Edelweiß - Eine Geschichte über zwei Freunde mit nur einer Seele. https://www.adamsakte.de/ de Liste der Winter https://www.adamsakte.de/Tagebuch/Kennenlernen <span class="field field--name-title field--type-string field--label-hidden">Liste der Winter</span> <span class="field field--name-uid field--type-entity-reference field--label-hidden"><span>eloroke</span></span> <span class="field field--name-created field--type-created field--label-hidden">Mi., 15.03.2023 - 19:29</span> <div class="clearfix text-formatted field field--name-body field--type-text-with-summary field--label-hidden field__item"><p>Ich habe schon immer Listen geschrieben. Eine Liste der Dinge, die ich mag, und eine Liste der Dinge, die ich nicht mag. Eine Liste der Dinge, die ich tun würde, wenn ich nur noch eine Minute zu leben hätte, und eine Liste der Dinge, die außer mir niemand sieht. Eine Namensliste, eine Bücherliste und eine Regelliste. Eine Liste für Länder, eine Liste für Städte, eine Liste für Berge, eine Liste für Seen und Flüsse und Wälder. Silben-, Buchstaben- und Zahlenlisten. Und natürlich eine Liste der Listen. Dies war meine Art, die Dinge zu begreifen, zu ordnen und zu sammeln. Ich hatte über hundert solcher Listen, stapelweise Papier übersät mit kleinen, eng nebeneinandersitzenden Buchstaben.</p> <p>Nachdem ich mir aus den Ausmusterungsbeständen der Murnauer Feldjäger diesen Computer gekauft hatte, wusste ich zunächst nichts damit anzufangen und nahm mir als erste Übung vor, meine gesammelten Listen in das Gerät zu übertragen. Doch die Listen waren über die Jahre hinweg bedeutungslos geworden, weswegen ich sie schließlich, anstatt sie abzutippen, zu den Holzscheiten in meinem Ofen warf.</p> <p>Heute möchte ich eine neue Liste anfangen. Sie unterscheidet sich von meinen bisherigen Listen nicht nur dadurch, dass ich sie mit einem Computer schreibe, sondern auch dadurch, dass ich darin nicht einzelne, bedeutungslose Dinge, sondern die wichtigsten Ereignisse meines Lebens festhalte. Deshalb habe ich, als mich der Computer aufforderte, der Datei einen Namen zu geben, das Wort ›Tagebuch‹ in das leere Textfeld eingegeben.</p> <p>Der Vorfall, mit dem ich diese Liste beginnen möchte, ereignete sich gestern Abend. Ich habe seither weder etwas gegessen noch geschlafen und es fällt mir schwer, mich auf meine Arbeit oder die Dinge um mich herum zu konzentrieren. Ich habe fast das Gefühl, nicht mehr ich selbst zu sein. Vielleicht ist aber auch genau das Gegenteil der Fall. Vielleicht bin ich zum ersten Mal nach langer Zeit wieder ich selbst, ein Selbst, das zusammen mit Tomo aufgehört hat zu existieren. Denn obwohl er nur ein Schatten war, hatte ich das Gefühl, alles zu verlieren, als das Schicksal uns trennte.</p> <p>Ich hatte mich so sehr daran gewöhnt, jeden Erfolg und jedes Unglück mit ihm zu teilen, dass ich Freude und Schmerz erst dann wirklich empfand, nachdem ich Tomo in meine Erlebnisse eingeweiht hatte. Das, was uns verband, ist in einer Sprache, die zwar Worte für ›mein‹ und ›dein‹ hat, aber nicht zwischen verschiedenen Formen von Besitz und Zugehörigkeit unterscheidet, schwer zu erklären. Es war, als wäre der eine Teil des anderen, eine Art inständige Unverlierbarkeit. Ich würde es als Liebe bezeichnen, wenn ich mit diesem Begriff etwas mehr anzufangen wüsste, aber selbst Falk zweifelt an meiner Fähigkeit, mich zu verlieben, und auf seine Menschenkenntnis ist normalerweise Verlass. Seine Selbsteinschätzung, derzufolge er der witzigste und beliebteste Typ am ganzen Standort ist, kann ich jedenfalls insofern bestätigen, dass sein Wechsel in meine Stabsabteilung meinem Zug zu einem unheimlichen Prestigezuwachs verholfen hat. Galten wir vorher als elitär und überheblich, gelten wir nun als elitär, überheblich und cool.</p> <p>Falks Versuche, schicksalsfügend in mein Liebesleben einzugreifen, schlugen bisher allerdings allesamt fehl. Mehr als ein Mal habe ich mir Vorwürfe wegen mangelnder Mitarbeit anhören müssen und jedes Mal zu recht. Leider ist Falk weder besonders nachtragend noch leicht verzagt. Deswegen versucht er es immer wieder aufs Neue. Die gestrige Begegnung geht allerdings nicht auf seine Kappe, sondern ergab sich aus einem ebenso unglücklichen wie glücklichen Zusammenspiel von höheren Naturgewalten, menschlichem Despotismus und meiner inzwischen zu einem fast krankhaften Zwang ausgewachsenen Ungeselligkeit.</p> <p>Nach einem vorzeitigen, überraschenden Wintereinbruch über dem zentralen Hauptkamm der Allgäuer Alpen ging die vermutlich weit überspitzte Rede um, die Westrouten der Trettachspitze seien mit einer Schicht aus hauchdünnem Eis und feinem Schneepulver überzogen und derzeit nicht begehbar. Diese Warnung der Meteorologen und des Alpenvereins an unvorbereitete Saisonkletterer und Kurgäste weckte unseren etwa siebzig Luftkilometer weiter östlich gelegenen Gebirgsjägerstandort aus seiner Spätsommerlethargie zu neuen Taten. Die Wendung ›nicht begehbar‹ flammte wie ein Lauffeuer durch die Stuben und Heime, bis sie schließlich auch den Kantinentisch in Brand setzte, an dem ich gerade zu Mittag aß.</p> <p>»Geht nicht, gibt’s bei uns nicht«, empörte sich Gunnar und kramte seinen Taschenkalender hervor, um nachzusehen, welche Termine er absagen musste, um stattdessen in den seiner Meinung nach vorschnell als unbegehbar deklarierten Rissen der Allgäuer Alpen herumzusteigen.</p> <p>»Alles eine Frage des Materials und des Könnens. Ich möchte kein Bergführer sein, wenn ich es wegen einer Schicht Reif und Frost nicht auf den Gipfel schaffen sollte«, pflichtete ihm André bei und klopfte auf sein mit zwei Spitzhacken und einem Seilkranz verziertes Edelweißemblem.</p> <p>Auch Falk hatte Feuer gefangen: »Nicht nur Glaube versetzt Berge«, tönte er und spannte kampfeslustig seine Muskeln an: »Ich übernehme den Vorstieg. Wann geht’s los?« Er verschränkte seine Arme über der Brust, nickte selbstgefällig und sah mich fragend an. Auch Andrés und Gunnars erwartungsvolle Blicke waren nun auf mich und den Spaghettikrangel auf meiner Gabel gerichtet, denn sie brauchten jemanden, der um den Segen unseres Bataillonskommandeurs bettelte und dessen Unmut ertrug, falls etwas quergehen sollte.</p> <p>»Hört sich machbar an – aber lasst uns noch in Ruhe zu Ende essen, bevor wir aufbrechen«, sagte ich endlich und löste damit einen wahren Freudentaumel aus, als hätte mein Einverständnis dem Sommer den endgültigen Todesstoß verpasst und den lang ersehnten Winter eingeläutet. Obwohl die Unternehmung nur als alberne Juxerei betrachtet werden konnte, würden unsere Steigeisen, Skier, Felle, Eisgeräte, Schneetrittlinge und Lawinenschaufeln nun endlich wieder frischen Schnee anstatt Gletscherfirn vom Vorjahr zu fassen kriegen. Dabei war erst September, gerade noch so jedenfalls.</p> <p>Unsere kleine Exkursion in das etwa zweieinhalb Autostunden entfernte Oberstdorf, wo wir uns an den vereisten Rissen der Trettacher Westwand versuchen wollten, war schnell geplant. Die acht Mann starke Seilschaft bestand aus vier erfahrenen Bergführern des Mittenwalder Gebirgsjägerbataillons, zwei jungen Aspiranten aus dem Hochzug der ersten Kompanie, einem weiteren Mitglied aus der von mir geführten Stabsabteilung für Sicherheit in Fels, Eis und Schnee und Ferdinand Strefler, Falks bestem Freund. Da wir eine Verschneidung mit den Kurgästen und Freizeitalpinisten vermeiden wollten, hielten wir es für ratsam, noch am selben Tag aufzubrechen und uns für eine Nacht in einem Gasthof einzuquartieren. So konnten wir uns einen ersten Überblick über die Schneelage verschaffen und noch vor dem ersten Tageslicht des nächsten Morgens ins Gebirge abmarschieren.