Der braune Umschlag

Gespeichert von eloroke am Di., 21.03.2023 - 21:18

Während seiner Wanderung durch die aus seinen und Wilhelms Erinnerungen gewobenen Landschaften war Heinrich immer wieder ins Träumen geraten und darüber letztendlich in einem süßen und tiefen Schlaf versunken. Die grauen Eminenzen hatten sich dieses Mal aus seinen Träumen ferngehalten, und als er die Augen aufschlug, fühlte er sich zum ersten Mal seit Tagen ausgeruht und voll bei Kräften. Vorsichtig schälte er sich aus der Kuhle, die sein Körpergewicht in das Polster des Sofas gedrückt hatte, und streckte seine Glieder weit von sich. Nun konnte der Tag ernsthaft in Angriff genommen werden.

Heinrich stand erst am Anfang von Wilhelms Tagebuch und freute sich über den dicken Blätterstapel, der noch vor ihm lag. Er wusste aber zugleich, dass er sich die verbleibenden Seiten sparsam einteilen musste, um die am Ende lauernde Leere so weit wie möglich von sich wegzuschieben. Das Geschriebene gierig hinunter zu schlingen, würde der Mühe und Aufrichtigkeit, die Wilhelm in diese Zeilen investiert hatte, nicht gerecht. Noch einmal las Heinrich Pragens Notiz, bevor er sie zerknüllte und mit einem zielsicheren Wurf in den Papierkorb beförderte. Er durfte auf keinen Fall versäumen, den angeforderten Bericht pünktlich einzureichen. Wenn er die Sache mit Tomo und den seltsamen Textpassagen klären konnte, würde ihm das kostbare Pluspunkte und vielleicht sogar das Vertrauen der anderen einbringen. Er musste Teil der Untersuchungskommission bleiben. Wilhelm zuliebe.

Heinrich plante die nächsten Punkte seiner Tagesordnung. Er wollte unbedingt Jans Meinung über die Stellung seiner Person in der aktuellen Ermittlung einholen und einige Eckdaten aus Wilhelms Fallakte notieren. Auch der anfänglich noch zögerliche Impuls, die Freistellung vom Dienst für einen kurzen Ausflug nach Lettland zu nutzen, hatte sich inzwischen zu einer fixen Idee entwickelt. Da ihn diese Reise einen guten halben Tag kosten würde, verschob er sie auf den frühen Morgen des nächsten Tages und verschaffte sich somit genügend Zeit, ein zweites und diesmal etwas festeres Frühstück zu sich zu nehmen, ein leichtes Handgepäck zu richten, das Postfach zu leeren und zur Einsichtnahme in Wilhelms Akte nach München zu fahren, ohne dabei in Stress zu geraten. Er hatte bereits die Hand am Telefon, um Jan die nötigen Arrangements für Flug, Mietwagen und Unterkunft treffen zu lassen, überlegte es sich jedoch im letzten Moment anders. Dies sollte ein Privatausflug werden, ohne Spesenabrechnung und anderen Formalitäten. Bestenfalls würde niemand je davon erfahren. Heinrich spähte auf die Uhr. Er würde wohl so gegen drei oder vier Uhr nachmittags in der Ermittlungsbehörde ankommen. Reichlich spät zwar, aber möglicherweise noch rechtzeitig, um Jan dort anzutreffen.

Seine Entschlossenheit und sein Tatendrang und das damit einhergehende Ende selbstversunkener Lethargie bescherten Heinrich eine unbestimmte Zuversicht. Er wusste zwar nicht, warum, aber er hatte, das Gefühl, dass am Ende doch alles gut gehen würde. Auch der Zeck räkelte sich wohlig in seinem Nest und grinste in freudiger Erwartung eines bösen Erwachens selbstzufrieden in sich hinein.

