zwischen den anderen Bildern und Postkarten. als hätte er es nie berührt.

»Die alten Versuche sind alle auf Microfiche archiviert, aber niemand rührt sie mehr an. Deswegen eignen sie sich am besten.«

Heinrich drehte sich zu dem Jungen um: »Am besten für was?«

Der Junge strahlte: »Für ein Daumenkino. Wir können mit einem Stift auf die leeren Stellen der Filmrollen malen und uns unsere Bilder dann im Lesegerät mit der Vorspultaste anschauen.« Er lachte.

Heinrich stockte. Er hatte vergessen, dass sein kleiner Begleiter ein Kind war.

»Später«, sagte er schließlich. Er wollte sich erst einmal die Akten des Professors genauer ansehen. »Du hast mich doch hierher gebracht, um mir zu helfen, nach meinem Freund zu suchen.« Er drang ein wenig tiefer in den Raum vor und zog willkürlich eine der Schubladen auf.

»Dann suche nicht dort«, sagte der Junge.

»Warum nicht?« Heinrich schaute über seine Schulter zu dem Jungen hinab.

»Die Akten sind zu alt«, antwortete der Junge: »Sie sind sogar älter als von Leyden. Obwohl nicht nur die größten, sondern auch die meisten Versuchsreihen während der dreißiger und vierziger Jahre durchgeführt wurden, werden die Akten aus dieser Zeit nur noch der Vollständigkeit halber aufbewahrt. Die ältesten noch heute interessanten Adamsakten findest Du ab dem Jahr 1957.« Er zeigte auf ein anderes Regal. »Dort.«

Heinrich unterdrückte ein Schmunzeln, das sich jedoch trotz fest zusammengepresster Lippen nicht ganz zurückhalten ließ und sich schließlich als trockenes Räuspern bemerkbar machte. Der Junge erinnerte ihn immer wieder und immer mehr an Menschen, die ihm lieb und teuer waren. Er besaß Luises Feinheit und Wilhelms Sachlichkeit.

»Was ist?« fragte der Junge auf Heinrichs seltsames Räuspern hin.

»Entschuldigung«, murmelte Heinrich. Er sah Gespenster. Vermutlich plapperte der Junge einfach nur nach, was er Meissmann hatte sagen hören. Heinrich musste sich davon lösen, in dem Jungen etwas sehen zu wollen, was er nicht war. Vor Jahren hatte er nach Luises Kind gesucht. Nun suchte er nach Wilhelm. Seine Suche war so verzweifelt, dass er sich an jeden Strohhalm klammerte. Der Junge war jedoch weder Luises Kind noch Wilhelm. Die Informationen passten einfach nicht zusammen.

Jedenfalls nicht, wenn sie alle stimmten: Wenn Luises Kind wirklich ein Mädchen gewesen war. Wenn die Mutter des Jungen wirklich eine Prinzessin aus einem untergegangenen Königreich war. Wenn Wilhelm wirklich in Deutschland geboren war. Wenn er selbst gerade wirklich hier war.

Heinrich ging zu dem Regal, auf das der Junge gezeigt hatte. Der Junge huschte an ihm vorbei und kletterte auf einen Drehstuhl, der vor einer langen Arbeitsplatte am Ende des Raum stand. Er drehte sich ein paar Mal im Kreis, bis die Höhe des Stuhls zu seiner Größe passte und er sich bequem ein Blatt Papier und einen Stift aus einem der Ablagefächer nehmen konnte.

Heinrich zog eine der größeren Schubladen auf. Sie war gefüllt mit Ordnern, Mappen und Notizbüchern, die alle ein Etikett mit einer Signatur aufgeklebt hatten. Das Koblenzer System. Heinrich erinnerte sich.

Er zog weitere Schubladen auf und stellte fest, dass sich ihr Inhalt ähnelte. Manche Mappen waren so dick, dass sie mit Schnüren zusammengehalten werden mussten, andere so dünn wie Schulhefte. Man musste sie herausziehen, um die Signatur zu lesen.

Das Koblenzer System verwendete eine Dreierkombination aus Buchstaben und Zahlen, eine Buchstabengruppe gefolgt von zwei Zahlen, eine in römischer und eine in arabischer Notation. Ab und zu gab es auch ein viertes oder sogar ein fünftes Element.

Heinrich bemerkte, dass die erste Stelle über mehrere Schubladen hinweg identisch blieb, während die nachfolgenden Stellen jeweils bei eins begannen und dann hochzählten. Da die systematischer Signatur nichts über den Inhalt der Mappen verriet, zog er schließlich eine zufällige heraus. Die Mappe, die er wählte war allerdings nicht ganz zufällig. In den dünnen Mappen erwartete er nicht viel zu finden und bei den dicken hätte er die Schnüre aufknoten müssen, weswegen er sich für etwas zwischen dick und dünn entschied.

Als er die Mappe auf der herausgezogenen Schublade ablegte und aufschlug, machte sich ein so unangenehmer Geruch breit, dass sich Heinrich abwandte und die eingeatmete Luft mit einem angewiderten Prusten ausstieß. Als sich daraufhin der Junge auf seinem Stuhl umdrehte, gab Heinrich ihm ein Zeichen der Entwarnung: »Alles okay«, rief er und setzte ein falsches Lächeln auf.

Der Junge verzog keine Miene: »Manche Schubladen riechen streng, vor allen Dingen die alten, auf Tierhaut gezeichneten Karten, aber auch welche von den neueren. Deswegen schaut man sich besser die Microfichedateien an.«

Heinrich nickte und fragte, nachdem der Junge keine Anstanden machte sich, Heinrich aus den Augen zu lassen: »Malst Du ein Bild?« Heinrich deutete mit einer Kopfbewegung das Blatt Papier auf dem Schreibtisch hinter dem Jungen. Ohne sich umzudrehen schüttelte der Junge den Kopf.

»Was machst du dann?«, fragte Heinrich weiter.

»Ich schreibe ein Liste.«

»Du kannst schreiben?« Heinrich hatte sich nie gefragt, wie das Leben des Jungen aussah, wenn er nicht gerade Fremden eine Führung durch Meissmann unterirdisches Labyrinth gab. Ging er zur Schule? Wohnte er im Institut? Konnte er lesen, schreiben, rechnen?

»Ich habe sogar eine eigene Schrift erfunden.«

Heinrich nickte anerkennend. »Was schreibst Du für eine Liste?«

»Ich habe noch nicht angefangen. Ich überlege noch. Hast Du eine Idee?«

»Wie wäre es mit einer Liste der Dinge, die Du magst?«

»Ja, warum nicht?«, sagte der Junge gedehnt und wandte sich dem Blatt Papier zu. Er schien die Idee nicht besonders prickelnd zu finden, aber er hatte gefragt und Antwort bekommen.

Heinrich kramte aus seiner Hosentasche ein Taschentuch hervor und hielt es sich schützend vor die Nase, bevor er den Inhalt der Mappe inspizierte.

Die Dokumente und Fotos waren nicht immer so gut untergebracht gewesen, wie in diesem Archiv. Das Papier war vergilbt und brüchig und die Fotos hatten offenbar einen Wasserschaden und eine Feuersbrunst überlebt. Sie zeigten Schimmel an den Rändern und rochen nach altem Rauch.

Während Heinrich mit spitzen Fingern zwischen den losen Blättern hin und her blätterte und versuchte, die teilweise aneinander klebenden Fotos von einander lösen, bemerkte er, dass er weder lesen konnte, was auf den Seiten stand, noch erkennen konnte, was auf den Fotos abgebildet war.

Es lag jedoch nicht an der teilweise krakeligen Handschrift oder an der Sprache, in denen die Berichte verfasst waren. Es lag auch nicht an den verblassten Grautönen der Fotos oder dem Schimmel, der sich teilweise tief ins Bild gefressen hatte. Dies kam nur erschwerend zu dem Umstand hinzu, dass alles, worauf sich Heinrich konzentrierte, unscharf wurde.

Er schüttelte den Kopf und blinzelte, doch die Schrift und die Bilder blieben verschwommen. Er schaute auf und rieb sich die Augen. Die Regale, den Schreibtisch, die Kisten am Ausgang konnte er klar und deutlich sehen, doch als er seinen Blick wieder auf die Dokumente richtete, hatte er erneut das Gefühl, durch eine trübe Linse zu schauen.

Er ließ die Mappe zurück in die Schublade gleiten, ging ein paar Schritte weiter und zog eine andere Schublade auf. Wieder begrüßte ihn ein stechender Gestank, der intensiver wurde, als er eine Mappe aufschlug. Obwohl diese Mappe keine Anzeichen von Schimmel zeigte, war der Geruch kaum zu ertragen. Heinrich wandte immer wieder den Kopf ab und prustete, sodass sich der Junge erneut nach seinem Freund umdrehte. Er beobachtete, wie sich Heinrich ein Taschentuch über die Nase hielt und durch eine Mappe blätterte.

Als Heinrich aufschaute, saß der Junge auf dem Drehstuhl und drehte sich hin und her.

»Kommst Du mit Deiner Liste voran?«, fragte Heinrich.

»Ich habe noch nichts aufgeschrieben«, erwiderte der Junge.

»Weißt Du nicht, was Du magst?«

»Ich bin mir nicht sicher.«

»Was fällt Dir als erstes ein? Was gefällt Dir? Was fühlt sich gut an?«

»Wenn ich das Gesicht gewaschen bekomme und dabei durch den heißen, nassen Waschlappen den Zitronenduft der Seife einatme.«

»Kannst Du das aufschreiben?«

»Ist es ein Punkt oder zwei? Und wie schreibt das am besten?« Die Fragen waren nicht wirklich an Heinrich gerichtet. Der Junge dachte nur laut und wandte sich dabei wieder dem Schreibtisch zu.

Auch Heinrich wandte sich wieder der vor ihm liegenden Mappe zu. Die darin enthaltenen Dokumente und Fotografien verhielten sich jedoch wie die in der Mappe zuvor. Alles, was er sich genauer anschauen wollte, entzog sich seinem Blick, und zu lange auf ein Dokument oder Bild zu starren, erweckte in ihm das Gefühl, blind zu sein.

Heinrich versuchte sein Glück mit einer anderen Schublade und danach mit noch einer anderen, doch jedes Mal präsentierte sich ihm dasselbe Ergebnis. Die Buchstaben versickerten im Papier und die Bilder zerflossen zu einem Rorschachbild, in dem er nur das erkennen konnte, was er selbst hineininterpretierte. Er stopfte die Dokumente, ohne groß auf Ordnung zu achten, zurück in die Mappen und zog weitere Schubladen auf, doch die Hexerei schien das gesamte Regal erfasst zu haben.