</p> <p>Gesagt war fast getan. Aber eben nur fast. Wir hatten zwei Autos und einen kleinen Geländetransporter klargemacht und standen bereits in voller Montur zum Aufbruch bereit, als uns Heidt doch noch einen Strich durch die Rechnung machte, indem er unsere Truppe um zwei Bonner Hochwürden erweiterte, die vom Klettern ein bisschen was, aber nicht allzu viel verstanden und die den Wunsch geäußert hatten, an einer winterlichen Gebirgsexpedition teilnehmen zu wollen. Da sie wichtige Ämter im Ministerialstab der Hardthöhe bekleideten und als militärpolitische Förderer der Gebirgsdivision galten, war ihr Wunsch für unseren Bataillonskommandeur Befehl und Heidt kam diesem Befehl eilfertig nach, indem er uns mir nichts, dir nichts die beiden Lamettaträger an die Fersen band.</p> <p>Die Herrschaften hatten wohl in ihren Dienststuben auf der Hardthöhe nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen gewusst, als den Wetterbericht im Radio abzuhören, und wollten nun auch beim ersten Rieselschnee und Glatteis dabei sein. Sie würden hierzu eigens mit einer Maschine der Luftwaffe über den Fliegerhorst Penzing anreisen und gleich am nächsten Tag um acht Uhr morgens zu unserer Seilschaft aufschließen. Obwohl diese späte Zeitvorgabe unsere Marschplanung ruinierte, versuchte ich erst gar keinen Aufstand, sondern übte mich in soldatischem Gehorsam. Heidt stand offenbar unter Druck und würde nicht davon abweichen, diesen auf die Schultern seiner Untergebenen umzulagern. Da unsere Unternehmung ohnehin aus dem Gedanken heraus geboren worden war, das Unmögliche zu probieren, passte diese zusätzliche Erschwernis gar nicht so schlecht in unser Konzept.</p> <p>Als wir Oberstdorf erreichten, konnten wir den Schnee schon riechen. Obwohl das Tal selbst unter einem Flickenteppich aus buntem Herbstlaub begraben lag, hatte es an den Hängen bis auf unter tausend Meter runtergeschneit. Die Welt über unseren Köpfen leuchtete in den verschiedensten Weißtönen. Kurz nach dem Ortseingangsschild trennte sich unsere Gruppe auf. André und Gunnar fuhren mit der gesamten Mannschaft zu der Herberge, die wir für unser Nachtlager auserkoren hatten, während Falk und ich das Lenkrad unseres Transporters Richtung Bergwelt einschlugen. Der Plan zur Rettung unseres aus den Fugen geratenen Zeitkonzepts war einfach: Wir würden das schwere Material bereits am Vorabend zum ersten Etappenposten bringen und es dort eine Nacht lang biwakieren lassen, um den Marsch am darauffolgenden Morgen dank des leichten Gepäcks mit einem ordentlichen Tempo beginnen zu können. Wir hatten immerhin vier verlorene Stunden wettzumachen. Das schien zwar selbst mit zackigem Schritt, kurzen Rastzeiten und einer gehörigen Portion Glück schwer machbar, doch war es ohnehin nicht an uns zu bestimmen, was machbar war und was nicht. Das durfte nur der Berg entscheiden, und hatte er erst einmal eine Entscheidung getroffen, war sie unanfechtbar. Das musste ein Gebirgsjäger ebenso hinnehmen wie eine Gämse, ein Adler oder eine Schneefliege.</p> <p>Kurz oberhalb der Schneegrenze hielten wir an, luden den Wagen aus und verschnürten alles, was über Nacht am Berg bleiben sollte, mit einer festen Kunststoffplane und einem dünnen Seil zu einem strammen, olivgrünen Bündel. Nachdem wir zu guter Letzt noch ein Paar Ski an der Unterseite befestigt hatten, damit sich das schwere Paket möglichst reibungslos über den Schnee ziehen ließ, schickte ich Falk zurück ins Tal, um den anderen Meldung über die Schneelage zu machen und sich mit unseren Kameraden von der Luftwaffe in Verbindung zu setzen. Er sollte sich nach den Details des für den nächsten Morgen anberaumten Verkehrs zwischen Bonn und Penzing erkundigen und dafür Sorge tragen, dass die beiden Bonner Stabsoffiziere nach ihrer Landung schnellstmöglich an den vereinbarten Treffpunkt in Oberstdorf verbracht würden. Ich hoffte auf einen Helikopter, damit sich unser Aufbruch nicht durch Glatteis oder Stau auf den Straßen noch weiter verzögern würde. Falk versicherte mir mit einem scherzhaften Aye-Aye, dass er sich um alles kümmern werde, sprang auf den Fahrersitz unseres Geländewagens und ließ mich mit dem selbstgebastelten Schlitten an dem verschneiten Berghang zurück.</p> <p>Als Falk außer Sichtweite war, legte ich mir die losen Seilenden wie Zaumzeug um die Hüften und zog den Schlitten den Hang hinauf. Der frisch gefallene, lockere Schnee dachte nicht daran, es mir leicht zu machen. Ich versank bis zu den Knien darin und jeder Schritt nach vorne bedeutete einen halben zurück. Doch ich blieb stur und setzte beharrlich einen Fuß vor den anderen. Erst als der Weg so steil und tückisch wurde, dass ich trotz größter Kraftanstrengung nahezu auf der Stelle trat, legte ich das Zaumzeug ab, kletterte mit zehn Meter Schlappseil den Hang hinauf und holte den Schlitten, nachdem ich einen guten Stand gefunden hatte, über einen improvisierten Flaschenzug nach. Es war eine mühsame, aber zugleich wohltuende Plackerei.</p> <p>Einmal verkeilten sich die Kufen und einmal kippte der gesamte Schlitten auf die Seite, aber ich gewann zunehmend an Höhe und die Beschwerlichkeit versüßte mir den Sieg. Als ich auf diese Weise endlich eine schneefreie Wand erreichte, an der sich das Gepäck gut vertäuen ließ, richtete ich etwa zehn Meter über dem Boden einen Stand ein und band dort unsere Ausrüstung mit ordentlich vielen Wandnägeln, Klemmkeilen und Seilmetern in den Fels.</p> <p>Es dämmerte bereits, als ich mit meinen Vorbereitungen am Berg fertig war. Im Dorf wurde in den Stuben vermutlich längst mit künstlichem Licht der langsam einsetzenden Dunkelheit entgegengewirkt, während sich die Bewohner an den Kaminkacheln wärmten und zu Abend aßen. Doch das war alles noch viel zu weit weg, als dass es mich hätte berühren können. Ich sah nur einen bedeckten Himmel und eine in grauen Schatten versinkende Bergwelt, die nun, da sich die Menschen in den schützenden Schoß des Tales und dort in ihre Behausungen verkrochen hatten, mir allein gehörte. Die Luft war angenehm frostig und der raue Fels ruhte friedlich unter seinem neu erworbenen Mantel aus Schnee und Eis. Ohne große Hast – denn mich zog nichts zurück ins Tal und Eile ist mir von Natur aus fremd – verstaute ich meine Ausrüstung im Rucksack, nahm mein Seil auf, schnallte die Skier, die dem Schlitten als Kufen gedient hatten, an meine Füße, streifte mir ein Paar Handschuhe über und zog meine Mütze tief ins Gesicht.</p> <p>Alles war bereit. Ich hätte mich nur leicht nach vorne neigen müssen, um auf den frisch gewachsten Brettern in die Tiefe zu rauschen. Doch ich verharrte einen Moment und beobachtete, wie die diffusen Konturen der Berge, genährt von den sterblichen Überresten des vergangenen Tages, über sich selbst hinauswuchsen und die Luft dunkel färbten. Schon am nächsten Morgen würden die Sonnenstrahlen die Oberhand über die Welt zurückgewinnen und alle Schatten tauen. Ich ließ die Zeit verstreichen, ohne sie zu zählen. Erst als der Mond sein blasses Gesicht durch den milchigen Wolkenschleier schimmern ließ, löste ich meinen Blick vom Himmel. Ich schaute auf den steil abfallenden Berghang zu meinen Füßen und verspürte einen tröstlichen Sog. Doch gerade als ich dem Ruf in die Tiefe folgen wollte, knisterte mein Funkgerät.</p> <p>Es war Falk. Er hatte alles wie besprochen erledigt und die Nachrichten aus Penzing gaben Grund zur Hoffnung. Ich bedankte mich für seinen Einsatz, bevor ich ihn in seinen wohlverdienten Feierabend entließ. Nach einem jauchzenden Joho, das auf meiner Seite der Leitung als dünnes Echo durch die Bergschlucht hallte, fragte mich Falk, ob ich ihn und die anderen später auf ihrem Streifzug durch die Altstadt des Nachbardörfchens Sonthofen begleiten wolle. Natürlich wollte ich das nicht. Auch der Hinweis, dass wir am nächsten Morgen ausschlafen konnten, konnte mich nicht umstimmen. Als ich ihm dies nach etlichem Hin- und Hergefunke über die Relaisstationen des Alpenvereins endlich klargemacht hatte, wies er mich nachdrücklich darauf hin, dass ich durch meine ständige Neinsagerei mittelfristig auf eine schwere und langfristig auf eine endgültige Unvermittelbarkeit zusteuere. Ich versicherte ihn meines vollen Bewusstseins über den Ernst der Lage und erinnerte ihn an den Stapel Berichte, die noch auf meine Durchsicht warteten und die ich mir als Gute-Nacht-Lektüre <em>ein</em>gepackt hatte. Wenn ich mich ranhielt, würden sie noch rechtzeitig zum Quartalsschluss in die Registratur eingehen können, wo sie zwar nicht gelesen, aber von pflichtbeflissenen Händen entgegengenommen und abgeheftet würden.