Während Heinrich alles für die Reise vorbereitete, dachte er über das Gelesene nach. Wilhelms Tagebuchnotizen enthielten einen tragischen Fehlschluss. Warum hatte Wilhelm bloß angenommen, dass Heinrich ihm eine Nachricht zukommen lassen oder ihn anrufen würde? Weder hatte Heinrich an jenem Morgen gewusst, warum Wilhelm ihre Verabredung zum Frühstück versäumt hatte, noch hatte er den leisesten Hinweis darauf gehabt, ob oder wann dieser zum Hotel zurückkehren würde. Wilhelms irrige Annahme konnte nur bedeuten, dass er eine Antwort auf eine zuvor von ihm hinterlegte Nachricht erwartet hatte. Heinrich mutmaßte kurz, dass Wilhelm vor seinem spontanen, nächtlichen Aufbruch das Hotelpersonal angewiesen haben könnte, seine Verabredung für den folgenden Morgen abzusagen, verwarf den Gedanken jedoch gleich darauf wieder, da eine mündliche Vereinbarung dieser Art viel zu vage und spätestens mit dem Schichtwechsel des Personals verloren gegangen wäre. Wilhelm musste demnach eine schriftliche Nachricht für ihn hinterlassen haben.

Da sie damals nicht viel mehr voneinander gewusst hatten als Name, Dienstgrad und Zimmernummer, lag des weiteren die Vermutung nahe, dass Wilhelm einfach eine Notiz für das Zimmer hinterlegt hatte, in dem er Heinrich einquartiert geglaubt hatte. Da sich aber Pragen um die gesamte Ein- und Ausbucherei sowie um die Bezahlung gekümmert hatte, war auch Heinrichs Zimmer auf dessen Namen und Kreditkarte registriert gewesen. Pragen musste demzufolge das Bindeglied zwischen Heinrich, Wilhelm und einer verlorenen Nachricht sein.

Heinrich versuchte, diese vielleicht doch voreilig getroffene Verdächtigung schnell wieder fallen zu lassen. Bei all dem Chaos, in das er durch Wilhelms merkwürdiges Verhalten hineingeraten war, sollte wenigstens die vorbildlich leuchtende Gestalt seines geschätzten Dienstvorgesetzten und Mentors unbefleckt erhalten bleiben. Heinrich kannte diesen nun schon seit vielen Jahren und war bisher noch nie in die Verlegenheit gekommen, seinen von der ersten Begegnung an durch und durch makellosen Eindruck von Oberstleutnant Kajetan-Lewin Pragen revidieren zu müssen. Dabei hatte er ihn damals unter den seltsamsten aller nur denkbaren Umstände kennengelernt. Es war am letzten Tag einer bundesweiten Scharfschützenmeisterschaft, bei der Heinrich und Jan ihre Erstplatzierung vom Vorjahr verteidigen wollten. Gefechtsschießen, Zielerkennung und Pirschgang hatten die beiden bereits erfolgreich hinter sich gebracht, doch blieb ihnen keine Gelegenheit zum Verschnaufen, da der Hindernisparcours, bei dem verschiedene Aufgaben im Wettlauf gegen die Zeit zu meistern waren, noch vor ihnen lag und sie Gerät und Mann für diese letzte Übung vorbereiten mussten.

In diesem regen Treiben entschuldigte sich Heinrich wenige Minuten vor dem Startschuss von seinem Kameraden, um sich in voller Montur durch den Trubel der Wechselstation zu einem stillen Örtchen im nahegelegenen Kasernengebäude vorzukämpfen. Als er die Anlagen verrichteter Dinge wieder verließ, traf er im Vorhof des Gebäudes auf einen ihm fremden Stabsoffizier, den er im Vorbeistürmen flüchtig grüßte. Obwohl der Gruß ein meisterlicher Kompromiss aus dem der Pflicht geschuldeten Mindestmaß an Höflichkeit und der durch die Eile gebotenen Hast war, wollte sich der mit Eichenlaub dekorierte Offizier mit dieser nachlässig erwiesenen Ehrbezeigung nicht begnügen: »Wettkampfteilnehmer und Scharfschütze, Feldwebel Heinrich Luv, wenn ich mich nicht irre.«

Heinrich versicherte dem Unbekannten, dass dieser sich nicht im Geringsten irre und somit sicherlich dafür Verständnis zeige, dass er sich leider schleunigst zur Startaufstellung zu begeben habe.