Obwohl Heinrich schon nicht mehr damit rechnete, etwas zu finden, ging er zum nächsten Regal. Die Schubladen dort warteten jedoch alle mit demselben Ergebnis auf. Bei jedem Versuch, das Geschriebene zu entziffern, verschwammen die Buchstaben bis zur vollkommenen Unleserlichkeit, um am Ende ganz zu verschwinden, und die Bilder zeigten nur weiße, braune und schwarze Farbflecken.

Heinrich hatte sich vorgenommen, nicht zu verzagen, aber es fiel ihm zusehends schwer. Das scheppernde Geräusch, mit dem schließlich eine der Schubladen unsanft zurück in ihr Fach stieß, schreckte den Jungen auf, der sich daraufhin mit großen Augen nach Heinrich umdrehte.

»Weiß Du, was hier los ist?« Heinrichs Stimme klang vorwurfsvoll. »Alles, was ich näher betrachten will, löst sich in Nichts auf. Es ist, als würde sich ein Nebel um meine Augen legen.«

Der Junge schwieg einen Moment, bevor er antwortete: »Da ist kein Nebel. Es liegt nicht an Deinen Augen. Du musst sie nur öffnen. Die Dinge bleiben solange unsichtbar, bis Du Dich daran erinnerst.«

Heinrich sog geräuschvoll die Luft ein, als wollte er etwas sagen. Doch er schwieg. Ohne weiter auf den Jungen zu achten, fuhr er damit fort, eine Schublade nach der anderen aufzuziehen und die Mappen darin zu durchforsten. Er gab sich immer weniger Mühe, die einzelnen Dokumente durchzusehen. Sobald er feststellte, dass er die Bilder und Texte nicht erkennen konnte, gab er es auf und versuchte es mit der nächsten Mappe und mit der nächsten Schublade.

Er bemerkte jedoch, dass sich der Zustand der Dokumente verbesserte, je weiter er sich in der Zeit voran arbeitete. Erst wurde die Schreibmaschine erfunden, dann wichen die lose organisierten Berichte einheitlich formatierten Formularen und das Papier wurde weiß. Diesen Formularen wurden dann in vermehrtem Maße Diagramme, Tabellen und Fotografien beigelegt und das Schriftbild der immer seltener auftretenden handschriftlichen Einträge wurde immer vertrauter. Lesen konnte er die Dokumente noch immer nicht.

Einmal gelang es ihm, auf einem Bild eine mehrere Personen zu sehen, die wie für ein Klassenfoto Aufstellung genommen hatten, doch die Gesichter verschwanden, sobald er versuchte, die Personen zu erkennen. Heinrich seufzte leise.

Er solle seine Augen öffnen und sich erinnern, hatte der Junge gesagt. Obwohl ihm der Ratschlag einleuchtete, wusste Heinrich nicht, wie er ihn umsetzen sollte. Deswegen schloss er seine Augen und flüsterte leise: ›Sieh hin. Erinnere Dich.‹ Er wiederholte diese Zauberformel drei Mal hintereinander, bevor er seine Augen öffnete. Seine Augen gewöhnten sich schnell wieder an das Licht, doch die Gesichter kehrten nicht zurück.

Heinrich schloss seine Augen erneut, um es noch einmal zu versuchen. ›Sieh hin. Erinnere Dich.‹ Er sagte die Worte nicht nur, sondern nahm sie sich zu Herzen. Doch auch dieses Mal, blieb seine Sicht, als er seine Augen wieder öffnete und auf das Foto schaute, trüb.

Sieh hin. Erinnere Dich.‹ Heinrich wiederholte den Zyklus aus Augen schließen, Zauberformel aufsagen und Augen öffnen erneut. ›Sieh hin. Erinnere Dich.‹ Und noch einmal: ›Sieh hin. Erinnere Dich.‹ Das dreimalige Aufsagen war wie ein Anlauf und das Öffnen der Augen wie ein Sprung von einem Zehnmeterturm im Freibad.

Kalte Wassertropfen peitschten Heinrich ins Gesicht und riss ihn unsanft aus seiner Trance, als die Mappe mit einem lauten Platschen auf den Boden fiel. Das Wasser stand Heinrich inzwischen bis zur Wade, doch zum Glück hatte er zum Arbeiten in der Brandruine Gummistiefel angezogen.

Während er Heinrich seine vor Kälte und Nässe blau gefrorenen Finger knetete, beobachtete er, wie Wellen über die Mappe schwappten. Sie nahmen einzelne Blätter daraus mit und schaukelten sie hin und her, bis sich das Papier mit Wasser vollgesogen hatte und die Blätter wie träge Quallen langsam nach unten sanken.

In Heinrich Gedächtnis hallten die Worte ›Sieh hin. Erinnere Dich‹ nach, doch er hatte vergessen, was er sehen sollte und an was er sich erinnern wollte. Das Einzige, woran er dachte, während er ins Wasser sah, war das Blut seines Vaters, das laut den Alten auf der Insel zu wässrig war. Dünnes Blut zeigte sich in blauen Augen und war schwach gegen Kobolde. Auch Wilhelms Augen waren blau.

Das Wasser hatte sich gerade beruhigt, als es erneut aufgewühlt wurde und sich die Papierquallen aufblähten und müde hin und her schwammen. Heinrich fühlte sich auch müde. Und ihm war kalt. Als er in die Richtung blickte, aus der die Wellen schlugen, stand dort der Junge. In einer Hand hielt er eine Röhre mit einem dicken Kopf- und Fußstück und in der anderen ein zwei lose Blätter, vermutlich die Liste. Sie war offenbar recht lang geworden.

Dem Jungen reichte das Wasser fast bis zu den Knien. Er schien jedoch nicht zu frieren. Er strahlte und klang aufgeregt, als er Heinrich die Röhre und die beiden Blätter entgegenstreckte: »Fertig.«

»Rohrpost?«, fragte Heinrich überrascht und griff nach dem durchsichtigen Kunststoffzylinder. Er hatte diese Art Behälter schon einmal gesehen, aber es war ihm entfallen, wo.

Jedenfalls nicht in Bonn, Grafschaft oder Köln. Die Behörden dort hatten wie seine Dienststelle in München und die großen Bundeswehrkrankenhäuser die mit Luftdruck betriebene Rohrpost inzwischen durch Schienenleitsysteme ersetzt. Diese Art der Zustellung war zwar langsamer, die Behälter dafür fast beliebig groß und die Anlage einfacher zu warten.

Heinrich schraubte den Kopf der Plastikröhre auf und wieder zu, aber so vertraut ihm dieses antiquierte Behältnis auch vorkam, er konnte sich einfach nicht erinnern, woher er es schon einmal gesehen hatte.

»Genau, Rohrpost« bestätigte der Junge Heinrichs Vermutung. »Ich weiß, wie das geht. Man muss die Röhre nur in die Vakuumkammer einsetzen, –tschk– einen Knopf drücken und dann geht alles automatisch: srrr, vvv, fffp und fertig.« Der Junge wusste offenbar wirklich, wovon er sprach. Seine Schilderung, wie die sich die Maschine in Betrieb setzte, um zuerst die Luft und anschließend den Zylinder aus der kleinen Druckkammer zu saugen, klang jedenfalls sehr authentisch. In seiner Stimme lag dieselbe Begeisterung, mit der er zuvor erklärt hatte, wie man mit einer Mikrofilmrolle ein Daumenkino bauen konnte. Nach seiner eindrucksvollen Erklärung zeigte er hinter sich an die Wand.

Erst jetzt bemerkte Heinrich dort eine Rohrpoststation, die allerdings nur aus einer kleinen Druckkammer mit fünf Tasten bestand.

»Wohin führt diese Leitung?« Heinrich ging einen Schritt auf die Station zu, blieb jedoch stehen, als das durch seine Bewegung aufgewühlte Wasser gefährlich nahe an den Rand seiner Gummistiefel schwappte.

»In die Zitadelle. Es gibt nur eine Richtung und es kommt keine Antwort. Es ist wie bei einem Papierschiffchen, das man in einen Bach setzt. Die Festung ist die Quelle, die Röhre das Schiffchen, die Leitung der Bach, die Zitadelle das Meer. So hat es mir der Professor erklärt.«

Heinrich nickte. Das erklärte, warum die Station kein Eingabefeld hatte, um eine Zieladresse auszuwählen, und kein Fach für eine eingehende Nachrichten. »Und was ist die Zitadelle?«, fragte er.

»Eine riesige Höhle tief unter der Erde«, erklärte der Junge bereitwillig. »Um dorthin zu gelangen, bräuchte man große, starke Maschinen, die den Eingang freilegen, und Höhlenforscher, die gut klettern können. Von den wichtigsten Dokumenten aus diesem Archiv wird eine Kopie in die Zitadelle geschickt. So ist alles doppelt sicher und ewig. Indem wir unser Andenken in die Zitadelle schicken, werden wir auch ewig.«

Heinrich ließ sich von dem Jungen den Behälter abnehmen und dafür die beiden Blätter in die Hand drücken. »Durch einen heißen Waschlappen den Zitronenduft der Seife atmen,« las Heinrich laut vor und stellte verwundert fest, dass er alles bis auf ein Wort, das so oft durchgestrichen worden war, dass man es nicht mehr lesen konnte, klar und deutlich erkennen konnte.

Der Junge hatte in einer gleichmäßigen, akkuraten Blockschrift geschrieben, die jedoch einige Merkwürdigkeiten aufwies. Jedes o, egal ob groß oder klein, hatte einen Punkt in der Mitte und balancierte auf einem kurzen, horizontalen Strich. Das große A war einfach eine langgezogene Version des kleinen a. Die is, auch hier wieder die großen wie die kleinen, sahen aus wie Einsen mit einem Punkt drüber und es gab verschiedene andere unnötige Häkchen, Striche und Punkte.

Heinrich schaute sich das zweite Blatt an. Die Handschrift, die er auf diesem fand, unterschied sich deutlich von der, mit der der Junge die Liste geschrieben hatte. Es war eine ganze normale Sextanerschrift, kindlich in ihren runden Formen und ihrem Bestreben, ein möglichst einheitliches Schriftbild zu erzeugen. Die sorgfältige Schreibweise war vermutlich der Form geschuldet, denn es handelte sich um ein Gedicht, wie man an der mittigen Einrückung und den abgesetzten Strophen leicht erkennen konnte. Was aber noch viel wichtiger war, die Worte standen klar und deutlich vor Heinrichs Augen.