</p> <p>Obwohl er wusste, dass die Bearbeitung der Berichte nicht wirklich pressierte, ließ Falk die Ausrede gelten und ich entging der lästigen Kameradenpflicht, meinen Abend in einem verrauchten Wirtshaus oder einem lärmenden Tanzlokal abzusitzen und mir dort langweilige Alltagsgeschichten anzuhören. Nicht dass mein eigenes Leben sonderlich viel spannender wäre, aber es ist eben mein Leben. Als sich Falk schließlich mit ›Over und Ende‹ von mir verabschiedete, klangen seine Worte in meinen Ohren wie der erlösende letzte Segensspruch nach einer langen Bergpredigt.</p> <p>»Eins noch«, quäkte es jedoch plötzlich hektisch durch den Lautsprecher meines Funkgeräts: »Wir haben Gesellschaft. Zwei Lakaien des Ministeriums sind in derselben Herberge wie wir abgestiegen. Ist das ein Zufall?« Da ich mir jedoch ebenfalls keinen Reim darauf machen konnte, aus welchem Grund es zwei Agenten des militärischen Geheimdienstes nach Oberstdorf verschlagen hatte, konnte ich Falk nur raten, sich ausnahmsweise zu benehmen, bevor ich das Stellrad meines Funkempfängers auf Aus drehte. Dann ließ ich mich fallen und ein eisiges Zischen zerteilte die einsame Stille, als meine Skier durch die weiche Schneedecke schnitten. Dieses zischende Geräusch begleitete mich auf meinem Weg ins Tal und wurde nur unterbrochen, wenn ich die scharfen Eisenkanten gegen den Berg stemmte und der unter meinem Gewicht zusammengedrückte Schnee aufächzte oder wenn ich durch ein schnelles Wendemanöver eine kleine Schneelawine auslöste, die daraufhin leise den Hang hinab rieselte. Es dauerte nicht lang, bis ich die Baumgrenze erreichte, wo sich bereits erste tiefdunkle Schatten als Vorboten der Nacht versammelt hatten. Meine Augen gewöhnten sich schnell an das spärliche Licht. Mit voller Fahrt preschte ich durch das tiefhängende Geäst der hohen Tannen und schüttelte dabei den jungen Schnee von den Zweigen, während ich mit der Nacht um die Wette lief.</p> <p>Unterhalb der Tausendmetermarke wurde die Schneedecke jedoch bald zu dünn, um mich tragen zu können, und es blieb mir nichts weiter übrig, als meine Skier abzuschnallen und die letzten Kilometer zu Fuß zurückzulegen. Da mein Rucksack leicht war und ich nur die Skier und ein dünnes Seil als zusätzliches Gepäck hatte, konnte ich ein flottes Tempo vorlegen und erreichte nach nur knapp einer Stunde den Parkplatz unserer Unterkunft.</p> <p>Im Tal gab es keine Spur von Schnee und die Temperaturen waren mild, dennoch bereitete sich auch hier alles auf die Ankunft des Winters vor. Die Brennholzvorräte stapelten sich bis unter das Dach der Herberge und auf der an den Parkplatz angrenzenden Terrasse waren die Sonnenschirme, Tische und Stühle bereits durch Skiständer und Abtrittroste ersetzt worden. Ein umtriebiger Wind zupfte noch schnell die letzten Blätter von den Bäumen, die daraufhin gefangen zwischen Aufwind und Schwerkraft auf und ab schwebten. Das Laub am Boden bewegte sich indessen in spiralförmigen Bahnen um die Mitte des Parkplatzes. Da der Wind jedoch immer wieder innehalten musste, um Luft zu schöpfen, folgte auf jede Welle hektischen Tanzens und Wirbelns ein Moment vollständiger Ruhe, bevor sich die Blätter erneut erhoben.</p> <p>Da der westliche Talkessel inzwischen vollständig unter dem Schatten der Berge begraben lag, waren die Fenster des Gasthofs hell erleuchtet und auch auf dem Parkplatz brannten schummerige Laternen, die den Hof in ein geisterhaftes Zwielicht tauchten. Die Gerippe der halb entlaubten Bäume wippten vor und zurück, während ihre Schatten im Gleichtakt dazu über den Boden glitten. Inmitten dieses Trubels aus gleitenden Schatten und aufgewirbelten Blättern, bemerkte ich plötzlich eine Gestalt. Sie stand reglos am Fuß der Treppe zum hinteren Hoteleingang und starrte in den Himmel. Ihre Ruhe bot einen merkwürdigen Kontrast zu dem aufgeregten Hin und Her der Schatten und dem hektischen Knistern der Blätter.</p> <p>Gegen das Licht der vom Eingangsbereich her schimmernden Laternen erschien die schmale, hochgewachsene Gestalt selbst fast wie ein Schatten, doch durch Falks Aufregung vorgewarnt glaubte ich, die Dienstuniform eines Lakaien des Verteidigungsministeriums erkennen zu können. Die meisten Einheiten – und mein Standort bildet da keine Ausnahme – hegen einen geradezu pathologischen Argwohn gegenüber dem militärischen Geheimdienst: Er gilt als Exekutivorgan der Bürokraten und seine Agenten als Augen und Ohren der Hardthöhe. Da ich selbst bisher nur wenig mit den Herren in den dunklen Anzügen zu schaffen gehabt habe, weiß ich nicht, ob das allgemeine Misstrauen gerechtfertigt ist oder nicht, und versuche auf der Hut zu bleiben, ohne gleich Gespenster zu sehen. Ich fand die Anwesenheit der Agenten in Oberstdorf zwar merkwürdig, sah darin aber keinen Grund zu Besorgnis.</p> <p>Dennoch zögerte ich. Nicht aus Furcht vor den Fühlern der Obrigkeit, sondern weil ich das Gefühl hatte, ein Bild zu zerstören. Als ich jedoch schließlich den Parkplatz betrat, nahm der Lakai des Ministeriums keinerlei Notiz von mir und ließ sich weder durch das Klirren der Karabiner an meinem Hüftgurt noch durch den knirschenden Kies unter meinem Stiefeln aus der Ruhe bringen. Einen kurzen Moment war ich verwirrt, doch am Ende überwog das angenehme Gefühl, ignoriert und somit in Ruhe gelassen zu werden. Im Vorbeigehen versuchte ich dennoch, einen Blick auf ein Verbandsabzeichen, Namensschild oder Ärmelband zu erhaschen, doch der Anzug besaß nichts dergleichen. Er war einfach nur schwarz, leicht tailliert und in tadellosem Zustand. Eine weitere Besonderheit, die mir ins Auge fiel, war ein kleiner, goldener Anstecker an seinem Hemdkragen. Mein Blick war jedoch zu flüchtig, um Genaueres zu erkennen.</p> <p>Ich ging zu einem der Skiständer, wo ich meine Ski sauberbürstete und anschließend die Laufflächen, Riemen und Bindungen mit einem Baumwolllappen sorgsam trockenrieb. Nachdem alles poliert war, überprüfte ich die Wachsschicht auf schadhafte Stellen und fand an der Schaufel meines linken Skiers eine tiefe Schramme. Ich hatte die Schneedecke auf dem Weg nach unten zu sehr ausgereizt. Ich besserte die Stelle notdürftig aus und zog abschließend die Stahlkanten ab, sodass die Skier für die Tour am nächsten Tag einsatzbereit waren.</p> <p>Erst als ich von meiner Arbeit aufschaute, bemerkte ich, wie düster es inzwischen geworden war. Der Himmel glühte zwar in verschiedenen Rot- und Blautönen, ein Nachhall der längst hinter den Bergen versunkenen Sonne, aber im Tal war es inzwischen so dunkel, dass die Umrisse der Figur am Fuß der Treppe zum Hintereingang des Hotels fast vollständig mit der Dämmerung verschmolzen. Hätte man im Licht der Parkplatzlaternen nicht das blasse Gesicht und weiße Hemd der Person gesehen, wäre sie vollkommen unsichtbar gewesen.</p> <p>Sie hatte sich offenbar seit meiner Ankunft nicht von der Stelle bewegt, sondern stand da wie eine Statue aus schwarzem Stein mit einer weißen Maske. Auch ohne die Gerüchte über den militärischen Abschirmdienst kam mir die Person inzwischen gespenstig vor und vielleicht war das der Grund dafür, dass ich plötzlich an Tomo denken musste. Ich schob den Gedanken jedoch beiseite und fuhr noch einmal mit meinem Finger über den schartigen Ski, den ich gleich bei meiner Heimkehr nach Mittenwald in die Instandsetzung geben musste.