Der fremde Offizier versuchte Heinrichs Hast mit einer beschwichtigenden Geste zu drosseln und krönte seine Seelenruhe gegenüber der Rastlosigkeit des Wettkampftrubels mit der Bitte um eine kurze Unterredung.

Heinrich glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu können. Er linste verstohlen auf das Namensschild seines Gegenübers, nannte diesen höflich bei Rang und Namen, bat dann aber dringlich um Entschuldigung für seine momentane Unpässlichkeit.

Weder Heinrichs wohlbegründete Ausflüchte noch der im Hintergrund zu vernehmende Aufstellungsaufruf für die Wettkampfteilnehmer vermochten es, den unnachgiebigen Eigensinn des Fremden zu bezwingen, und so ließ sich Heinrich auf einen kleinen, abseits gelegenen Exerzierplatz führen, wo sich Oberstleutnant Pragen als neuer Dienststellenleiter des Münchner Abschirmamtes vorstellte und sein Anliegen kurz und prägnant vorbrachte.

Er ersuche im Zuge der Aushebung seines Agentenstabs die infrage kommenden Personen jeweils um ein ungezwungenes Interview, bevor er die übliche Verwaltungsmaschinerie mit all ihrem formellen Gehabe in Gang setze, und Heinrich gehöre nicht zuletzt wegen seiner geisteswissenschaftlich geprägten Sicht auf den Menschen im Allgemeinen sowie den Soldaten im Besonderen zur ersten Wahl seiner Wunschbesetzung für den inneren Kreis der Münchner Geheimdienststelle. Neben seinen sportlichen Erfolgen und seinem Verdienst um die Neugestaltung der Hörsaalpädagogik in theoretischer Waffenschule sei Heinrich in den Berichten des Heeres immer wieder durch seinen absoluten, von Vorgesetzten oftmals als Drillrenitenz missverstandenen Gerechtigkeitssinn und Mut auffällig geworden. Eigenschaften, die Pragen sehr zu schätzen wisse. Mit wenigen Worten, doch geschickt und wirkungsvoll umgarnte der noch junge Stabsoffizier den noch jüngeren Feldwebel, um diesem das Ja-Wort zur hernach formlos unterbreiteten Aussicht auf eine Beförderung zum Oberfeldwebel sowie dem Angebot einer interessanten Verwendung im militärischen Geheimdienst zu entlocken. Heinrich war der Idee grundsätzlich nicht abgeneigt, bestand jedoch weiterhin auf seiner Eile und beschwerte sich – verhalten höflich zwar, doch deutlich genug – über den unpassenden Zeitpunkt der Eröffnung.

Es gebe keine wirklich unpassenden Zeitpunkte, sondern nur mangelhafte Vorbereitung auf das mäßig Überraschende, wehrte Pragen Heinrichs Protestgesuch ab, besänftigte damit aber dessen Empörung kaum.

Heinrich wollte dieses widersinnige Gedankenspiel nicht recht einleuchten. In Anbetracht der argen Zeitnot hielt er seine Widerrede zwar zurück, hakte aber durch seine überspannte Hektik zu unbescheidener Voreiligkeit verleitet sogleich nach, wie es denn in dieser Angelegenheit um seinen Partner Feldwebel Jan Lechter bestellt sei. Immerhin würden sie beide bereits im folgenden Monat als Scharfschützenausbilder in Hammelburg erwartet. Nur einen der beiden nach München zu befehlen, hieße das Team zu zerstören.

Pragen gab zu, dass er bisher nicht in Erwägung gezogen habe, Lechter in seinen Stab zu rufen, räumte jedoch ein, diese Möglichkeit durchaus in Betracht zu ziehen, wenn Heinrich wohl begründen könne, warum er gerade diesen Mann in sein Münchner Abschirmkommando bestellen sollte. Heinrich stand unter Zugzwang. Die Trommel hatte die Wettkämpfer längst ins Feld gerufen, sein Teamkollege wusste nicht, wo er steckte, und Pragen quälte ihn mit unmöglichen Fragen.