»Ein Gedicht?«, fragte er, der als Kind auch gerne Gedichte geschrieben hatte, und begann zu lesen:

 

Diesen Bund kann man nicht sehen,

doch bleibt er selbst nach dem Ende bestehen.

Denn ich lasse mich mit jedem Traum bei dir,

und nehme einen Teil deines Seins mit mir.


 

Man kann es nicht atmen, noch fassen, noch hören,

wie wir uns verbinden und Wahrhaftigkeit schwören.

Am Tage zersplittert, in der Nacht neu geboren,

bleibt Unverlierbares stets unverloren.


 

Nur fühlbar ist die Einigkeit

und greifbar die Unsterblichkeit,

weil es keinen Tod mehr gibt,

wenn ein Freund den anderen liebt.


 

Der Singsang des Kinderreims hallte eigenartig vertraut in Heinrichs Erinnerung wider, wie ein Abzählreim, die man als Kind so oft aufgesagt hat, dass man ihn nie wieder vergessen kann, nie wieder verlieren kann.

“Hast Du das geschrieben?”, fragte Heinrich, während einige Zeilen und Worte erneut las.

Als der Junge nicht antwortete schaute Heinrich auf. Die Augen des Jungen waren auf ihn gerichtet und sein Mund zu einem Schmollen verzogen. Heinrich räusperte sich verlegen. Der Blick des Jungen sagte ihm, dass er eine dumme Frage gestellt hatte. Bevor er jedoch etwas vorbringen konnte, um seinen Schnitzer wieder wettzumachen, schenkte der Junge ihm einen mitleidigen Seufzer: »Ich habe das Gedicht nicht geschrieben. Du warst das. Du verwechselst uns schon die ganze Zeit. So wie Du dachtest, Du wärst derjenige gewesen, der in den Tunneln die Schritte bis hierher gezählt hat, dabei war ich es.«

»Ich?«, zischte Heinrich, als würde er eine böse Unterstellung zurückweisen. Er war über die Schärfe seines Tons überrascht. »Ich habe das Gedicht nicht geschrieben. Du hast es geschrieben. Ich war die ganze Zeit damit beschäftigt, diese sinnlosen Akten zu durchwühlen.« Der Versuch, seine Verwirrung zu verbergen, hatte Heinrichs Stimme zu einem hektischen Flüstern werden lassen.

Der Junge erwiderte nichts. Er schaute Heinrich nur an und sein Schweigen unterstrich seinen Standpunkt mehr, als Worte es vermocht hätten.

»Wer bist Du?«, fragte Heinrich.

»Solange Du Dich nicht an mich erinnerst, bleibe ich wohl unsichtbar. Unverlierbar, aber verborgen.«

»Und wer glaubst Du, dass ich bin?«

»Du bist mein bester Freund. In dem Moment, als ich Dich sah, war mir klar, dass ich schon immer auf Dich gewartet habe.«

Heinrichs Stiefel schnitten tosend durch das Wasser, als er vor dem Jungen wie vor einem plötzlich vor ihm aufklaffenden Abgrund zurückwich. Erst als er an ein Regal stieß, blieb er stehen.

»Ich weiß vielleicht nicht, wer Du bist, aber ich kann Dir sagen, wer Du nicht bist.« Heinrich schluckte: »Du bist nicht Wilhelm.« Das letzte Wort kam ihm jedoch nur zögerlich über die Lippen. »Auch wenn Du Dir alle Mühe gibst, er zu sein«, fügte er hinzu, wie um sich selbst zu überzeugen.

Der Junge schwieg und schaute aus großen Augen zu Heinrich auf. Heinrich nahm die Herausforderung an. Er schwieg und starrte zurück. Die Stille, die sich zwischen ihnen wie ein Tau spannte, wurde nur gelegentlich von plätschernden Wassertropfen zerschnitten. Sie fielen vom Himmel und schlugen entweder donnernd auf der Wasseroberfläche auf, peitschten Heinrich und dem Jungen ins Gesicht oder versickerten fast vollkommen lautlos in ihren Haaren und Kleidern. Auch auf die Regale trommelte das Wasser ein. Die Kartons auf den obersten Regalböden klangen dumpf und hohl, hell und blechern das Metallgestell.

Es dauerte nicht lang, bis Heinrich und der Junge bis auf die Haut durchnässt waren und mit der Nässe kam auch die Kälte. Heinrich jedenfalls fror, weswegen er seine Hände unter seine Achseln klemmte und seine Lippen zusammenpresste, um nicht zu zittern und zu bibbern. Ohne den Jungen aus den Augen zu lassen, blickte er sich um.

Das Wasser war inzwischen überall. In Rinnsalen rann es zwischen den Schubladen entlang und hatte vermutlich bereits sämtliche Dokumente darin aufgeweicht. Es tropfte von den Regalkanten und Leitersprossen and sammelte sich in winzigen Pfützen auf den Schubladengriffen, die wie rausgestreckte Zungen nach vorne ragten.

Heinrich hatte ein zwiespältiges Verhältnis zu Wasser, das jedoch seit er die Inseln verlassen hatte nur noch selten Konflikte in ihm auslöste. Er liebte es, in einen klaren See zu springen, warm zu duschen oder Eiswürfel zu zerbeißen, bis die kleinen Eissplitter in seinem Mund zu köstlichen, kleinen Wassertropfen zerschmolzen. Aber die dunklen, aufgepeitschten Wassermassen des Ozeans oder stehende, trübe Tümpel riefen in ihm ein beklemmendes Gefühl hervor, denn in solchen Wassern spielten die Kobolde.

Heinrich wagte einen kurzen, skeptischen Blick an den Regalen entlang weiter nach oben und erschrak. Der Raum hatte keine Decke mehr und dort, wo eigentlich die Decke hätte sein müssen, war Wasser.

Statt weißer Raumfarbe sah Heinrich dunkles Wasser und statt symmetrisch angeordneten grellen Deckenlampen eine einzige diffuse Lichtquelle, deren Strahlen durch die Wassermasse stachen und ein Netz aus Waben an die Unterseite projizierte. Der flüssig gewordene Himmel flößte Heinrich Angst ein, denn er wusste nicht, was die spiegelnde Wasseroberfläche daran hinderte, aufzureißen und wie ein Wasserfall in den Raum hinabzustürzen und alles zu überschwemmen.

Das Zerrbild des Archivs, das sich in dem dunklen Wasser widerspiegelte, fand Heinrich ebenfalls beunruhigend. Es zeigte die Regale als unregelmäßige Linien. Auch der kleine Tisch am Eingang, Meissmanns Schreibtisch und die lange Arbeitsplatte am Ende des Raum waren erkennbar, und wenn Heinrich direkt nach oben schaute, sah er sich selbst. Den Jungen sah er dort oben jedoch nicht.

Heinrich schloss seine Augen in der Hoffnung, dass der Spuk endete, wenn er einfach aufhörte, daran zu glauben, aber als er seine Augen wieder öffnete, hing der dunkle Spiegel noch immer über ihm. Und vor ihm stand plötzlich der Junge.

Mit seinen wasserblauen Augen sah er Heinrich an und streckte ihm seine Hand entgegen. Obwohl der Junge freundlich blickte und die Geste einladend und beruhigend wirkte, fuhr Heinrich zurück und prallte an das Regal, vor dem er stand. Er presste sich fest dagegen und versuchte zu sprechen: »Das Wasser«, brachte er keuchend hervor und brach ab. »Das Wasser, das bist Du«, sprach er schließlich mit stockender Stimme weiter. »Das Wasser warst immer Du.«

Die Erkenntnis durchfuhr Heinrich wie ein Blitz. Das Institut in seiner Pracht, bevor es von den Flammen verzehrt worden war. Der Turm. Der Bunker. Der Tunnel. Das Archiv. Die Akten. Nichts davon war echt. Alles nur ein Konstrukt aus seinen Erinnerungen, Wünschen und Vorstellungen.

Heinrich erinnerte sich. Das Institut war abgebrannt. Wilhelm wäre fast in den Flammen umgekommen, doch die Spuren deuteten darauf hin, dass er sich schwer verwundet vom Tatort entfernt hatte. Heinrich hatte in der Brandruine nach etwas gesucht, was der Polizei vielleicht entgangen war. Er hatte sich den ganzen Tag hindurch bis in die späten Abendstunden wie ein Archäologe durch den Schutt gearbeitet. Der Eichelhäher.

Heinrich rief sich ins Gedächtnis, wie er versucht hatte, den Karteispind, den er unter einem Haufen Trümmern gefunden hatte, zu öffnen. Als er vor Erschöpfung fast zusammengebrochen war, war plötzlich der Junge erschienen, nein der Kobold. Das Wasser.

Mit Schrecken wurde Heinrich klar, dass der Turm, durch den er hierhergekommen war, längst eingestürzt und verbrannt war. Es gab keinen Weg nach hier unten oder von hier unten weg. Er lehnte sich gegen das Regal und atmete hörbar aus.

»Ich weiß, was Du bist, und ich weiß, dass Deine Art die Gesichter von Geliebten und Toten stiehlt, um ihre Opfer zu täuschen.«

Nicht zum ersten Mal an diesem ging Heinrich die Ratschläge durch, die ihm seine Großmutter für den Umgang mit Wasserwesen mit auf den Weg gegeben hatte: ›Schlaf nicht ein.

Verrate ihnen nicht Deinen Namen.

›Gib ihnen niemals die Hand.‹

Falle nicht auf ihre Illusionen herein.‹ Heinrichs erster Instinkt hatte recht gehabt: Der Junge war ein Trugbild. Deswegen hatte er auch kein Alter. Er sah aus wie zehn, aber verhielt sich einmal, als wäre er doppelt so alt, und einmal, als wäre er nur halb so alt. Eine Identität hatte er auch nicht. Einmal war er Wilhelm, ein andermal Luise, und manchmal war er auch Heinrich selbst. Er war genau so erinnert wie das Institut, der Turm, der Stollen und das Archiv.

Etwas war jedoch merkwürdig. Das Institut kannte er von Gebäudeplänen, Fotos und Beschreibungen, aber das unterirdische Archiv war in keiner Akte erwähnt. Hatte er sich das alles nur zusammenfantasiert oder kamen die Bilder aus seinem Gedächtnis? Die Illusion schien ihm jedoch zu stimmig, um sie als reine Fantasie abzutun.