</p> <p>Ich ließ es damit vorerst bewenden und ging den Rest meiner Ausrüstung durch. Da mein Seil trotz Imprägnierung ein wenig Feuchtigkeit aufgenommen hatte, räumte ich es in einen kleinen Holzverschlag neben der Kellertreppe und legte es dort auf einem Regalboden zum Trocknen aus. Danach trat ich wieder auf den Parkplatz hinaus und ließ den Riegel der knarrenden Schuppentür hinter mir zufallen. Es hätte mich inzwischen gewundert, wenn sich die Statue bewegt hätte. Da sie sich jedoch nicht von mir stören ließ, ließ ich mich ebenfalls nicht von ihr stören und befreite mich aus meinem Gurtzeug, das mit Karabinern, Klemmkeilen, Mauerhaken und Bandschlingen bestückt war. Jede meiner Bewegungen klirrte wie die Türglöckchen eines Gemüseladens. Trotzdem sortierte ich noch schnell meine Materialschlaufen neu, bevor ich das Scheppern, Klingen, Klappern und Singen zum Schweigen brachte, indem ich das ganze Geschirr in meiner Tasche verstaute. Ich schulterte meinen Rucksack und ging auf den Eingang zu.</p> <p>Nun kam zum ersten Mal Leben in die Statue. Sie rückte ein Stück zur Seite, um die Treppe für mich freizugeben, und nickte flüchtig. Ich nickte ebenso flüchtig zurück und erhaschte dabei einen weiteren Blick auf die Uniform und den goldenen Anstecker. Der Adler, den ich daraufhin am Hemdkragen erkannte, sagte mir nichts. Vielleicht war er das nachrichtendienstliche Pendant zu Kragenspiegel und Truppenabzeichen. Der silberne Doppelwinkel auf den schwarzen Schulterklappen, der seinen Träger als Oberfeldwebel auszeichnete, war mir hingegen vertraut. Viel interessanter war jedoch die Entdeckung, die ich machte, als ich dem Blick des Oberfeldwebels folgte. Ich musste allerdings zwei Mal hinsehen, um zu erkennen, dass es sich bei dem riesigen, weißen Vogel, der in den Baumwipfeln Saltos schlug, in Wirklichkeit um eine Plastiktüte handelte, eine einfache, weiße Plastiktüte in der Art, wie man sie Touristen aus Souvenirläden raustragen sieht.</p> <p>Die Tüte hatte sich mit einer ihrer Trageschlaufen im Geäst eines hohen Baumes verfangen und versuchte nun mit aller Kraft, sich wieder loszureißen. Sie blähte sich auf, zappelte wild hin und her und drehte sich um ihre eigene Achse. Doch wie sehr sie sich auch wand und sträubte, die knorrigen Finger der Bäume ließen sie nicht los.</p> <p>Dieser verzweifelte Kampf in der Luft hatte mich für einen kurzen Moment ebenso in seinen Bann gezogen wie den Oberfeldwebel, als ich plötzlich dunkles Stiefelgepolter aus der einen Richtung und laute Stimmen aus einer anderen hörte. Die Schritte, die wie schwere Bergstiefel auf alten Holzdielen klangen, hörte ich hinter der Tür. Die Stimmen, die ich eindeutig Falk und Gunnar zuordnen konnte, kamen von der Terrasse, die zwischen Haupteingang und Parkplatz lag. Unwillkürlich schaute ich mich nach Fluchtmöglichkeiten um, aber der Parkplatz war von einem niedrigen Mäuerchen umgeben und das einzige Versteck war der Holzverschlag, in dem ich meine Ausrüstung zum Trocknen ausgelegt hatte.</p> <p>Die Stimmen wurden lauter und das Stiefelgepolter kam näher. Wenn mich Falk und die anderen persönlich erwischten, würden sie mich nicht so leicht davonkommen lassen wie per Funk. Ich ließ meinen Blick noch einmal über den Parkplatz schweifen und schloss alle Möglichkeiten der Flucht aus bis auf eine.</p> <p>Ich zögerte jedoch, denn ich wusste nicht, wie ich es am besten anstellen sollte. Mir blieb allerdings keine Zeit für lange Überlegungen, denn die Stimmen, die von der Terrasse her kamen, verwandelten sich in dunkle Schatten, die ausladend gestikulierend und laut lachend um die Ecke bogen. Ihre Schritte knirschten auf dem Kies und ich hörte einen Schlüsselbund klingeln. Zu dem Stiefelgepolter hinter der Tür hatten sich inzwischen ebenfalls Stimmen gesellt. Aber erst als sie so nah waren, dass ich verstehen konnte, was sie sagten, gab ich mir einen Ruck, stürzte die Treppe hinunter und ergriff meine einzige Chance: »Was sie wohl denkt?« Meine Frage riss den Oberfeldwebel so unvermittelt aus seinen Gedanken, dass er mich, anstatt mir zu antworten, nur entgeistert ansah.</p> <p>»Die Tüte, meine ich. Was sie wohl denkt?« Ich stellte meinen Rucksack ab und lehnte mich ans Treppengeländer. Ich musste dringend den Anschein erwecken, in eine angeregte Konversation vertieft zu sein. Da der Oberfeldwebel jedoch noch immer nichts sagte, sondern nur seine Augenbrauen hob, wiederholte ich meine Frage: »Was sie wohl denkt? Eine Frage, die ich mir schon als Kind über alles, was sich oben am Himmel bewegt, gestellt habe. Wolken, Vögel–«</p> <p>»Tüten?« Der Oberfeldwebel runzelte nachdenklich seine Stirn und ließ seine Augen im Zickzack über meine Uniform aus dicken Wollsocken, ausgebeulten Kniebundhosen und einer ebenso aus der Form geratenen Feldbluse wandern. Bis auf die schwarzen Bergstiefel und die graue Bergmütze war alles an mir in olivgrüner Farbe. Ich nickte: »Was denkt man dort oben? Es wäre doch Verschwendung, alles zu sehen, aber nichts zu begreifen, alle Freiheit zu haben, aber nichts dabei zu denken oder zu empfinden.« In diesem Moment flog die Tür hinter uns auf und und die von der Terrasse her kommenden Schatten traten ins Licht der Parkplatzlaternen.</p> <p>Ich hatte es noch rechtzeitig geschafft. Falks albernes Gelächter erstarb, als er mich zusammen mit dem Ministeriallakaien am Fuß der Treppe stehen sah, und auch Gunnar wurde plötzlich still. Er warf mir einen skeptischen Blick zu und schloss seine Faust fest um den Autoschlüssel, den er gerade noch hatte um seinen Finger kreisen lassen. André, der in diesem Moment mit dem Rest der Truppe aus dem Hintereingang kam, stutzte kurz, als er mich sah. Er runzelte die Stirn und hob sein Kinn. In seinem Blick lag die Frage, ob alles in Ordnung war. Ich zerstreute seine Sorge mit einem flüchtigen Kopfnicken, bevor ich meinen Rucksack zur Seite schob, um André und die anderen vorbeizulassen.</p> <p>Als ich mich wieder dem Oberfeldwebel zuwandte, lachte ich, als ob er gerade einen guten Witz gemacht hätte und wir alte Vertraute wären: »Wo waren wir stehengeblieben?«</p> <p>Er schüttelte den Kopf: »Ich weiß nicht.«</p> <p>»Ach ja«, stimmte ich ihm zu: »Verschwendete Freiheit.« Ich schaute zu der Tüte. Er folgte meinem Blick: »Freiheit? Ich denke eher an Vergänglichkeit.«</p> <p>»Das liegt vermutlich an der Jahreszeit. Fallendes Laub, fallende Temperaturen, und die Nächte werden länger«, erwiderte ich: »Das macht das Ganze umso deprimierender. Zu sterben, ohne vorher gedacht zu haben.«</p> <p>»Muss man immer etwas denken?«, fragte er.</p> <p>»Was ist die Welt ohne Gedanken«, fragte ich zurück, doch meine Worte gingen im Lärm der sich in Marschbereitschaft setzenden Autokarawane unter. Autotüren wurden zugeschlagen, Motoren angelassen und schließlich die Lenkräder so hart eingeschlagen, dass der Kies unter den Reifen laut aufkreischte. Die Wagen setzten zurück und rollten langsam über den Parkplatz Richtung Ausfahrt. Ich atmete erleichtert auf und sah den roten Rückleuchten hinterher, als mich plötzlich eine Hand an der Schulter berührte: »Sie ist weg!«</p> <p>Ich schaute mich irritiert um. Der Aufbruch der Autokarawane hatte die Choreographie des Windes durcheinandergebracht. Die Blätter, die ursprünglich in einem Wirbelsturm um die Mitte des Parkplatzes gekreist waren, fegten nun ziellos am Boden hin und her, und das Laub, das die ganze Zeit über den Baumkronen auf und ab geflogen war, regnete laut prasselnd auf den Parkplatz herab, als ob jemand den Wind abgeschaltet und die Schwerkraft auf höchste Stufe gestellt hätte. Und tatsächlich, die Tüte war weg. Ich drehte mich nach dem Oberfeldwebel um, der jedoch inzwischen auf den Parkplatz gelaufen war, um nach der Tüte zu suchen.</p> <p>»Sie müsste doch hier irgendwo runtergekommen sein«, rief er mir zu und winkte mich zu sich heran. Er hatte einen Stock vom Boden aufgehoben und stocherte in den losen Laubhaufen. Ich ging zu ihm hinüber und machte ihn darauf aufmerksam, dass es die Tüte überall hin verschlagen haben konnte. So hoch oben und bei dem starken Wind.</p> <p>»Stimmt«, sagte er und sprang mit einem Satz auf die Parkplatzmauer, was ich ihm aufgrund seiner steifen und tadellosen Uniform nicht zugetraut hätte. Als ich ihm nicht gleich folgte, drehte er sich nach mir um und streckte mir seine Hand entgegen. Ich wusste zwar nicht, welchen Zweck es haben sollte, dieser Tüte nachzujagen, aber die ausgestreckte Hand kratzte an meiner Eitelkeit, weswegen ich schließlich ebenfalls mit einem Satz auf die niedrige Mauer sprang.