Der beste Grund, Lechter ins Abwehrteam zu holen, räsonierte Heinrich schließlich wenig schlüssig, dafür aber prompt, seien – neben den üblichen preußischen Tugenden – seine fast kindliche Begeisterungsfähigkeit selbst für die undankbarsten Aufgaben, seine unbedingte, bis zur Aufopferung gehaltene Treue sowie seine immerzu witzige Art.

Eine Portion gesunden Frohsinns hätte seiner Truppe tatsächlich noch gefehlt. Pragen atmete bedächtig ein und schlug dann mit kühnem, berechnendem Blick vor, dass er Heinrich gemeinsam mit dessen Scharfschützenpartner Jan Lechter in seinen Stab berufen würde, wenn die beiden den bevorstehenden Parcours in Bestzeit durchliefen.

Bestzeit? Heinrich fühlte sich betrogen und wollte zur trotzigen Widerrede ansetzen, doch Pragens Blick duldete keine: »Die Zeit läuft und Sie scheinen mir im Verzug, Junger Luv. Entschuldigen Sie bitte meinen Anteil an Ihrer Bredouille.«

Heinrich schüttelte nur ungläubig den Kopf und stürzte davon. Noch bevor er die Startbahn erreichte, kam ihm Jan entgeistert entgegen geeilt: »Henri, wo zum Teufel hast Du gesteckt? Letzter Aufruf für unser Team, ansonsten: Au revoir und adieu

Heinrich sah davon ab, seinen Atem oder weitere kostbare Sekunden für eine Erklärung zu verschwenden, sondern wies seinen Kameraden an, zu laufen. Uneingeweiht leistete dieser Heinrichs dringendem Befehl folge und stürmte los.

Bereits im ersten Drittel des Parcours holten die beiden einen Teil der verlorenen Zeit wieder auf, indem sie trotz des enormen Gewichts, mit dem die Rucksäcke sie in die Knie zu zwingen drohten, nahezu spurteten. Wann immer Jan es wagte, seinem in Berserkerlaune ausgebrochenen Kameraden einen fragenden Blick zuzuwerfen, antwortete dieser nur mit einem monotonen und verbissenen »Lauf!«

In den Hecken hatten die beiden zunächst Probleme ihre überanstrengten Muskeln zur Zusammenarbeit mit dem filigranen Gerät zu überreden, schafften es aber doch recht bald, wieder ihrer Glieder Herr zu werden. Auch hier unternahm Heinrich nicht den leisesten Versuch, Jan über den Grund seines Drängens auf Eile aufzuklären. Er fürchtete um dessen ruhiges Händchen und wollte ihn neben dem Wettkampfstress nicht auch noch Pragens irrsinnigen Wettspielchen aussetzen. Jan baute die Stellung auf und legte Taschenrechner, Notizblock und Flugbahntabellen parat, während Heinrich die Ziele lokalisierte und kaum, dass alles einsatzbereit war, seinem Partner auch schon die ersten Gewehreinstellungen diktierte. Jan zweifelte zunächst an dieser nahezu rein intuitiven Schätzmethode, entschloss sich dann aber doch, den scheinbar vorschnellen, im Ergebnis aber treffsicheren Anweisungen seines Truppführers zu vertrauen und zu feuern. Wenngleich die Präzision zu wünschen übrig ließ, eliminierten Heinrich und Jan alle Ziele in atemberaubender Geschwindigkeit und waren am Ende der zweiten Übung mit den vorderen Teams gleich auf.