Er musste schon einmal hier gewesen sein. Vor sehr langer Zeit. Vielleicht als Kind in Begleitung seines Vaters. Damals hatten ihn vermutlich die hohen Regale erstaunt und die Rohrpost fasziniert. Vielleicht hatte er die Erwachsenen dabei beobachtet, wie sie Mappen aus den Schubladen nahmen, aber den Inhalt der Mappen hatte er nie gesehen. Deswegen konnte er sich auch nicht daran erinnern.

Der Kobold hatte alle diese Bilder aus Heinrichs Erinnerung zu einer Patchworkdecke zusammengeflickt, aber an den Nähten und Säumen, an denen Heinrich zweifelte und zögerte, floss Wasser.

Heinrich musste dem Kobold dankbar sein. Er hatte längst vergessene Erinnerungen in ihm wach gerufen. Erinnerungen, die ihm helfen konnten, Zusammenhänge zu sehen, sich selbst zu verstehen und vielleicht sogar Wilhelm zu finden. Nur drohte diese ganze Illusion aus Erinnerungen gerade über Heinrich zusammenzubrechen.

Der Kobold schüttelte den Kopf und blickte Heinrich eine Weile stumm an. Auch Heinrich schwieg, während er in Gedanken seine Optionen durchging.

»Wenn Du wüsstest, wer ich bin, bräuchtest Du keine Angst zu haben. Du bist bereits eingeschlafen und Du hast mir bereits Deine Hand gegeben. Du bist mir freiwillig hierher gefolgt«, sprach der Kobold schließlich mit ruhiger Stimme, während er Heinrich erneut seine Hand entgegenstreckte. Er bewegte sich langsam und vorsichtig, als wollte er vermeiden, ein aufgescheuchtes Tier noch mehr zu erschrecken.

»Was willst Du von mir?«, fragte Heinrich.

»Ich will, dass Du für immer bei mir bleibst«, erwiderte der Kobold. Seine Stimme hatte sich nicht verändert. Sie war immer noch die des Jungen, hell, klar, ein wenig forsch und von einer Überschwänglichkeit, die es einem schwer machte, ihm einen Wunsch abzuschlagen. Dennoch schüttelte Heinrich den Kopf: »Ich kann nicht hierbleiben. Hierzubleiben wäre mein Tod. Das weißt Du. Lass uns zurückgehen.«

»Dafür ist es zu spät.«

Heinrich wusste, dass der Kobold recht hatte. Vermutlich war es bereits zu spät gewesen, als er sich auf das verlassene Gelände geschlichen hatte und dort bis in die Nacht hinein durch das abgestandene Wasser gewatet war. Er versuchte dennoch, ruhig zu bleiben. Er wusste, dass die nächsten Minuten darüber entscheiden würden, ob er aus dieser Situation lebend entkam. Seine Großmutter hatte ihn immer eindringlich vor den Kobolden gewarnt, aber sie hatte ihn auch immer ermahnt, dass ein Kampf erst dann verloren war, wenn man aufgab. Nachdem er bisher keinen ihrer Ratschläge beherzigt hatte, war es nun höchste Zeit, auf sie hören und stark zu bleiben. Er hatte dem Kobold zwar die Hand gegeben, aber er hatte die Illusion gebrochen. Es stand nun eins zu eins. Entscheidend war, wer den nächsten Punkt machte.

Heinrich blickte sich verstohlen um. Er befand sich in einer Sackgasse zwischen zwei Regalen und der einzige Weg Richtung Tür führte somit an dem Kobold vorbei. Doch Heinrich hatte Glück. Als sich der Kobold für ein Trugbild entschieden hatte, hatte er die Form eines kleinen Jungen gewählt. Nur wenige Wochen zuvor hatte sich Wilhelm hier in einer verzweifelten Lage befunden. Sein Schmerz konnte dem Kobold nicht entgangen sein. Er hallte vermutlich noch immer durch die Ruine. Der Kobold hätte demnach als hochgewachsener, durchtrainierter Bergsteiger hier stehen können. Stattdessen reichte er Heinrich gerade mal bis zur Brust und wirkte mit seiner blassen Haut und mageren Figur körperlich nicht besonders beeindruckend.

Heinrich musste also nur die zierliche Jungengestalt zur Seite rempeln, um zur Tür zu gelangen. Er war zuversichtlich, dass er die Tür nun, da er die Illusion durchbrochen hatte, öffnen konnte. Sie ging nach außen auf. Das Wasser sollte ihn also nicht daran hindern, sie aufzustoßen. Hatte er es erst aus dem Archiv herausgeschafft, trennten ihn nur noch zwei schwere Schotttüren, ein langer Gang und eine steile Treppe von dem Turmzimmer, von dem aus er in Freiheit gelangen konnte.

Heinrich atmete drei Mal tief ein, sodass sich seine Lungen und sein Bauch aufblähten. Er ballte seine Hände zu Fäusten und entspannte sie wieder und lockerte seine Füße, indem er seine Zehen spreizte und vom Ballen auf die Ferse rollte und wieder zurück, um seine Muskeln in den Armen und Beinen zu fühlen. Dann sprintete er los.

In dem Augenblick, indem er sich mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft nach vorne katapultierte, brach direkt über ihm die Decke auf und ein kalter Sturzbach spülte über ihn. Heinrich achtete nicht darauf, sondern sprintete weiter. Am Ende der Regalreihe packte er eine Leiste, um seine Bewegung nach links Richtung Tür zu korrigieren. Erneut brach ein Wasserstrahl von der Decke auf ihn herab. Heinrich kämpfte sich durch das Wasser, durch das am Boden und durch das, das von der Decke auf ihn herabstürzte. Der Weg zur Tür war nicht weit. Da jedoch mit jedem Schritt ein weiterer Strom aus der Decke brach und ihm das Vorankommen erschwerte, kam es ihm wie die letzten quälenden Meter eines Hundertmetersprints vor. Er keuchte, warf die Arme nach vorne und umklammerte das Drehrad, mit dem man die Tür öffnen konnte.

Das Rad ließ sich jedoch nicht bewegen und Heinrich fühlte, dass es weder eine Frage von Kraft oder Geschick war noch ein mechanischer Defekt. Die Türen dieser Welt waren einfach nicht für ihn.

Das Wasser ergoss sich inzwischen aus mehreren Sturzbächen von der Decke in den Raum und der Wasserspiegel stieg. Es stand Heinrich bis zu den Knien. An trockene Füße war nicht mehr zu denken. Die Stiefel waren wie Gewichte an den Füßen. Er drehte sich nach dem Kobold um, der reglos in Raummitte stand und Heinrich beobachtete. In seinem Blick lag überlegene Gelassenheit und die unausgesprochenen Worte: ‘Du weißt doch, dass Du in dieser Welt keine Türen öffnen kannst.’

Heinrich brauchte mehr Zeit. Als sein Blick auf die Rohrpoststation fiel, kam ihm eine Idee. Der Kobold hatte ihm erklärt, dass die Post nur in eine Richtung unterwegs war und die Leitung in eine unterirdische Höhle mündete.Vielleicht konnte er in dem System eine Wartungsfunktion aktivieren oder eine Fehlfunktion auslösen, die dazu führte, dass die Röhre als Abflussrohr diente.

Er watete durch das Wasser und nahm im Vorbeigehen das Mikroskop von Meissmanns Schreibtisch. Es hatte einen schweren Eisenfuß. Falls es nicht per Knopfdruck gelingen sollte, das System auf Durchlauf zu schalten, würde es anders versuchen.

Der Kobold mischte sich nicht ein. Auch dann nicht, als Heinrich anfing, auf die Rohpoststation einzuhämmern. Da die Konsole nicht kooperieren wollte, hatte er beschlossen den gesamten Kasten aus der Wand schlagen. Er benutzte dazu wechselweise das Mikroskop oder seinen Fuß, indem er sich an einem Regal festhielt und mit aller Kraft gegen das Gehäuse trat. Der Kasten hing bereits schief und der Verputz rundherum bekam Risse. Heinrich gelang es jedoch bestenfalls, die Sendestation unbrauchbar zu machen, einen Abfluss in ein unterirdisches Höhlenlabyrinth schuf er damit nicht.

Als er sich nach dem Kobold umblickte, sah er wie diesem das Wasser inzwischen bis zur Brust reichte.

»Steig eine der Leiter hoch«, rief Heinrich. »Rette Dich nach oben.« Der Kobold bewegte sich jedoch nicht. Er starrte nur apathisch vor sich hin.

Heinrich ließ das Mikroskop fallen. Es hatte ohnehin keinen Sinn. Das Wasser stieg zu schnell. Es würde niemals schnell genug durch ein dünnes Rohr ablaufen können.

Er rannte durch das Wasser, das jede seiner Bewegungen bremste, auf den Kobold zu, packte ihn an der Hand und zerrte ihn zur nächsten Leiter. Dort streifte Heinrich seine Gummistiefel ab, die ihm nur noch hinderlich waren und kletterte die Leiter hoch. Mit einem kräftigen Schubs, schob er die Kartons ganz oben auf dem Regal zur Seite. Mit einem lauten Platschen stürzten sie in die Tiefe. Heinrich kletterte auf die frei gewordene Fläche und zog an einem weiteren Karton. Die Pappe war jedoch bereits so durchweicht, dass der Karton aufriss. Er war voller Zeitschriften, von denen einige direkt ins Wasser fielen. Der Rest rutschte nur ein Stück nach vorne.

Heinrich hielt kurz inne. Er kannte das Zeitschriftenformat. Er warf eine Zeitschrift nach der anderen nach unten ins Wasser. Erst langsam, dann immer schneller, wobei er jeweils die Ankündigungen auf der Umschlagseite hastig überflog.

Er wunderte sich, dass er die Buchstaben lesen konnte, aber die Verwunderung endete, als ihm ein Name ins Auge sprang: Hans-Joachim Meissmann. Er erinnerte sich, wie er wochenlang für Pragen Publikationen zu Embryologie, Stammzellenforschung und genetischer Präastronautik untersucht hatte, die Meissmann in den sechziger und siebziger Jahren in mehr oder weniger wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht hatte. Er hatte damals mit einseitig ausgedruckten Schwarzweißkopien gearbeitet. Das machte es einfacher Textstellen zu markieren, Randnotizen zu machen und einzelne Seiten zu bearbeiten.

Heinrich kannte die Zeitschriften also von Pragens Ermittlungen gegen Meissmann. Deswegen tauchten sie hier in der Illusion aus. Jetzt, wo er verstand, wie die Täuschung funktioniere, schien alles offensichtlich. Jetzt musste er nur noch drei mal die Hacken zusammenschlagen und sich nach Hause wünschen, dann wäre der Spuk vorbei. Aber bezweifelte, dass es so einfach war.