</p> <p>Auf der anderen Seite der Mauer lag eine hügelige Wiese, die vermutlich im Sommer als Weideland genutzt wurde. Sie war zum Tal hin abschüssig und hier und da ragten die Schatten vereinzelter Bäume und Sträucher auf. Ich glaubte, Wasser rauschen zu hören, und ging davon aus, dass sich einer der vielen Gebirgsbäche, die im Tal zu einem großen Fluss zusammenliefen, in der Nähe befinden musste. Zu sehen war der Bach jedoch nicht. Die einzige Besonderheit, die ich in der Dunkelheit ausmachen konnte, war eine Holzhütte, deren Dach gerade so über eine flache Hügelkuppe ragte. Ich wollte gerade etwas sagen, als mir der Oberfeldwebel zuvorkam.</p> <p>»Dort ist sie.« Er zeigte zu der Hütte, wo auch ich gerade die Tüte entdeckt hatte. Sie war prall mit Luft gefüllt und wurde vom Wind gegen die Wand des Hauses gedrückt, wo sie sich nun überschlug und drehte, wie ein Rad, das im Schlamm feststeckte und nicht vorankam. Ich ärgerte mich, dass der Oberfeldwebel die Tüte den Bruchteil einer Sekunde eher als ich entdeckt hatte, aber mir blieb keine Zeit für großes Bedauern, da er bereits von der Mauer gesprungen war und auf die Hütte zu rannte. Ich blieb zunächst auf meinem Aussichtsposten auf der Mauer stehen, aber als er sich nach mir umdrehte, sprang ich schließlich auch auf die Wiese hinab und folgte ihm. Ich hatte das Gefühl, meine Einheit in einem Wettkampf zu vertreten und wollte mich nicht von einem Lakaien des Ministeriums abhängen lassen. Ich holte schnell auf, sodass wir die Hütte gleichzeitig erreichten.</p> <p>Wir waren jedoch zu spät. Die Tüte hatte es inzwischen geschafft, die Wand hoch zu rollen und über das Dach zu fliegen. Wir teilten uns auf und umrundeten die Hütte, damit uns die Tüte nicht entwischen konnte, aber als wir uns auf der anderen Seite der Hütte wieder trafen, konnten wir gerade noch sehen, wie die Tüte in einer geraden Linie Richtung Tal davonrollte.</p> <p>Ich wäre an diesem Punkt umgekehrt, aber der Oberfeldwebel hatte bereits die Verfolgung aufgenommen, also blieb auch mir nichts anderes übrig. Wir rannten, so schnell wir konnten, aber es war, als würden wir zu Fuß einen Fahrradfahrer verfolgen. Der Oberfeldwebel war jedoch zuversichtlich. Er deutete voraus. »Dort, wo sich die beiden Hügel berühren, dreht sich der Wind. Das wird sie verlangsamen. Und wenn wir Glück haben, geht ihr weiter vorne bei den Hecken und Sträuchern die Puste aus.« Seine Stimme klang abgehetzt und ich war froh, dass ich nicht der Einzige war, der Mühe hatte, mit der Tüte Schritt zu halten. Wir sprinteten über die Wiese, holten aber erst auf, als die Tüte schließlich wie von dem Oberfeldwebel vorhergesagt plötzlich von links nach rechts und von rechts nach links geweht wurde. Ihr Zickzacklauf verschaffte uns einen Vorteil, sodass wir sie fast erreichten. Wir verringerten unser Tempo, um Luft zu holen, und warfen uns zuversichtliche Blicke zu.</p> <p>Als die Tüte schließlich wie ebenfalls von dem Oberfeldwebel vorhergesehen immer langsamer wurde, weil die Hecken und Büsche den Wind ausbremsten, kamen wir so nah an sie heran, dass wir sie jederzeit hätten stoppen können. Das taten wir jedoch nicht. Im Gegenteil, als die Tüte an einem Stein hängen blieb, lupfte der Oberfeldwebel sie mit dem Stock an, den er immer noch bei sich trug und immer wieder durch die Luft schwang, damit sie weiterrollen konnte.</p> <p>In diesem Moment erkannte ich, dass wir der Tüte nicht hinterherjagten, um sie zu fangen, sondern um sie zu beobachten. Es war ein Spiel. Und ich fühlte mich frei und dachte an gar nichts.</p> <p>Wir waren jedoch zu selbstsicher geworden, denn die Tüte machte unvermittelt einen Satz und raste über einen niedrigen Hügel und rollte über die Böschung in einen kleinen Fluss. Dort fiel der weiße Ball in sich zusammen und trieb wie eine tote Qualle davon.</p> <p>Natürlich wollte der Oberfeldwebel sofort die Böschung hinabklettern, um die Tüte mit seinem Stock aus dem Wasser zu angeln, aber es gelang mir, ihn davon zu überzeugen, dass es ein Stück flussabwärts, wo das Ufer weniger steil und rutschig war, besser funktionieren würde. Wir rannten den Bachlauf entlang und suchten nach einer geeigneten Stelle. Wir mussten uns nicht beeilen. Der Bach plätscherte in Schrittgeschwindigkeit vor sich hin, sodass wir genügend Zeit hatten, uns ein Plätzchen zu suchen und dort auf die Tüte zu warten. Ich hielt den Oberfeldwebel fest, als er die Böschung so weit hinabkletterte, dass er mithilfe des Stocks bis zur Flussmitte reichen konnte. Alles weitere war ein Kinderspiel. Im wahrsten Sinne des Wortes.</p> <p>Wir schrien zwar beide laut auf, als uns die Tüte zum Dank für ihre Rettung mit einer Ladung Wasser übergoss, aber nach dem ersten Schrecken mussten wir beide lachen. Ich zog den Oberfeldwebel die Böschung hinauf, und nachdem er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, fädelte er den Stock durch die Trageschlaufen der Tüte, schüttelte das Wasser ab und hielt sie wie einen Windsack in die Höhe. »Luv«, sagte er plötzlich unvermittelt und ich dachte zunächst, er meinte die Windseite.</p> <p>»Heinrich Eliot Luv. Oberfeldwebel«, fügte er jedoch schnell hinzu und hielt mir seine Hand hin. Erst jetzt fiel mir wieder ein, dass wir uns noch nicht vorgestellt hatten. Obwohl ich das Gefühl hatte, ihn schon ewig zu kennen, wusste ich noch nicht einmal seinen Namen.</p> <p>Ich zog meine Mütze ab und nahm seine Hand: »Wilhelm Fenner. Hauptmann. Aber für Freunde einfach nur Wilhelm. Darf ich Dich Heinrich oder Eliot nennen?« Als meine Frage bei ihm ein Stirnrunzeln auslöste, fürchtete ich zunächst, ich hätte mich im Ton vergriffen, ihm zu voreilig das Du angeboten oder etwas anderes Dummes getan, doch die Stirnfalten glätteten sich sofort wieder und wichen einem Schmunzeln, das ich zwar ebenso wenig verstand wie das Stirnrunzeln zuvor, aber ich verstehe andere oft nicht.</p> <p>»Eliot?«, fragte er schließlich zögernd.</p> <p>»Okay, Eliot«, bestätigte ich, woraufhin er erneut lachte und die Haare zurückstrich, die ihm der Wind ins Gesicht geweht hatte. Erst jetzt fiel mir auf, wie ungewöhnlich lang seine Haare waren. Meine Haare gelten bereits als lang, wenn sie nur knapp über die Ohren ragen. Eliots Haare bedeckten die Ohren gänzlich und die Ponyfransen ragten so tief in seine Stirn, dass sie ihm in die Augen hingen. Ein eklatanter Widerspruch zu seiner ansonsten tadellos dienstkonformen Aufmachung. Ich fand allerdings, dass das samtige Tiefschwarz seiner Haare gut zu seinem schwarzen Anzug passte. Als ich mich dabei ertappte, wie ich ihn anstarrte, wollte ich mich entschuldigen, stellte jedoch fest, dass er mich nicht weniger eingehend musterte. Seine forschenden Augen erschienen dabei im Dämmerlicht des Abendhimmels so dunkel, dass es aussah, als ob die bevorstehende Nacht durch ihn hindurchschimmern würde.</p> <p>Als er mir jedoch plötzlich direkt in die Augen sah, senkte ich meinen Blick, da ich das Gefühl hatte, dass er das hilflose Chaos in mir sah. Es war beängstigend. Dennoch schaute ich wieder auf und versuchte, seinem durchdringenden Blick standzuhalten. Was er sah, schien ihn jedoch nicht abzuschrecken. Es schien ihn noch nicht einmal zu überraschen, weswegen ich schließlich genauso ungeniert zurückstarrte. Der Abgrund hinter seinen Augen war jedoch so tief und traurig, dass ich meinen Blick erneut abwandte. Es war beängstigend.</p> <p>»Wollen wir?«, fragte ich schließlich. Er nickte und schwang die Wetterfahne noch einmal wie zum Zeichen des Sieges über seinem Kopf, bevor er mit großen Schritten vorausging. Ich blieb noch eine Weile wie angewurzelt stehen und schaute ihm hinterher. Ich hatte mich nie zuvor jemandem so nah gefühlt. Es war beängstigend. Erst als er sich nach mir umdrehte, setzte ich mich ebenfalls in Bewegung und holte seinen Vorsprung mit einem kurzen Sprint wieder auf.