Da Heinrich wusste, dass es auf der letzten Teilstrecke wieder vornehmlich ums Laufen gehen würde, wobei ein heikler Abschnitt am Ende des Parcours verschiedene freie Anschlagarten mit dem Gewehr verlangte, packte er kurzerhand und flink die Rucksäcke um und teilte das Team. Alles überschüssige Gerät wanderte in Jans Rucksack und Taschen, damit er selbst die letzten Meter mit minimaler Gewichtsbelastung bestreiten konnte. Der Plan war zwar mehr ein fouler Streich als wahrer Sportsgeist, aber in Anbetracht der Umstände doch verzeihlich, wenn nicht gar geboten: Während Heinrich in den Schießständen die letzten Übungen absolvieren würde, sollte Jan mit dem schweren Gepäck so schnell folgen, wie die Belastung dies zuließ. Obwohl er Heinrich nun vollends seines Verstands verlustig glaubte, ließ sich Jan auch zu dieser letzten Untat überreden. Heinrich dankte ihm für sein Vertrauen, schulterte seinen zur Ader gelassenen Rucksack, nahm seine Waffe auf und spurtete los. Das vordere Feld bestand bald nur noch aus ihm allein, und es gelang ihm, einen gehörigen Abstand zwischen sich und seine Verfolger zu bringen, bevor er vollkommen abgehetzt in die Schießanlage trat.

Heinrichs Plan ging auf: Jan und er kamen mit einem deutlichen Zeitvorsprung vor allen anderen Wettkampfteilnehmern ins Ziel, wo sie schließlich entkräftet und um Atem ringend am Getränkestand in die Knie gingen und nicht eher vom Boden aufsahen, als bis zwei blitzblank geputzte Ausgehschuhe vor ihnen haltmachten und Pragen sich zu ihnen herabbeugte, um ihre gierig leer getrunkenen Becher mit Wasser aufzufüllen. Er zeigte sich vom Ausgang des Laufs beeindruckt, gratulierte und fragte die beiden nach ihrem Geheimnis.

Da Jan seinen Atem noch nicht wiedergefunden hatte, antwortete Heinrich: »Beim Tarnen der Stellung auf das schlechte Auge des Beobachters gesetzt, schnell und schlecht gezielt und durch unkonventionelle Ausführung der Aufgabenstellung eine Disqualifikation riskiert.«

»Dann haben Sie den Wettkampf wohl verloren.«

»Das ist mäßig überraschend und ließ sich schwer vermeiden. Den eigentlichen Wettlauf aber haben wir gewonnen, Oberstleutnant Pragen. Wir haben den Parcours in Bestzeit durchlaufen.«

»Nennen Sie mich Marcus.« Pragen zog ein kleines, schwarzes Notizbuch aus der Innentasche seiner Weste, machte darin einen kurzen Vermerk und ließ es gedankenverloren wieder im Innenpolster seiner Jacke verschwinden: »Sie haben mich nicht enttäuscht, wenngleich an Ihren Methoden noch zu feilen ist, Feldwebel Luv und Feldwebel Lechter.« Pragen schüttelte zwei Schweiß und Dreck gesalbte Hände: »Sie werden von mir auf offiziellem Wege hören. Passen Sie gut auf sich auf.« Er wandte sich zum Gehen, wurde jedoch von Jans durch die gerade überstandenen Strapazen heiser krächzenden und noch immer kurzatmigen Stimme festgehalten, die wissen wollte, um was es überhaupt gehe.

Obwohl er Pragen erst seit wenigen Minuten kannte, ahnte Heinrich bereits, dass dieser weder unnötige Reden zu führen pflegte noch zu Schalk oder Rührseligkeit neigte, und verbuchte deswegen einen vollen Sieg, als Pragen ihnen ein herzliches Lächeln schenkte: »Ihre Menschenkenntnis ehrt Sie, Junger Luv. Ebenso wie Ihre Treue für Sie spricht, Feldwebel Jan Lechter. Bis bald.« Mit diesen Worten ließ er die beiden endgültig stehen.

Es unvermeidlich, dass Heinrich unter den Längerdienenden immer wieder auf Bekannte, Kameraden und Anhänger seines Vaters traf, die den Sohn nur als unscharfe Kontur im Schatten seines Stammbaums wahrnahmen. Aus Pragens Munde klang die Anrede ›Junger Luv‹ jedoch aufrichtig. Gerade so, als würde ein väterlicher Onkel zu seinem Neffen sprechen. Es war kaum auszudenken, dass dieser liebevolle Onkel seinen Schützling um eine Nachricht betrogen haben sollte.