Er rutschte näher an den durchgeweichten Karton heran, schob ihn ins Wasser und schaute kurz nach oben. Die Wasserdecke war nur zwei Handbreit von seinem Kopf entfernt und tropfte ihm ins Gesicht. Links und rechts hatte sie zwei tiefe Risse, aus denen das Wasser wie aus einer gebrochenen Rohrleitung in den Raum floss. Heinrich beugte sich nach unten und sah, dass der Kobold noch immer am Fuß der Leiter stand. Das Wasser reichte ihm inzwischen bis zum Kinn, doch er machte sich noch nicht einmal die Mühe, den Kopf zu heben.

»Auf was wartest Du?«, fuhr Heinrich ihn an. »Steig auf die Leiter.« Der Kobold machte jedoch keine Anstalten, sich zu bewegen. Er wirkte erschöpft. Heinrich stöhnte. Er schob sich wieder Richtung Leiter, kletterte ein paar Sprossen nach unten und sprang schließlich ins Wasser. Er lud sich den Kobold auf, der kraftlos und teilnahmslos wie ein fieberkrankes Kind seine Arme um Heinrich schlang, und kletterte erneut nach oben. Der Kobold war schwerer, als es die zierliche Jungengestalt erahnen ließ. Sein Körper war ohne Spannung und sein Kopf rollte unkontrolliert hin und her, sodass Heinrich Mühe hatte das Gleichgewicht zu halten und immer wieder anhalten musste, damit der Kobold, der mit jeder Sprosse passiver und schwerer wurde, nicht zurück ins Wasser fiel.

Heinrich fragte sich, was er hier gerade tat. Vielleicht wollte der Kobold ja eins werden mit dem Wasser. Es war sein Element. Und falls nicht? Wenn er im Wasser ertrinken würde, bräche dann der Bann? Heinrich hatte jedoch keine Wahl. Er musste versuchen, den Kobold zu retten und sich selbst, und so schaffte er es schließlich, den Kobold nach oben zu wuchten und auf dem obersten Regalboden abzusetzen.

Heinrich keuchte: »Bleib Du hier oben«, sagte er. »Ich versuche, es noch einmal mit der Tür und der Rohrpoststation. Vielleicht–« Er brach ab, als der Kobold erst wie benommen zur Seite schwankte und dann in sich zusammensackte und nach vorne zu kippen drohte. Heinrich konnte den ohnmächtigen Körper gerade noch auffangen.

Vollkommen erschlafft lehnte die schmächtige Gestalt an Heinrichs Brust. Sie gab kein Lebenszeichen mehr von sich, kein Laut, kein Zucken, und in demselben Augenblick, indem der Kobold zur Ruhe kam, fingen die Wassermassen über Heinrichs Kopf an zu rumoren.

Heinrich war verwirrt. Hatte der Kobold das Wasser etwa nicht gerufen, sondern zurückgehalten? Eine Antwort auf diese Frage fand er jedoch nicht mehr, da ihn ein knallendendes Geräusch aus seinen Gedanken riss. Das Geräusch war laut und schneidend, als hätte jemand mit einer Peitsche direkt neben seinem Ohr in die Luft geschlagen.

Mit diesem Geräusch riss die Decke auf und die herunterstürzenden Wassermassen rissen Heinrich von der Leiter und drückten ihn unter Wasser, bis er mit dem Rücken auf den Boden schlug. Mit einem lautlosen Schrei entwich die Luft aus seinen Lungen.

Panisch versuchte er, die Augen zu öffnen, um sich nach dem Kobold umzuschauen. Das Wasser brannte jedoch in seinen Augen und das Einzige, was er in einem kurzen Blinzeln erhaschen konnte, waren weiße Wirbel aus Licht und Gischt.

Das Wasser nahm ihm dem Atem, lähmte seine Bewegungen, drückte auf seine Ohren und machte es ihm unmöglich zu sehen, dennoch dachte Heinrich in diesem Moment nicht an sich selbst, sondern an den Kobold. Das Wasser hatte ihm den kleinen Körper aus den Händen gerissen und der Kobold war vermutlich zu schwach, um aus eigener Kraft an die Wasseroberfläche zu schwimmen. Blind tastete Heinrich durch das Wasser.

Verwundert stellt er fest, dass er sich für den kleinen Geist verantwortlich fühlte und sich Sorgen um ihn machte. Heinrich wusste, dass Menschen und Tiere in ausweglosen Situationen dazu neigten, Sympathie für ihren Peiniger zu empfinden, aber bei ihm war es mehr. Bei ihm war es ein Gefühl von tiefer Verbundenheit und unverlierbarer Freundschaft. Schuldbewusst musste er sich jedoch eingestehen, dass er diese Gefühle Wilhelm in letzten Wochen vorenthalten hatte.

Nachdem sich das Wasser ein wenig beruhigt hatte, gelang es Heinrich, die Augen zu öffnen. Viel erkennen konnte er jedoch nicht. Der Raum wäre vermutlich komplett dunkel gewesen, wenn Meissmanns billige Lumineszenzfarbe nicht für ein sanftes Glühen gesorgt hätte. Das schwache, diffuse Licht ließ die Regale als schwarze Riesen erscheinen. Zwischen ihnen schwammen weiße Papierquallen und ein Bürostuhl. Vom Kobold keine Spur.

Heinrich hatte sich natürlich auch um Wilhelm Sorgen gemacht, hatte nach ihm gesucht, um ihn geweint und sich in die Arbeit gestürzt, um alles in seiner Macht stehende zu tun, um seinem Freund zu helfen. Aber zwischen dem Sehnen, den Tränen und der Unrast war er auch wütend gewesen, wütend und verletzt. Und trotzig. Wütend darüber, dass Wilhelm eine so wichtige Entscheidung ohne ihn getroffen hatte. Verletzt, weil er ihn nicht hatte Teil sein lassen. Und trotzig, weil er immer trotzig wurde, wenn er wütend und verletzt war. Dieser Trotz hatte jede Sorge überschattet und die Verbundenheit verdorben.

Als sich Heinrich vom Boden abstieß, um nach dem Kobold zu suchen, hatte er das Gefühl, seinen Trotz am Boden zurückzulassen. Und falls er noch Wut und Enttäuschung empfand, dann nicht wegen Wilhelm, sondern wegen sich selbst. Er hätte es wissen müssen. Er hätte da sein müssen.

Mit sparsamen Bewegungen schwamm er zwischen den Regalen entlang. Nachdem er sich seiner unsichtbaren Last entledigt hatte, hätte er sich schwerelos fühlen können, doch er bereute seinen Fehler zu sehr. Für Wilhelm kam seine Einsicht zu spät. Heinrich war deswegen fest entschlossen, diesen Fehler nicht noch einmal zu begehen. Den Kobold würde er retten. Er musste sich jedoch beeilen, da er nur noch ungefähr eine Minute hatte, bevor ihm die fehlende Atemluft jede weitere Anstrengung verbieten würde.

Das Leuchten der Wände erlaubte, nur etwa einen Meter vorauszuschauen. Als er das Regal erreichte, von wo aus ihn die Wasserlawine kurz zuvor in die Tiefe gerissen hatte, wurde die ohnehin schlechte Sicht zusätzlich erschwert, weil dort Zeitschriften durchs Wasser trudelten. Wie eine Herde rechteckiger Quallen, die gerade von einer Exkursion an die Oberfläche zurückkehrten, sanken die Papierwesen langsam nach unten. Als sich Heinrich seinen Weg durch die Zeitschriften bahnte, sah er plötzlich einen weißen Stoffzipfel und eine blasse Kinderhand. Ab diesem Punkt, war alles weitere Routine.

Heinrich stieß sich vom Boden ab und stieb durch die Papierquallen Richtung Kobold. Als er in Reichweite war, packte er den Kleinen und nutzte das Regal, um sich und seinen Begleiter kräftesparend nach oben zu ziehen, in der Hoffnung, dass es ein Oben gab.


 

Heinrich tauchte aus dem Wasser auf wie aus einem tiefen Traum. Der Druck auf seinen Ohren und Lungen ließ schlagartig nach und wich einer klirrenden Kälte, die Heinrich zusammen mit der frischen Luft und dem Licht, das ihn umgab, gierig in sich aufsaugte. Die Dunkelheit perlte von ihm ab wie etwas, das nicht zu ihm gehörte, und das Wasser verwandelte sich in glitzernde Kristalle, die ihn alle Richtungen davonstieben. Der Kobold war plötzlich ebenso verschwunden wie das Wasser und die Dunkelheit. Die Illusion war zu Ende. Heinrich hatte die Grenze zur Realität überschritten.

Die Illusion stand ihm noch klar vor Augen. Er erinnerte sich sowohl an den Kobold in Jungengestalt als auch an das aus seinen Erinnerungen und Vorstellungen rekonstruierte Institut. Das war alles nicht echt gewesen. Der Ort, an den er jetzt geraten war, war hingegen real. Das wusste Heinrich so sicher, wie er nach einem Traum sicher war, wieder wach zu sein.

So sicher er sich allerdings auch war, dass dies die Realität war, so sicher war er sich auch, dass dies nicht seine Realität war. Heinrich schaute um sich. Er stand vor einer rissigen Felswand und konnte in der Ferne eine weiße Bergspitze erkennen. Im Tal lag ein verschneiter Wald. Eine Siedlung war nicht zu sehen.

Er konnte es nicht mit Gewissheit sagen, glaubte jedoch nicht, dass er sich in der Bergwelt seiner Heimat befand. Die Landschaft, die sich vor ihm ausbreitete, wirkte sanft und einladend, während er die schroffen Kare und scharfkantigen Kalkzähne der Berge seiner Heimat immer als ein wenig bedrohlich und abweisend empfunden hatte. Wilhelm hätte ihm vielleicht sagen können, wo er sich befand.

Bei dem Gedanken an Wilhelm fiel Heinrich eine Spur im Schnee auf. Sie musste frisch sein, denn es schneite leicht und Heinrich wusste, wie schnell selbst leichter Schnee Spuren in flache Kuhlen verwandelte oder ganz auslöschte. Er sah jedoch deutliche Fußabdrücke und eine breite Schleifspur, die ein wenig versetzt dazu verlief. Während er die Spuren genauer betrachtete, bemerkte er, dass er nicht fest an einem Ort stand, sondern langsam entlang der Felswand schwebte. Die Bewegung war so langsam, dass er sie nur bemerkte, wenn er sich auf einen Abdruck im Schnee oder einen Riss in der Wand konzentrierte.