</p> <p>Den ersten Teil des Weges legten wir schweigend zurück. Eliot war damit beschäftigt, die Tüte wie eine Fahne in den Wind zu halten, und ich dachte über das nach, was ich gesehen hatte, als ich in seine Seele geblickt hatte. Ich hatte es bereits gefühlt, als wir zusammen über die Wiese gejagt waren. Vielleicht hatte ich es sogar schon gefühlt, als ich den Parkplatz betreten hatte. Oder noch früher, als ich vom Berg ins Tal geblickt hatte. Spätestens jedoch, als wir zusammen schwiegen, wurde das Gefühl, etwas gefunden zu haben, was ich auf keinen Fall verlieren durfte, so übermächtig, dass ich an nichts anderes mehr denken konnte als daran, wie ich es bewahren konnte. Ich hatte allerdings keinen Begriff dafür. Sympathie schien mir zu wenig, Liebe zu viel, Seelenverwandtschaft zu vage. Freundschaft?</p> <p>Unter meinen Arbeitskollegen oder in meinem Bekanntenkreis gibt es sonst niemanden, den ich als Freund bezeichnen würde. Das liegt jedoch nicht an den anderen, sondern an mir. Ich neige von Natur aus nicht zur Freundschaft, weil mir die Gegenwart anderer Personen meistens unangenehm ist. Falk bezeichnet mich als seinen Freund und hat damit sicherlich bis zu einem gewissen Grad recht. Er ist immer um mein Wohlbefinden bemüht und ich schätze ihn als verlässlichen Kletterpartner, aber seine Herzlichkeit irritiert mich und seine Mitteilsamkeit geht mir auf die Nerven.</p> <p>Gunnar hat seine Ausbildung ungefähr zum gleichen Zeitpunkt begonnen wie ich und macht es sich zurzeit in einem der dick gepolsterten Sessel des Ausbildungsstabes bequem. Herzlichkeit könnte man ihm nicht unterstellen und über die Maßen mitteilsam zeigt er sich erst ab dem vierten Bier, was ich zu selten miterlebe, um mich daran zu stören. Aber seine provokante Art und seine Affektiertheit gehen mir ebenso auf die Nerven wie Andrés Regelverliebtheit. André glaubt, immer zu wissen, was zu tun ist und wie. Für alles gibt es eine Vorschrift oder ein Protokoll, egal ob es sich dabei um die Dienstvorschrift oder die zehn Gebote handelt. André kennt alle Regeln der Welt auswendig und wird niemals müde, aus seinem unerschöpflichen Repertoire zu zitieren. André ist schon länger dabei als ich und führt den Hochgebirgsjägerzug. Ich kenne ihn und Gunnar nun schon seit so vielen Jahren, dass ich mich inzwischen, soweit das möglich ist, an ihre Eigenarten gewöhnt habe. Sie gehören wie ich zu Heidts Führungsstab und von daher sehen wir uns fast täglich.</p> <p>Als ich vor nicht ganz zehn Jahren als junger Rekrut an den Mittenwalder Standort der Gebirgsjäger kam, hatte Heidt dort als Kompaniechef das Sagen. Inzwischen befehligt er das gesamte Bataillon. Wir kennen uns nun also bereits seit fast einem Jahrzehnt und er bezeichnet mich als seinen Freund. Soweit es unsere Arbeit für das Bataillon betrifft, kommen wir auch gut miteinander aus, aber wenn er mich zu sich nach Hause in den Kreis seiner Familie einlädt, fühle ich mich unwohl und möchte am liebsten davonlaufen. Selbst bei Oheim, meinem Mentor während meiner Anfangszeit als Soldat, war ich nie richtig entspannt, obwohl ich ihn noch am ehesten als Freund bezeichnen könnte. Er hat mir seine Kletterausrüstung geliehen, mir gute Ratschläge erteilt und mich unter seine Fittiche genommen. Vielleicht wäre ich heute in seiner Gegenwart etwas gelassener, aber er hat das Bataillon bereits vor Jahren verlassen.</p> <p>Generell könnte man sagen, dass ich für Lebensbereiche, die über das Berufliche hinausgehen, nicht tauge, und ich bin vermutlich auch eine der wenigen Personen, die neben Freunden auch Feinde haben. Einen Feind zähle ich mindestens: Professor Meissmann. Ich habe irgendwann als Kind entschieden, dass er mein Feind ist, weil mich seine Gleichgültigkeit genauso verletzt hat wie sein Despotismus. Er wechselte in der Regel zwischen diesen beiden Extremen hin und her. Glücklicherweise berühren sich unsere Leben inzwischen kaum mehr.</p> <p>»Wir werden wohl nie erfahren, was sie denkt«, sagte Eliot plötzlich und schaute auf die Tüte, die immer noch wie eine Wetterfahne an seinem Stock wehte. Ich zuckte mit den Schultern, teils aus Reue, weil ich das Gespräch auf der Treppe ursprünglich nur angefangen hatte, um mich vor anderweitigen Verantwortungen zu drücken, teils aus Unsicherheit, weil ich plötzlich nicht mehr sicher war, ob die Welt ohne Gedanken aufhören würde zu existieren.</p> <p>»Vielleicht hast Du recht«, sagte ich nach einer Weile: »Vielleicht muss man nicht immer etwas denken.«</p> <p>Er lachte. Nicht über mich. Das spürte ich. Er schien eher, über seine eigenen Worte zu lachen: »Vielleicht habe ich das aber nur gesagt, weil ich gerade an nichts denken wollte.«</p> <p>Wir schwiegen, bis wir die Hütte erreichten. Dieses Mal mussten wir uns nicht aufteilen, um der Tüte den Weg abzuschneiden, taten es aber trotzdem. Allerdings ging er dieses Mal hinten herum und ich vorne. Als wir uns kurz darauf auf der anderen Seite der Hütte wieder trafen, fragte ich ihn, was ihn und seinen Kollegen nach Oberstdorf verschlagen hatte.</p> <p>»Meinen Kollegen?«, fragte er.</p> <p>Ich zuckte mit den Schultern und erklärte ihm, dass ich bereits per Funk über die Anwesenheit zweier Agenten des Abschirmdiensts in Kenntnis gesetzt worden war.</p> <p>Er nickte wissend und erzählte mir, dass er mit dem Leiter seiner Dienststelle, Oberstleutnant Kajetan-Lewin Pragen, unterwegs sei. Ich überlegte kurz. Ich hatte den Namen schon gehört. Gerede in der Offiziersmesse. Natürlich erzählte man sich dort nichts Nettes über den Chef des Münchner Ablegers des Lakaienapparats und es war unmöglich auseinanderzuhalten, welche Ressentiments der Person selbst galten und welche dem Amt.</p> <p>»Ich glaube, ich habe bei seiner Amtseinsetzung von ihm reden hören«, sagte ich schließlich. »Es heißt, er sei ein Egozentriker, zu jung für den Job, zu liberal in seinen Ansichten und zu modern in seinen Methoden. Ich frage mich, ob Du diese Vorwürfe bestätigen oder abstreiten kannst oder ob Du Deiner Einheit gegenüber zu loyal bist, um Dich kritisch zu äußern.«</p> <p>Eliot schaute mich an: »Ich frage mich, ob Du nicht derjenige bist, der seiner Einheit gegenüber zu loyal ist, wenn Du auf das Gerede von Leuten hörst, die andere als zu liberal oder zu modern bezeichnen.«</p> <p>»Ich denke, wir stehen auf derselben Seite«, erwiderte ich.</p> <p>»Ich stehe auf keiner Seite.«</p> <p>»Genau dort stehe ich auch.«</p> <p>Eliot lachte: »Ich denke, man nennt ihn zu jung, weil die Militärs lieber einen altgedienten Veteranen anstatt eines Juristen in den besten Jahren auf diesem Platz gesehen hätten. Liberal ist nur ein anderes Wort für unvoreingenommen und modern erscheinen seine Methoden nur denjenigen, die vergessen haben, dass der Dialog schon lange vor unserer Zeit ein wichtiges Mittel der Wahrheitsfindung gewesen war. Eigentlich ist Pragen in dieser Hinsicht sogar eher altmodisch. Anstatt auf das Abhören von Telefonaten oder das Montieren von Überwachungskameras zu setzten, unterhält er sich lieber mit den Leuten von Angesicht zu Angesicht, hört ihnen zu und beobachtet sie.«</p> <p>Der Mann klang gefährlich, aber die Art, wie Eliot über ihn sprach, machte deutlich, wie sehr er ihn bewunderte.</p> <p>»Dass er mit seinen altmodischen – Schrägstrich, modernen – Methoden Erfolg hat, merkt man meistens daran, dass die Leute, mit denen er spricht, anfangen sich zu verteidigen, obwohl er sie überhaupt nicht angegriffen hat.«</p> <p>In der Tat gefährlich, dachte ich und hoffte, dass mir die Bekanntschaft des Herrn Oberstleutnants erspart bleiben würde.</p> <p>»Heute hat er allerdings zu tief in den Ameisenhaufen gestochen.«</p> <p>»In welchen Ameisenhaufen?« Ich war verwundert, doch Eliot nahm mir meine Verwunderung nicht ab, sondern bestand darauf, dass ich über den Grund seiner Anwesenheit vermutlich besser Bescheid wusste als er selbst.