Heinrich hatte Pragen immer für dessen couragierte Souveränität, beständige Ehrenhaftigkeit und erfolgreiche Methodik bewundert. Eigenschaften, die unter den Generälen, Obristen und Ministerialkrämern des Geheimdienstes gewöhnlich als sich gegenseitig ausschließende Antipole propagiert wurden. Es hatte sich hier der feste Glaube etabliert, dass man dem Erfolg entweder Recht und Redlichkeit opfern müsse oder bei dem Versuch, das Ziel auf geradem Weg zu treffen, Kreuz, Kranz und Krone einzubüßen habe. Pragen hatte sich diesen von der Heeresführung als unumstößlich anerkannten Regeln jedoch widersetzt und bei seinem Amtsantritt als Leiter der Münchner Geheimdienststelle ein Programm ins Leben gerufen, das sowohl den Schattenoperationen verschworener Militärcliquen als auch dem Grauzonenklüngel einzelner schwarzer Schafe in den Riegen der Generalität den bedingungslosen Kampf ansagte. Getreu seinem Motto ›Wahrheit streuen, Wahrheit ernten‹ kam er dabei gänzlich ohne Lauschaktionen, falsche Verdächtigungen, Unterschlagungen und die anderen üblichen Ehrlosigkeiten aus, sondern setzte auf eine von ihm bis zur Perfektion ausgefeilte Variante des wahrheitsfindenden Dialogs.

Da laut Pragen der Abschirmdienst die einzige zur Geheimbündelei befugte Instanz des Militärs und somit der Enthüllung trügerischer Camouflage verpflichtet war, verfolgte er mit unermüdlicher Beharrlichkeit den konsequenten Kehraus aller fragwürdigen bis gesetzwidrigen oder gar verfassungsfeindlichen Machenschaften: Sei es in den eigenen Reihen, im Ministerium oder in den Truppenstandorten. Dabei interessierte er sich selten für offizielle Berichte. Diese hielt er für reine Fassade und billiges Kopierwerk bewährter Muster. Er setzte auf das nachspürende Gespräch, das mit Trick, Geschick und Glück eine aus Wahrheiten und Vermutungen gedrehte Seidenschlinge um den Hals des Befragten legte und das feine Garngeflecht solange enger wob, bis dieser bekannte. Er wollte wissen, wie das Uhrwerk tickte, wer mit wem befreundet war, welche Vorsätze zu Neujahr gefasst wurden und welche Witze man sich beim Kameradschaftsabend erzählte. Auf Basis dieser Informationen und Verbindungen errichtete er das gläserne Modell seiner Welt.

Wie ein Lauffeuer war Pragens Reform, die später unter dem Zwang einer schnellen Namensfindung von den Schreibtischtätern der Nachrichtenzentrale ›Helllichter-Programm‹ getauft wurde, durch die Münchner Büros geflammt, über ihren Stellenwert als reiner Dienstpragmatismus hinaus gewachsen und zu einer Schule ausgeklügelter Ermittlungstaktik und Wertbeständigkeit herangereift. Pragen war Held und Dorn im Auge zugleich. Es lag im Auge des Betrachters, in ihm einen Meister seines Faches oder einen ketzerischen Aufrührer zu sehen.

Er zog jedoch selten selbst ins Feld, sondern bevorzugte die stille Abgeschiedenheit seines lichtdurchfluteten und in penibler Ordnung gehaltenen Münchner Büros sowie den lieblichen Duft einer Tasse heißen Tees, die er dort in grüblerischer Selbstversunkenheit zu genießen pflegte. Diese scheinbar tatenlose Beschaulichkeit war jedoch nur die spiegelnde Oberfläche eines unergründlich tiefen Sees. Die meiste Zeit lag das dunkle Wasserjuwel majestätisch still im Schoß der Erde, um nachzudenken und Kraft zu sammeln. Schlug es jedoch Wellen, konnten seine Strudel und Untiefen selbst die mächtigsten Kriegsschiffe ins Verderben reißen.