Heinrich sah an sich herab und war nicht verwundert, dass er seinen Körper nicht sehen konnte. Er war unsichtbar. Mehr als unsichtbar sogar. Mit ausgestreckter Hand beobachtete er, wie der Schnee durch ihn hindurchfiel, als wäre er nicht da. Obwohl er den Schnee nicht berühren konnte, fühlt er das kalte Bitzeln, wenn er auf seine Haut traf. Auch die raue Felswand konnte er fühlen so wie die kalte Luft in seinen Lungen und den sanften Wind in seinem Haar.

Als Heinrich in die Richtung schaute, in die er langsam driftete, sah er das Ziel seiner Reise, das Zentrum der magischen Schwerkraft, den Mittelpunkt dieser Realität: ein mit Rucksack, Gurtzeug, Seilschlingen, Haken und Klemmen ausgerüsteter Bergsteiger. Obwohl er eine Mütze und einen dicken Anorak trug, brauchte Heinrich keinen zweiten Blick, um zu wissen, wer der Bergsteiger war. Es waren seine Statur, sein Gang und die unter der Mütze hervorlugenden grauen Haare, die ihn unverkennbar machten. Außerdem zog er eine selbstgebaute Schlittenkonstruktion hinter sich her, ein auf zwei kurzen Skiern befestigter Materialsack.

Wilhelm und seine Gebirgsjägerkameraden waren sich stets uneins darüber gewesen, wie man Material am besten einen Berg hinauf transportierte. Es gab wohl keine universell beste Methode. Falk hatte sein Seil auf langen Strecken, anstatt es sich über die Schulter zu hängen, abgewickelt und dann hundert Meter Seillänge hinter sich hergezogen. André hatte auf schwer beladene Kraxen geschworen und Gunnar auf Nachholen. Wilhelm hatte gerne aus Skiern, Planen und Reepschnüren provisorische Schlitten gebaut wie den, der gerade hinter dem Bergsteiger her zuckelte.

Heinrich spürte sein Herz bis zum Hals schlagen. Freude gemischt mit Panik raubte ihm für einen kurzen Moment die Fähigkeit, klar zu denken und sein Handeln zu kontrollieren. Gelähmt und willenlos ließ er sich treiben. Erst als er bemerkte, dass er immer schneller wurde, erkannte er, dass es seine Wünsche und seine Euphorie waren, die den Sog verstärkten.

Als die Lähmung von ihm abließ und sein Denken zurückkam, warf er sich dem Sog in die Arme und versuchte, seinen geisterhaften Körper schneller durch den Äther zu manövrieren. Er wirbelte dabei keinen Schnee auf und machte kein Laut. Wilhelms Schritte und das Schleifen des Schlittens konnte er hingegen schon hören. Gleichmäßig sanken Wilhelms Füße in den Schnee und traten ihn mit einem knirschenden Geräusch platt.

Heinrich war nicht überrascht darüber, wie einfach er durch die Luft navigieren konnte. Es war wie in seinen Kindheitsträumen. Durch kontrolliertes Atmen, leichte Bewegungsimpulse mit Händen oder Füßen und bloßes Treibenlassen konnte er aufsteigen, herabschweben, beschleunigen und verlangsamen. Er hatte es nicht verlernt. Viel wichtiger war jedoch, dass er seinen Freund wiedergefunden hatte. Jetzt konnte nichts mehr schiefgehen.

Heinrich fühlte sich unsterblich. Er war in Wilhelms Realität gelandet und Wilhelm war das Zentrum der Schwerkraft dieser Welt. Es war jedoch keine unbarmherzige Schwerkraft wie die der Erde, die einem die Knie blutig schlug, die Knochen brach oder ein ganzes Dorf unter einer Lawine begrub. Wilhelms Anziehungskraft war eine sanfte. Sie war Sicherheit, Trost und Erdung.

Heinrich wurde auf die letzten Meter immer schneller, rauschte schließlich an Wilhelm vorbei, und kam nach einem scharfen Wendemanöver in der Luft zum Stillstand. Wilhelm blieb abrupt stehen und starrte vor sich auf den Boden, als hätte er dort etwas gesehen. Heinrich schwebte zwei Schritte von Wilhelm entfernt auf der Stelle.

»Hier bin ich, hier«, sagte Heinrich leise und winkte vorsichtig mit seiner unsichtbaren Hand. Er hatte das Gefühl, dass er zwischen Ende und Anfang schwebte und ein falsches Wort oder eine hektische Geste alles zerstören konnte.

Als Wilhelm langsam aufsah, erschrak Heinrich. Wilhelms Wangen waren rot. Es war jedoch nicht die Art von Rötung, die von Anstrengung oder Hitze herrührte, sondern ein tiefes, dunkles Rot, das sich bis zum Kinn fortsetzte und dort in einen bläulichen Ton überging. Die Farben erinnerten an einen ungleichmäßig verheilten Bluterguss. Helle Linien durchzogen die verfärbten Hautpartien und umfassten etwa münzgroße, unregelmäßig geformte Parzellen wie Ländergrenzen. Als Wilhelm seinen Schal lockerte, sah Heinrich, dass sich die Verfärbungen am Hals fortsetzten und dort blasslila schimmerten.

Bisher hatte sich Heinrich nur eine vage Vorstellung davon machen können, was Wilhelm widerfahren war. Er hatte das geschmolzene Gehäuse und das verbrannte Innenleben von Wilhelms Laptop in den Händen gehalten. Er hatte das ausgebrannte Institut gesehen und wusste inzwischen von dem Sprengstoff und dem eingestürzten Turm. Er hatte im Bericht der Spurensicherung gelesen, dass auf dem Grundstück verbrannte Kleidung und Hautreste gefunden worden waren.

Es war jedoch etwas anderes davon im Polizeibericht zu lesen oder die Narben greifbar vor sich zu haben. Heinrich widerstand dem Impuls, seine Hände nach Wilhelm auszustrecken. Stattdessen verzog er das Gesicht. Er wusste nicht, was er tun oder sagen sollte, aber Wilhelm schien ihn ohnehin nicht wahrzunehmen. Er schaute durch ihn hindurch, blinzelte ein paar Mal und spannte seine Lippen, was seine Wagenknochen hervortreten und seine Nasenflügel zucken ließ. Heinrich kannte den Blick, wenn Wilhelm etwas nicht gefiel oder wenn ihm etwas zu denken aufgab.

Wilhelm warf erst einen skeptischen Blick nach oben, dann in die Tiefe und verfolgte schließlich den Weg, den er gekommen war, mit seinen Augen, als ob er dort nach etwas suchen würde. Als er nichts fand, spannte er wieder seine Lippen, streifte seine Fäustlinge ab und klippte sie an sein Gurtzeug. Heinrich verfolgte jede seiner Bewegungen und war überrascht, wie vertraut ihm diese kleinen Gesten waren und wie viel sie ihm trotz ihrer absoluten Bedeutungslosigkeit bedeuteten.

Unter den Handschuhen trug Wilhelm weiße Bandagen. Jeder einzelne Finger war mit enganliegenden, schmalen Binden umwickelt. Auch die Hände und Handgelenke waren verbunden. Wilhelm konnte seine Finger jedoch gut bewegen, und falls er Schmerzen hatte, ließ er sie sich nicht anmerken, als er seine Mütze abzog und sie in die Jackentasche steckte.

Anstatt der verschwitzten Haarfransen, die er immer aus der Stirn strich und die dann nach links und rechts abstanden, kam dieses Mal ein straffer Mittelscheitel unter der Mütze hervor.

Wilhelms Haare reichten bis über die Schultern, aber er hatte sie im Nacken zusammengeknotet, sodass nur ein paar Haarspitzen unter der Mütze hervorgelugt hatten. Die straffe Frisur betonte seine abstehenden Ohren, hinter die er nun ein paar lose Haarsträhnen strich. Dann kratzte er sich am Kopf, wie er es immer zu tun pflegte, wenn er nach einem anstrengenden Aufstieg die Mütze abnahm.

Heinrich schaute weg hinunter ins Tal. Wilhelm ohne dessen Wissen zu beobachten, machte ihn verlegen. Dennoch konnte er es nicht lassen, immer wieder zu ihm hinüber zu schauen. Als Wilhelm eine Wasserflasche aus seinem Rucksack, erinnerte sich Heinrich an seinen eigenen Durst. Obwohl er gerade fast ertrunken wäre, hätte er jetzt gerne einen großen Schluck Wasser getrunken.

Er hätte Wilhelm gerne davon erzählt, wie er um Haaresbreite dem Zauber eines Kobolds entkommen konnte, von seiner Reise nach Lettland, von dem Tagebuchfund, von seiner Freistellung vom Dienst, von den Ermittlungen in Deutschland, überhaupt von der Zeit ohne ihn. Und Fragen hatte er auch. Fragen nach dem Was und Warum. Fragen nach Tomo. Doch alles erschien in diesem Moment banal und Wilhelm hätte ihn ohnehin nicht gehört. Deswegen standen sie nur nebeneinander und starrten schweigsam ins Tal.

Diese Situation unterschied sich kaum von ihren früheren gemeinsamen Bergtouren. Wilhelm hatte meistens geschwiegen und Heinrich hatte es ihm, wenn er sich nicht gerade die vergangene Woche von der Seele reden musste, gleichgetan. Die Natur war oftmals einfach nicht der richtige Ort zum Reden. Wenn man entlang eines Gebirgsflusses wanderte, plätscherte das Wasser so laut, dass man sein eigenes Wort nicht verstand, und wenn man nach einer langen Strapaze endlich auf dem Berggipfel stand, wirkte die Ruhe dort so magisch und heilsam, dass man sie nicht stören wollte.

Dieses vertraute Gefühl von gemeinsamem Schweigen durchfloss Heinrich wie ein warmer Strom und er fühlte zum ersten Mal seit langem so etwas wie Frieden.

Wilhelms Rast war jedoch von kurzer Dauer. Er verstaute seine Trinkflasche, schulterte seinen Rucksack, zog seine Mütze und seine Handschuhe an und straffte das Seil, mit dem er den Schlitten hinter sich herzog.

Heinrich hätte gerne noch verweilt und überlegte, wie er sich bemerkbar machen konnte, doch in diesem Moment wurde ihm schwarz vor Augen, als Wilhelm durch ihn hindurchschritt, um seinen Weg fortzusetzen.