</p> <p>»Ein Ameisenhaufen aus Weltkriegsveteranen, Jägern, Parteifunktionären, jungen Soldaten und einem großen Gefolge aus Sympathisanten, der sich auf einem schmalen Grat zwischen Traditionspflege und Verherrlichung von Kriegsverbrechen bewegt und der enge Beziehungen zu den Truppenverbänden der Bundeswehr hegt.« Er deutete auf die Abzeichen an meiner Uniform. »Zu den Gebirgsjägern, um genau zu sein.«</p> <p>»Ist das jetzt Voreingenommenheit?«</p> <p>»Nein, das ist eine begründete Annahme, und begründete Annahmen zu treffen, ist mein Beruf.«</p> <p>»Voreingenommenheit ist ein Beruf?«, fragte ich überrascht.</p> <p>Eliot blieb abrupt stehen und tippte erst auf das Verbandsabzeichen auf meinem Ärmel, dann auf meine Schulterklappen und schließlich auf mein Leistungsabzeichen als Heeresbergführer: »Die Indizien sind erdrückend und es kommt erschwerend hinzu, dass das Ereignis, das Pragen und mich hierhergeführt hat, nur eine viertel Autostunde von hier in Sonthofen stattfindet. Derselbe Ort, wohin Deine Kollegen, wenn ich das vorhin richtig mitbekommen habe, aufgebrochen sind.«</p> <p>Ich schwor, dass ich keinen Schimmer hatte, von welchem Ereignis er sprach.</p> <p>»Hm«, nickte er schließlich, schien aber immer noch skeptisch: »Pragen war auf die jährliche Mitgliederversammlung des Kameradenkreises der Gebirgstruppe eingeladen gewesen, zu der ich ihn als Schriftführer und als zweites Paar Augen und Ohren begleitet habe. Eine Großversammlung. Sie hat bereits gestern begonnen und soll morgen noch weitergehen.« Ich nickte gedankenversunken, schüttelte aber gleich darauf vehement den Kopf. Ja, ich hatte schon von den Kameraden gehört, aber ich wusste nichts von einer Mitgliederversammlung in der Nähe.</p> <p>Nach einem letzten skeptischen Stirnrunzeln lenkte Eliot schließlich ein und erzählte mir in kurzen Sätzen von seinem anstrengenden Tag, und wie es dazu gekommen war: Als Oberstleutnant Pragen eine Einladung zu der Mitgliederversammlung des vom Verfassungsschutz als zweifelhaft eingestuften Kameradenkreises erhalten hatte, hatte der Leiter der Münchner Geheimdienststelle darin eine Chance gewittert, der Gruppierung ein wenig auf den Zahn zu fühlen. Eliot betonte erneut Oberstleutnant Pragens Glaube an das persönliche Gespräch als mächtigste Waffe im Kampf gegen subversive Kräfte und fragte mich, wo man ein solches Geschütz effektiver zum Einsatz bringen könne als auf einer dreitägigen Mitgliederversammlung.</p> <p>Ich wusste die Antwort nicht.</p> <p>»Nirgends«, erklärte Eliot und lachte. Das Lachen ging jedoch in ein Seufzen über, als er von den stundenlangen Gesprächen mit den sogenannten Kameraden berichtete. Sie trauerten in ihrem unverwüstlichen Glauben an ritterliche Tapferkeit dem Heldentum vergangener Tage hinterher und klammerten sich an eine vage Idee von völkischem Stolz und grenzenloser Heimatliebe. Das Tagesprogramm aus Vorträgen und Diashows hatte diese Gesinnung widergespiegelt, indem es Kriegsverbrechen zu Großtaten erklärte, Gräuel vergessen werden ließ und dem verlorenen Krieg ein Klagelied sang. Zwischendurch hatte eine Blaskapelle mit Militärmärschen und Soldatenliedern für etwas Stimmung gesorgt oder es zumindest versucht. Ich nickte und ersparte ihm weitere Erklärungen.</p> <p>Ich hatte zwar bisher nicht besonders viel mit dem Kameradenkreis zu tun gehabt, glaubte jedoch mir den Abend vorstellen zu können. Ich nahm den Kameradenkreis allerdings nicht so ernst, wie er selbst es tat, oder wie es Eliot von Berufs wegen geboten war. Für mich waren die Kameraden nur ein Verein unter vielen. Im Freizeitbüro meines Standorts lag eine lange Vereinsliste aus, ein zwölfseitiges Pamphlet. Es gab den Heimatverein, den Schützenverein, den Skiverein, den Trachtenverein, den Kirchenverein, den Rodelverein, den Veteranenverein, den Alpenverein, den Junggesellenverein und verschiedene Vereine speziell für Soldaten und Angehörige der Bundeswehr. Warum nicht also auch einen Kameradenverein?</p> <p>Diese sogenannten Kameraden begegneten mir zum ersten Mal, als ich während meines ersten Dienstjahres bei Festtagsvorbereitungen im Kasino half und eine Tischreihe für Ehrengäste dekorieren sollte. Ich wusste damals allerdings nicht, für wen ich die Tische mit Blumengestecken in den Nationalfarben, Tischwimpeln und Militärstandarten schmückte.</p> <p>Als die Feier später begann, wartete ich gespannt, wer sich dort hinsetzen würde und war enttäuscht, als sich schließlich eine Riege aus alten Stammtischbrüdern dort niederließ. Wer von ihnen nicht in seiner Reservistenuniform erschienen war, trug eine mit Hirschhornknöpfen verzierte Lodenweste und einen Filzhut, an dem entweder eine Vogelfeder oder ein Pinsel aus zusammengebundenen Tierhaaren steckte. Die Uniformen sahen aus wie neugekauft, was bei den meisten vermutlich auch so war. Denn die meisten Träger waren so beleibt, dass sie diesen Körperumfang unmöglich bereits zu ihren aktiven Zeiten im Dienst besessen haben konnten. Wer also nach der Erweiterung seines Hüftumfangs nicht auf Loden und Filz ausgewichen war, hatte sich zwangsweise eine neue Uniform kaufen müssen.</p> <p>Es gab allerdings auch die Hageren. Ihre Uniformen wirkten älter. Nicht etwa verstaubt oder fadenscheinig, sondern wie Relikte aus einer vergangenen Zeit. Der Farbton war nicht ganz derselbe, wie man ihn heute trug. Das Verbandsabzeichen war kein Oval, sondern hatte die Form eines spitz zulaufenden Ritterschilds. Alle Embleme waren von Hand gestickt und mit einer dicken Silberkordel umrandet.</p> <p>Wie so oft bei dieser Art Feierlichkeiten stand ich unbeteiligt am Rand und zählte die Dinge, bis mich einer der alten Kameraden zu sich herüberrief. Ich hatte das Gehorchen damals gerade frisch gelernt und folgte seiner Aufforderung, ohne groß darüber nachzudenken. Eilfertig trat ich an den Tisch, um zu fragen, wie ich behilflich sein konnte. Ich kam jedoch nicht dazu, mein Satz zu beenden, da mich plötzlich eine dürre, deswegen aber nicht weniger kraftvolle Hand am Kinn packte und meinen Kopf hin und her drehte. Ich zuckte zurück, doch mein Kiefer schien in einem Schraubstock festzustecken.</p> <p>Der Alte hielt mich fest in seinem Griff und befahl seinen Kameraden, mich genau anzusehen. Zwanzig Augenpaare tasteten mich daraufhin prüfend ab und es begann ein eifriges Murmeln. Einer sagte etwas über meine blauen Augen, ein anderer machte sich über meine großen Ohren lustig und wieder ein anderer rief, als mir bei dem Versuch, mich zu befreien, meine Bergmütze vom Kopf rutschte: »Die weißen Haare. Kein Zweifel.«</p> <p>Mit einem heftigen Ruck riss ich mich schließlich los, setzte meine Mütze wieder auf und wich ein paar Schritte zurück. Das Murmeln hatte aufgehört, stattdessen warfen sich die alten Herren bedeutsame Blicke zu. Ihre Gesichter spiegelten dabei die unterschiedlichsten Gefühlsregungen wider: eine Mischung aus Neugierde und Staunen auf der einen Seite, Schrecken auf der anderen.</p> <p>»Dachte ich mir’s doch …«, setzte einer der Herren schließlich an, wurde jedoch mitten im Satz unterbrochen, als sich ein schwerer Arm kameradschaftlich um meine Schultern legte und mich ohne weitere Erklärungen abführte. Der Arm gehörte Hanns Oheim, meinem damaligem Kompaniefeldwebel, der trotz seiner vom Alkohol angeheiterten Laune meine Bedrängnis erkannt hatte und zu meiner Rettung geeilt war.</p> <p>Als ich ihn fragte, was es mit der seltsamen Riege auf sich habe, versicherte er mir, dass ich mir um den Kameradenkreis keine Gedanken machen müsse. Ich hätte doch gesehen, dass sie allesamt sehr betagt und tatterig seien.</p> <p>»Naja, tattrig«, sagte ich und rieb mein Kinn, das gerade noch in einem Schraubstock gesteckt hatte, doch Oheim bestand darauf, dass sich das Problem über kurz oder lang von selbst lösen würde. »Und bis es so weit ist«, fügte er abschließend hinzu, »halte Dich einfach von ihnen fern«, ein Rat, den ich bis heute beherzigt habe. Ich bin nicht ihr erklärter Gegner, ich ignoriere sie einfach nur und gehe ihnen aus dem Weg.