Mit Pragens Erscheinen hatte die Münchner Außenstelle ihre von Köln vorgegebene Trägheit und Passivität verlernt. Standen keine akuten Nachforschungen an, wurden die verstaubten Verfassungsschutzberichte der vergangenen Jahre aus dem Keller geholt oder die Fallakten zurückliegender Ermittlungen zur Revision geöffnet. In regelmäßigen Abständen fuhr Pragen mit den Schätzen seiner Wunderkammer zu den zentralen Datenarchiven in Köln und Grafschaft-Gelsdorf, um Irrtümer aufzuklären, Warnungen auszusprechen und mit seinen Kollegen über die Definition von Wahrheit und Wahrhaftigkeit zu streiten. Seine Abwesenheit drosselte den Münchner Gefechtseifer auf ein verträgliches Maß. Neben dem kaum nervenaufreibenden Tagesgeschäft herrschte dort, bis die Rückkehr des Meisters den Arbeitssturm erneut entfachte, beschauliches Laisser-faire und zeitiger Dienstschluss.

In Pragens engstem Beraterkreis wurde in allen gängigen Redewendungen das Wort ›Licht‹ durch ›Helllicht‹ vertauscht, und es kursierte ein Flüsterwitz, der Gottes Verdienst um die Trennung von Licht und Finsternis, in den Schatten von Pragens Helllichter-Programm stellte. Als sei der Blasphemie damit nicht genug, spöttelte man darüber hinaus, dass die blauweiße Fackel des Südens inzwischen helllichterer leuchte als das Kölner Original. Pragen billigte diesen Klamauk, wenngleich er selbst nie die Miene verzog.

Obwohl seine Sammlung aus gläsernen Menschen und fixen Gedankengebäuden bereits zu einer dicht bevölkerten Stadt herangereift war, gab es Pragens Meinung nach immer noch zu viele dunkle Ecken und Gassen in dem Gewirr aus menschlichen Begierden und systematischen Fehlkakulationen. Um das Bild seiner Welt zu vervollständigen, pflegte er Kopfgeldlisten mit den Namen aller für ihn undurchsichtigen und zweifelhaften Grautreter und wies seine Offiziere und Unteroffiziere an, wo immer es ihnen möglich war, Kontakte herzustellen und Informationen zu sammeln. Wer es schaffte, mit einem der anvisierten Ziele Tuchfühlung aufzunehmen, wurde somit zu einer wichtigen strategischen Besetzung in Pragens Sinfonieorchester.

Heinrich hatte an jenem Morgen, als Pragen und er das Gasthaus in Oberstdorf verlassen hatten, jedenfalls keine Nachricht von Wilhelm erhalten. Falls es tatsächlich eine schriftliche Mitteilung gegeben haben sollte und die Rezeption die Weiterleitung nicht versäumt hatte, musste sie Pragen bei der Bezahlung zu treuen Händen für seinen Kameraden übergeben worden sein. In diesem Licht eröffnete sich Heinrich eine unangenehme Perspektive auf Pragens Rolle an dem damaligen Morgen.

Heinrich war damals wie verabredet um sieben Uhr im Speisesaal erschienen und hatte auf der Bank Platz genommen, auf der Wilhelm am Abend zuvor gesessen hatte. Von dieser Position aus konnte man eine große, alte Standuhr sehen, deren Pendel bei genauem Lauschen jede verstreichende Sekunde mit einem leisen klopfenden Laut kommentierte. Heinrich bemerkte, dass er fünf Minuten zu früh war, und wartete unruhig darauf, dass der Minutenzeiger seinen Weg zum Zenit abschloss. Er rechnete fest mit Wilhelms pünktlichem Erscheinen. Die Zeit verging und der Speisesaal füllte sich mit Gästen, die mit ihrem Gerede, Scharren, Schlürfen, Knistern und Klappern das leise Klopfen des Pendels verdrängten. Doch Heinrich zählte im Takt der Pendelschwingungen stumm die Sekunden weiter.