Nach einem kurzen Schwindelgefühl klarte Heinrichs Sicht wieder auf. Doch als er sich umdrehte, um Wilhelm zu folgen, schaute er in Wilhelms überraschtes Gesicht. Wilhelm war stehengeblieben war und starrte angestrengt in Heinrichs Richtung. Mit einer Hand hielt er das Seil, mit der anderen seine Brust.

Heinrich war sich nicht sicher, ob Wilhelm ihn sehen konnte. Vorsichtig hob er seine Hand und stellte überrascht fest, dass er seine Hand zwar nicht sehen konnte, dass die Schneeflocken jedoch nicht mehr länger durch in hindurchfielen, sondern wie Metallspäne, die sich nach einem Magnetfeld ausrichteten nach links und rechts abgelenkt wurden.

Er öffnete seine Hand, um den Schnee zu fangen, was ihm auch gelang, und da er offenbar keine Körpertemperatur besaß, schmolzen die Schneeflocken nicht, sondern lagen wie kleine Diamanten in seiner Hand. Die Schneeflocken, die auf seine Finger, auf die Ränder seiner geöffneten Handfläche und auf seinen Arm trafen, wurden hingegen weiterhin versprengt.

Heinrich fühlte sich wie Wind, der unsichtbar mit Schneeflocken, Regentropfen und Blättern spielen konnte. Gebannt beobachtete er, wie der Schnee auf ihn reagierte, und streckte schließlich vorsichtig seine Hand aus und hielt Wilhelm die Diamanten hin. Zu sprechen wagte er nicht, weswegen er es erst einmal mit einem Lächeln probierte.

Doch in dem Moment, in dem Heinrich seinen Mund zu einem Lächeln verzog, öffneten sich Wilhelms Lippen und er stieß einen so markerschütternden Schrei aus, dass Heinrich das Gefühl hatte, wie eine zu Boden gefallene Porzellantasse in tausend Scherben zu zerspringen. Wilhelms Schrei schnitt so schmerzhaft durch seinen Körper, dass Heinrich ebenfalls aufschrie. Sein Schrei war kaum hörbar, aber er war sichtbar, als eine Wolke aus Blasen aus Heinrichs Mund sprudelte.

Das Wasser war zurück und mit ihm die Dunkelheit und die Schwerkraft. Heinrich klopfte kraftlos gegen die Decke. Es gab keine Möglichkeit aus dem überfluteten Archiv aufzutauchen und der Schrei hatte ihn seine letzten Luftreserven gekostet.

Heinrich blickte sich nach dem Kobold um, doch in dem schummrigen Licht der phosphoreszierenden Wände konnte er kaum etwas sehen. Heinrich wusste nicht wie lange er fort gewesen war, aber die Farbe hatte inzwischen deutlich an Leuchtkraft verloren. Da ihm nur noch wenig Zeit bliebt, entschied er, es noch einmal mit der Tür zu probieren. Es schien ihm der einzige Weg, um sich und den Kobold zu retten.

Er wandte sich in die Richtung, in der er in der Dunkelheit ein rotes Leuchten wahrnahm. Die Messstation für die Umgebungswerte hatte offenbar die veränderte Luftfeuchtigkeit bemerkt und wies ihm nun mit ihrem roten Blinken den Weg zur Tür.

Heinrich wusste, dass ihm nur noch Sekunden blieben, aber er wusste auch, dass man vieles, was normalerweise mehrere Minuten in Anspruch nahm, oftmals in unter einer Minute erledigen konnte. Ein Teil der soldatische Ausbildung bestand daraus, die nötige Konzentration und Körperbeherrschung dafür zu trainieren. Bett bauen, Stube in Ordnung bringen, duschen und Haare waschen, Kampfkleidung anlegen, Verband wechseln, Waffe reinigen, alles war in unter einer Minute möglich.

Als Heinrich jedoch unter dem Schreibtischstuhl durchtauchte und sich von einem Regal abstieß, um auf das rote Leuchten zu zu schwimmen, wurde ihm klar, dass er keine Sekunden mehr hatte. Seine Zeit war abgelaufen.

Er fühlte, wie sein Kehlkopf nach innen gedrückt wurde, und nach einem kurzen unkontrollierten Ringen, Würgen und Winden erschlafften seine Muskeln so abrupt wie ein aufziehbares Kinderspielzeug, das mitten in der Bewegung innehielt, weil die Feder keine Energie mehr hatte. Der Befehl, sich mit Schwimmbewegungen weiter Richtung Tür zu bewegen, kam nicht mehr an. Wie etwas, das nicht zu ihm gehörte, trieben seine Arme links und rechts von ihm Wasser und er fühlte seine Beine nicht mehr.

Umso mehr spürte er jedoch seine Brust, die gleichzeitig zu brennen und zu erfrieren schien. Der beständige Streit zwischen Feuer und Kälte fuhr wie eine Säge durch seinen Körper und die Zähne des groben Sägeblatts rissen mit jedem Schnitt kleine Fleischbrocken aus seinen Lungen und seinem Herz, die wie Sägespäne zu Boden fielen, bis sein Brust ausgebrannt und hohl war. Die Schmerzen waren unerträglich und doch blieb ihm nichts anderes übrig, als sie zu ertragen.

Der Schmerz beraubte ihn sämtlicher Sinne und ließ nur noch einen einzigen Gedanken zu: aufhören. Doch selbst als es in Heinrichs Brust nichts mehr zu verbrennen gab, hörten die Qualen nicht auf. Flammen und das Eis wanderten weiter Richtung Stirn und fraßen sich von dort ihren Weg weiter durch seine Augen und in sein Gehirn. Hätte er zappeln, schlagen oder strampeln können, hätte er es getan, aber da er sich nicht bewegen konnte, ertrug er die Schmerzen scheinbar ungerührt und gelassen.

In seinem Inneren schrie er jedoch laut und verzweifelt, während sich sein Bewusstsein bei dem Versuch, den Flammen und dem Eis zu entkommen, immer weiter in sich selbst zurückzog. Es floh vor den Schreien, der Dunkelheit und der Vernichtung und kauerte sich im Ursprung zusammen in der Hoffnung, dass es dort in Sicherheit war.

Doch das Feuer und die Kälte hatten Heinrich längst umzingelt und drangen von allen Seiten auf ihn ein und hinterließen dabei eine Spur der Zerstörung, schwarze Asche das Feuer, und Scherben das Eis.

Heinrich schloss die Augen und zog die Beine ganz nah an seine Brust und umfasste sie mit beiden Armen. Dann hörte der Schmerz plötzlich auf. Das Ende kam so abrupt, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Der Nachhall der Tortur vibrierte durch das, was von ihm noch übrig war, wie die Vibrationen, die von einer Stimmgabel ausgingen.

Mit der Geistesgegenwart eines Sterbenden verstand Heinrich was geschehen war. Es war einfache Biologie: Sein Gehirn war so stark geschädigt, dass es zum keinem Schmerzempfinden mehr fähig war. Die Kontrolle über seinen Körper und die Fähigkeit zu sehen und zu hören hatte er schon lange verloren. Er war nur noch ein im Ursprung seiner selbst zusammengekauertes Bewusstsein und ihm blieben vermutlich nur noch ein paar Sekunden.

Für Menschen aus Fleisch und Knochen Zeit genug, um eine Soldatenstube in Ordnung zu bringen oder eine Waffe zu reinigen, für ein Bewusstsein, das nur aus Gedanken und Vorstellungen bestand, eine kleine Ewigkeit. Dennoch wollte Heinrich keine Zeit verschwenden, sondern öffnete seine Augen und war erstaunt, dass er sich genau dort wiederfand, wo sein Denken aufgehört hatte.

Anstatt Licht am Ende des Tunnels oder sein Leben im Schnelldurchlauf, sah er vor sich das rote Blinken, das ihm den Weg zur Tür wies. Er befand sich noch immer in dem überfluteten Archiv, aber die Situation hatte an Bedrohlichkeit verloren. Wenn man nicht atmen musste, war Wasser fast angenehmer als Luft. Es war wie eine weiche Umarmung und machte einen schwerelos.

»Du bist spät dran«, hörte Heinrich plötzlich jemanden hinter sich in einer ihm vertrauten sachlich feststellenden Weise sagen. Trotz des Wassers hörte Heinrich die Worte laut und klar.

»Du hast nicht auf mich gewartet«, erwiderte Heinrich und drehte sich zu Wilhelm um. Von Wilhelm ging ein sanftes Leuchten aus. Das Licht wirkte, nachdem die Wände an Leuchtkraft verloren, wie das Versprechen auf Trost und Heimat, das ein Leuchtturm vom Ufer aus auf das Meer hinaussandte.

Wilhelm sah so aus, wie Heinrich ihn zuletzt auf dem Berg gesehen hatte. Das Wasser hatte jedoch seinen Haarknoten, seinen Schal und die Verbände an seinen Händen gelöst, sodass ihn seine langen Haare wie Sonnenstrahlen umflossen und der Schal und die Binden wie lange, dünne Quallententakel im Wasser trieben.

Obwohl Heinrich wusste, dass er nur eine weitere Form des Kobolds vor sich hatte, war er froh, nicht allein zu sein. Wilhelm sagte nichts weiter. Mit ausgebreiteten Armen machte er langsame und sanfte Bewegungen, um seine Position zu halten.

Auch Heinrich musste mit den Händen rudern, um auf Wilhelms Höhe zu bleiben. »Wir sinken«, sagte er wieder zu Wilhelm gewandt.

»Wir schweben«, erwiderte dieser.

Als hätten sie mit diesen Worten einen Wettbewerb ausgerufen, stellten sich die beiden gleichzeitig ihre Bewegungen ein.

»Siehst Du?«, fragte Heinrich, denn sie sanken.

»Siehst Du?«, fragte Wilhelm, denn sie sanken so langsam, kontrolliert und sanft, dass es im Prinzip ein Schweben war.

Wortlos schwebten sie in die Tiefe. Einzelne Buchseiten, Briefbögen und Notizzettel schwebten wie Zeitlupenkonfetti um sie herum. Manche Gegenstände hatten ihre Scherkraft sogar gänzlich aufgegeben und hingen oben an der Decke wie der Schreibtischstuhl, der trotz seines schweren Fußes nicht sank.

»Vermutlich sind die Sitzplatte und die Lehne hohl«, mutmaßte Wilhelm, als er Heinrichs skeptischen Blick Richtung Schreibtischstuhl bemerkte. Er lächelte seinem Freund zu.