Kurz vor acht gesellte sich Pragen zu ihm, und gab, nachdem er sich eine Zeitung und ein üppiges Frühstück bestellt hatte, beiläufig bekannt, dass die Rechnung bereits beglichen sei und einem raschen Aufbruch nichts mehr im Wege stehe. Heinrich nickte alles brav, aber kommentarlos ab. Er konnte die Tür nicht aus den Augen lassen und überlegte ständig, was Wilhelm wohl dazwischen geraten sein könnte oder ob dieser ihn einfach versetzt habe. Eine kleine Gruppe von vier Soldaten – alle ihres Zeichens nach Gebirgsjäger – ließ Heinrich kurz hoffen, doch Wilhelm war nicht unter ihnen.

Heinrichs suchender Blick lenkte auch seines Begleiters Aufmerksamkeit von den Schlagzeilen des Südens auf den Soldatentrupp, der auffallend reserviert, fast kleinlaut an einem der Tische Platz genommen hatte. Pragen musterte die Soldaten kurz, doch unverhohlen skeptisch, angelte sein Notizbuch aus seiner Jackentasche und legte es offen vor sich hin. Es war die Kopfgeldliste für die Meissmann-Akte. Heinrich hatte seine Limonade bereits ausgetrunken und hantierte gerade mit seinem Teesieb, als Pragen auf einen Namen deutete und das Büchlein über den Tisch schob, sodass Heinrich den Eintrag lesen konnte: »Hptm W. Fenner ’63 (GebJgBtl 1/233)«.

Fenner sei einer von Meissmanns Zöglingen und genieße unter dessen Schutz eine Reihe von Sonderprivilegien, erklärte Pragen. Er habe erfahren, dass Fenner letzte Nacht hier Quartier bezogen habe. Ob Heinrich ihm begegnet sei. »Flüchtig«, hatte Heinrich damals geantwortet und sich hastig in die Bergung seines Teesiebs vertieft, wobei er sich jedoch so ungeschickt anstellte, dass die Blätter schließlich allesamt lose in seinem Getränk herumschwammen. Beim Versuch die Blätter herauszufischen, verbrannte er sich die Finger und in eine unappetitliche Laubpfütze verwandelte. Ohne Heinrichs Malheur zu kommentieren, hatte Pragen sein Notizbuch aus der Gefahrenzone gerettet, in der Heinrich immer noch uneins mit dem Teesieb zu sein schien.

Heinrich wurde fahrig bei der Vorstellung, dass Pragen ihn bestohlen haben könnte und dass er in dessen Augen möglicherweise leidlich mehr als ein Name auf einer Kopfgeldliste war. Wilhelm hatte – wie leider viel zu oft – recht behalten. Der Dienstvorschrift fehlte eine verbindliche Idee von Moral und Redlichkeit.

Der Vorfall lag jedoch drei lange Jahre zurück und entzog sich, da die Geschichte in der Erinnerung der beteiligten Personen wahrscheinlich längst zu Staub und Asche zerfallen war, einer einfachen Aufklärung. Heinrich beschloss, die Angelegenheit in ungeklärtem Frieden ruhen zu lassen, denn glücklicherweise hatte das Schicksal die verlorene Nachricht durch das Arrangement einer erneuten zufälligen Begegnung wieder wettgemacht.

Heinrich schob Wilhelms Leben in den großen, braunen Umschlag zurück und ergab sich ganz dem lieblichen Gedanken, dass dieser ihn damals trotz seiner ›von Mutter Natur nicht allzu gut gemeinten‹ Statur tatsächlich nicht versetzt hatte. Er schüttelte den Kopf und hätte über seine gekränkte Eitelkeit lachen mögen, wenn ihm nicht so sehr nach Weinen zumute gewesen wäre. Da er sich jedoch nicht entscheiden konnte, tat er beides und beides nicht.

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