Die wohltuende Belanglosigkeit eines Gesprächs über Stühle mit hohlen Sitzplatten war verlockend und Heinrich hätte das Lächeln gerne erwidert, aber er wusste, dass er an einem Ort war, an dem Seelen starben, wenn sie zu lange dort verweilten. Er atmete tief ein und nahm sich ein Herz: »Wilhelm, ich kann nicht länger bleiben. Ich war schon viel zu lange hier.« Er zeigte auf die Tür. »Du musst mich gehen lassen. Du weißt, ich werde wiederkommen.«

Wilhelms Lächeln änderte sich. Aus einem verschmitzten, aufmunternden Lächeln wurde ein warmes, verständnisvolles Lächeln. Er sah in der Tat aus wie eine erwachsene Form des Kobolds. Haarfarbe und Augenfarbe waren gleich, Kinn, Wagenknochen und Augenpartie hatten ebenfalls viel gemein und wirkten wie eine markantere Version des Engelsgesichts des Kobolds. Auch in seiner Mimik und seinem Gehabe glich Wilhelm dem Kobold wenngleich in einer reiferen Form. Der Kobold hatte sich mit seiner Besserwisserei aufgespielt und ein nicht geringes Maß an Selbstgefälligkeit durchblicken lassen. In Wilhelms Besserwisserei lag Demut, als er auf Heinrich zu schwamm und ihm an die Stirn tippte: »Du tust es schon wieder.«

Heinrich verstand nicht, was Wilhelm meinte. Er blinzelte und deutete ein Kopfschütteln an.

»Du verwechselst uns«, erklärte Wilhelm, und da Heinrich schwieg, fuhr er fort: »Du denkst, das ist meine Welt, aber in Wirklichkeit ist es Deine.«

Heinrich dachte angestrengt nach und Wilhelm ließ ihm Zeit.

»Du hast die Schritte gezählt«, sagte Heinrich schließlich und nickte einsichtig, als wäre ihn gerade ein Licht aufgegangen.

»Und ich habe das Gedicht geschrieben?«, fuhr er zögerlich fort und blickte Wilhelm an.

Wilhelm nickte: »Dies war einmal meine Welt gewesen und Du konntest keine Türen öffnen, aber heute bin ich der Gast. Das Einzige, was Dich hier hält, bist Du selbst.«

Heinrich schüttelte den Kopf. Langsam begriff er, worin die Macht des Kobolds wirklich bestand. Die Alten auf der Insel hatten ihn immer davor gewarnt, dass Kobolde in Form geliebter Menschen erscheinen konnten, um ihre Opfer von zu Hause fortzulocken und in die Irre zu führen. Diese Erklärung war jedoch nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte hätte sein kindlicher Verstand vermutlich nicht verarbeiten können. Kobolde täuschten nicht nur das Auge, sondern auch das Herz. Es genügte nicht, ihr Spiel zu durchschauen, sondern man musste auch loslassen können.

Wilhelm hatte recht. Heinrich hatte die Türen nach draußen selbst verschlossen, indem er sich an die Vertrautheit, die der Kobold ausgestrahlt hatte, geklammert hatte. Er musste loslassen, wenn er dem Spuk entkommen wollte. Dem Kobold zu folgen würde ihn genau so wenig zu Wilhelm führen, wie es Luise retten würde, wenn er den Kobold vor dem Ertrinken bewahrte.

Heinrich spürte wie Wilhelms strahlender Blick und sanftes Lächeln und seine Art, über Wichtiges und Unwichtiges mit dem gleichen Ernst zu reden, in ihm den Wunsch aufkeimen ließ, dass der Moment niemals endete. Er musste aufhören, zu fühlen, zu sehnen und zu wünschen.

»Warum hast Du mich allein gelassen?« Heinrich spürte, wie die Worte wirkten. Sie wirkten jedoch nicht auf Wilhelm, sondern in ihm, indem seine Enttäuschung, seine Wut und sein Trotz zurückkehrten, und Trotz war ein starkes Seelengift. »Seit Wochen sind die Nächte länger als die Tage und sie sind dunkler als sonst. Ich liege wach in Sorge, schier verrückt vor Angst. Alle Träume sind Alpträume. Jedes Erwachen ein neuer Schrecken.«

Wilhelm schwieg, doch in seinem magischen Lächeln lagen die Worte: »Alles wird gut.« Und Heinrichs Trotz schmolz.

»Egal ob ich morgens in meine Uniform oder in eine Jeans schlüpfe, sehen mich die Leute an, als wäre ich nackt. Ich würde gerne mit dem Finger auf Dich zeigen, damit zu weißt, wie sich das anfühlt. Wer mich nicht verurteilt, bemitleidet mich. Ich weiß nicht, was ich mehr hasse. Die Anfeindungen oder die Almosen. Zuletzt wurde ich sogar aus der Dienststelle verbannt. Ich weiß nicht, wer noch zu mir hält. Wo warst Du, als sich alle von mir abwandten, als mir der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, als es Nacht wurde?«

Wilhelm streckte Heinrich mit ausgebreiteten Armen die Hände entgegen. Wieder keine Worte, nur eine Umarmung und das stumme Versprechen, dass es für alles eine Lösung gab.

Heinrich durfte jetzt nicht nachgeben. Deswegen festigte er seine Stimme und legte nach: »Ich stand jahrelang in Deinem Schatten und spätestens jetzt, wo Du aus der Sonne getreten bist, ist allen klar, dass ich der Dumme bin und Du der Held. Wer Dich Mysch nannte, meinte niemals Idiot. Sie meinten immer Fürst.«

Heinrich kämpfte schmutzig und unfair, aber er sah keine andere Möglichkeit. Er musste sich selbst das Herz brechen, um den Fluch zu brechen.

»Du hast meine moralischen Bedenken immer als feige bezeichnet«, fuhr er fort: »Doch inzwischen beschleicht mich das Gefühl, dass es Dir in Wahrheit nur missfällt, wenn jemand Deine Entscheidungen anzweifelt und Deine Weisheit hinterfragt. Du bittest die Leute um ihren Rat und ihre Meinung, aber im Herzen bist Du ein Despot. Hast Du deswegen vermieden, mich in all das hier einzuweihen?« Heinrich zeigte auf die Regale, die am Rande von Wilhelms Lichtkreis sichtbar waren. »Tappe ich deswegen bis heute im Dunkeln? Ist das Deine Definition von Zusammenhalten?«

Wilhelm Pose war noch immer die einer unerwiderten Umarmung. Die Worte blieben Heinrich fast im Hals stecken und kamen ihm so schmerzhaft über die Lippen, dass er froh war, dass es unter Wasser keine Tränen gab.

»Du musst immer alles beherrschen, selbst das, was Du zu lieben vorgibst. Du hast mich geformt und gebogen und dann verformt und verbogen zurückgelassen.« Heinrich schaute Wilhelm an, als ob sein Freund nicht sein Hause und seine Heimat wäre. Er schluckte. Er musste konsequent bleiben: »Ich wollte immer die Zeit anhalten, um das Gute ewig währen zu lassen«, sagte er: »Aber jetzt möchte ich die Zeit vorspulen, um mein erniedrigtes Ego zu heilen und wieder frei und ich selbst zu sein–« Das letzte Wort ging nahtlos in ein lautes Getöse über, als ein heller Blitz schmerzhaft durch Heinrichs Körpermitte schnitt und einen tiefen Graben in ihm aufbrach. Im selben Augenblick wurde er nach hinten gerissen. Weg von Wilhelm und raus aus dieser unwirklichen Welt.

Wilhelms Gesicht wirkte durch das in Aufruhr versetzte Wasser wie eine verzerrte Maske, und obwohl man unter Wasser keine Tränen sehen konnte, wusste Heinrich, dass Wilhelms Augen weinten. Er versuchte, nach seinem Freund zu greifen und ihn mit sich zu ziehen, doch er konnte ihn schon nicht mehr erreichen und der Abstand zwischen ihnen wurde immer größer.

Erst als Wilhelms Licht schwächer wurde und Heinrich hinter sich ein helles Leuchten bemerkte, verstand er, was gerade passierte. Die Tür hatte sich geöffnet und er wurde mitsamt dem Wasser aus dem Raum in den beleuchteten Flur gespült. Der Strom zog Heinrich nach unten und schleifte ihn unsanft über den Boden Richtung Tür, wo er mit dem Kopf gegen die untere Türkante schlug.

Er versuchte, sich aufzurappeln. Er musste raus aus dem Wasser, raus aus dem Institut und raus aus dem Traum. Doch als er sich in die Höhe stemmte, wurde der Schreibtischstuhl über ihn hinweggespült und traf ihn so hart am Hinterkopf, dass er erneut unter Wasser gedrückt wurde und sein Kopf ein zweites Mal auf der Türschwelle aufschlug. Mit einem lautlosen Stöhnen blieb Heinrich an der Türschwelle liegen. Es war schwarz um ihn herum und er war sich nicht sicher, ob die Dunkelheit von dem Schlag herrührte oder ob er nur seine Augen geschlossen hatte. Er hatte nicht mehr genug Energie, um sich gegen die Dunkelheit, das Wasser oder die Schwerkraft zu wehren.

Nachdem die Wassermassen jedoch, mit allem, was sie mitgerissen hatten, in den Flur abgeflossen waren, spürte Heinrich, wie sich der Würgegriff um seine Kehle löste und sein Körper selbstständig Wasser aus Nase und Mund spie, hustete und prustete und so gierig Luft einsaugte, dass er erneut von heftigen Hustenanfällen durchgeschüttelt wurde.

Heinrich schmeckte Blut und blinzelte mit den Augen. Er war sich nicht sicher, ob er lebte. Das Schütteln und Prusten hatte ihn seine letzten Kraftreserven gekostet. Er war zu schwach, aufzustehen, und so müde, wie er noch nie zuvor gewesen war. Als seine Augen langsam zufielen, bemerkte er einen weißen Zettel, der zusammen mit ihm im Türrahmen hängen geblieben war. An der Stelle, wo das weiße Stück Papier ins Wasser ragte, konnte Heinrich erkennen, dass das Wasser rot gefärbt war. Er vermutete, dass die rote Färbung sein Blut war, denn das erklärte auch seine Schläfrigkeit.

Bevor ihm die Augen jedoch vollends zufielen, konnte Heinrich noch lesen, was auf dem Zettel stand, und dann wusste er, dass er am Leben sein musste, weil er gar nicht sterben konnte: »Greifbar die Unsterblichkeit, weil es keinen Tod mehr gibt, wenn ein Freund den anderen liebt – Tomo, 11 Jahre.«

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301
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