</p> <p>Als Eliot fragte, woran ich gerade dachte, schüttelte ich den Kopf und erinnerte ihn daran, dass er mir erzählen wollte, wie Oberstleutnant Pragen zu tief in den Ameisenhaufen gestochen hatte. Er lachte kurz und begann dann mit einem langgezogenen »also« zu erzählen.</p> <p>Man hatte Oberstleutnant Pragen gebeten, etwas zu dem Abendprogramm beizutragen. Die Bitte kam spontan, aber da sich der Oberstleutnant nur ungern überraschen ließ, traf sie ihn nicht unvorbereitet. Im Gegenteil, er hatte den ganzen Abend über brennend auf eine Gelegenheit gewartet, den Verein ein wenig in seiner Selbstgefälligkeit aufzurütteln, und die Bitte um eine kleine Ansprache kam ihm da gerade recht. Er spielte jedoch den Überraschten und ließ sich unter lautem Beifall und ermutigenden Blicken auf die Bühne rufen, wo er schließlich unter dem Vorwand, kein guter Redner zu sein, einen kleinen Gedichtband zückte, um daraus vorzulesen: Wohin laufen wir, wenn die Bomben fallen? Dieses Manifest gegen die von den Kameraden gepflegte Kultur des Vergessens, Bagatellisierens und Verdrehens hatte einen tiefen Keil in die bis dahin einmütige Versammlung getrieben, sodass sich in dem kameradschaftlichen Konsens plötzlich eine Trennlinie zwischen Anschein und Wahrhaftigkeit hatte erahnen lassen. Der eiserne Schulterschluss wurde brüchig und schweigende Stimmen wurden laut. Dieser Moment der Uneinigkeit war jedoch nicht von langer Dauer und auf ein kurzes Raunen, Köpfeschütteln und Blickefeilschen folgte eisernes Schweigen. Wie eine Armee, die in einen Hinterhalt geraten war, aber nach ein paar Kommandos schnell wieder zu einer geschlossenen Formation und gegenseitiger Rückendeckung zurückfand.</p> <p>Als der Oberstleutnant von der Bühne getreten war, hatte nur eine Person Beifall gespendet und Eliots Aussage zufolge, hatte sein einsamer Applaus lauter geklungen als der Beifall der Kameraden, unter dem Pragen die Bühne betreten hatte. Auf jeden Fall sei er aufrichtiger gewesen, versicherte mir Eliot.</p> <p>Die Versammlung war danach etwas verhaltener fortgesetzt worden und hatte sich schließlich vorzeitig aufgelöst. Eliot wusste nicht, wie es am nächsten Tag weitergehen sollte, erwartete jedoch, dass die Kameraden die Nacht nutzen würden, um sich neu zu formieren und zu einem Gegenschlag auszuholen. Auf meine Frage, wie ein solcher Gegenschlag aussehen könnte, seufzte Eliot und gestand, dass für ihn persönlich die schlimmste Strafe darin bestünde, denselben alten Bergsteiger als Tischnachbarn zu haben, neben dem er heute gesessen hatte. Der ehemalige Truppengeneral und Vorsitzende des Ältestenrates des Kameradenkreises habe seine Rolle als ranghöherer Offizier und Gastgeber ausgenutzt, um die ihm untergebenen Gäste stundenlang mit offensichtlich übertriebenen und bestenfalls halbwahren Bergsteigeranekdoten zu quälen.</p> <p>Ich musste lachen, da mir dieser Menschenschlag aus eigenen ähnlich qualvollen Erfahrungen bekannt war. Ich erklärte, dass Seemannsgarn in Berghütten und auf Gebirgstruppenfeiern genauso eifrig gesponnen würde, wie man es Hafenspelunken nachzusagen pflegte. Vermutlich sogar etwas dicker und länger als das seemännische Original. Eliot stimmte in mein Lachen ein und ging schließlich voran Richtung Hotel.</p> <p>Ich folgte ihm schweigend. Ich fühlte, dass er nicht zur Gesprächigkeit neigte. Das machte ihn mir umso sympathischer, und obwohl wir den Rest des Weges schweigend zurücklegten, hatte ich das Gefühl, dass wir unsere Unterhaltung fortsetzten. Ich verstand nun seinen ersten, skeptischen Blick auf das Edelweißemblem an meiner Uniform und sein anfängliches Misstrauen, als ich behauptet hatte, den Grund für seine Anwesenheit nicht zu kennen, und hoffte, dass ich seine Skepsis und sein Misstrauen hatte zerstreuen können. Außerdem glaubte ich nachvollziehen zu können, wie sehr der zurückliegende Tag an seinen Nerven gezerrt hatte und wie dankbar er war, dass alles, worum er sich im Moment zu kümmern hatte, eine Tüte war, die er in den Wind halten musste, ohne dass sie weggeweht wurde.</p> <p>Auch wenn ich am liebsten einfach immer weiter gelaufen wäre, erreichten wir schließlich die Mauer, hinter der unser Hotel lag. Dieses Mal kletterte ich als Erster nach oben und half Eliot, der nur eine Hand frei hatte.</p> <p>»Und jetzt?«, fragte ich, nachdem wir beide auf der Mauer Fuß gefasst hatten. Eliot sah sich suchend um. Das Licht der Parkplatzlaternen erreichte die Mauer nur schwach, reichte jedoch aus, um einen breiten Riss zwischen den Steinplatten zu erkennen, die den Abschluss der Mauer bildeten. Als Eliot den Riss entdeckte, machte er sich sofort daran, den Stock dort wie einen Fahnenmast zu befestigen. Da der Riss jedoch nicht tief genug war, um dem Stab genügend Stabilität zu verleihen, sprang ich von der Mauer und reichte Eliot ein paar Steine nach oben, mit denen er einen Sockel bauen konnte. Als unser Fahnenmast schließlich stark genug war, um dem Wind zu trotzen, sprang Eliot zu mir herunter und betrachtete zufrieden unser Werk.</p> <p>»Und jetzt?«, fragte er nach einem kurzen Moment des Schweigens. Ich war erleichtert, dass er das fragte, wusste allerdings keine Antwort. Ich wusste nur, dass mir nicht danach war, mich mit meinen Berichtsmappen auf meine Stube zu verziehen. Deswegen ließ ich die Berichte unerwähnt und schlug stattdessen vor, noch eine Tasse Tee zu trinken und zeigte auf eine schwarze Aufstelltafel direkt neben dem Eingang. Die Schrift war auf die Entfernung nicht zu entziffern, aber die mit Kreide gezeichnete Tasse, dampfte verheißungsvoll.</p> <p>»Tee?« Eliot lachte und gestand, dass er seit seinem letzten Landheimaufenthalt keinen Tee mehr getrunken habe. Selbst die Angebote seines Dienststellenleiters, eines passionierten Teetrinkers, schlage er regelmäßig aus.</p> <p>Ich steckte in der Bredouille. Wenn er sich selbst von der Person, die er so sehr bewunderte, nicht zum Tee überreden ließ, wie sollte mir das dann gelingen? Deswegen versuchte ich, sein Interesse für das zu wecken, was mich an dem Getränk faszinierte. Die Teekunst sei eine der wenigen alchemistischen Schulen, die in unserer schnelllebigen Zeit noch Bestand hätten, erklärte ich ihm. Ein einfaches Getränk aus Feuer, Wasser und Erde und doch könne dabei so viel schiefgehen, wenn man den rechten Augenblick zwischen Feuer und Wasser versäumte oder sich beim Verhältnis von Wasser und Erde vertat. Eliot lachte wieder. Entweder verstand er kein Wort von dem, was ich vor mich hin stotterte, oder er nahm mich nicht ernst. Vielleicht auch beides, aber sein Lachen klang freundlich und ging schließlich in ein entschlossenes Kopfnicken über: “Okay”, sagte er und ging voraus.</p> <p>Ich folgte mit einigem Abstand und las im Vorbeigehen meinen Rucksack auf, den ich auf dem Parkplatz zurückgelassen hatte. Als ich endlich die Treppe erreichte, winkte mir Eliot bereits ungeduldig zu. Er war die auf der Tafel ausgelisteten Teesorten bereits durchgegangen und konnte sich nicht entscheiden. Ich sagte ihm, dass wir das auch drinnen noch entscheiden konnten und schob ihn schnell durch die Tür ins Innere des Hotels. Meine plötzliche Eile hatte einen guten Grund, denn als ich mich ein letztes Mal nach der Wetterfahne umgedreht hatte, war die Tüte verschwunden gewesen, obwohl der Stock noch immer in dem Sockel steckte, den wir für ihn gebaut hatten.</p> <p>Die Stube, die als Speisesaal diente, war urig eingerichtet und wurde von einem großen Kachelofen beheizt, um den herum Bänke ohne Lehnen aufgestellt waren, damit man sich den Rücken an den Kacheln wärmen konnte. Eliot entschied sich jedoch lieber für einen Tisch am Fenster, das glücklicherweise nicht zum Parkplatz, sondern auf die Straße hinaus zeigte, legte seine Jacke und seine Krawatte ab und lockerte seinen Hemdkragen.</p> <p>Ich machte es mir ebenfalls bequem und setzte mich ihm gegenüber. Während wir warteten – zuerst auf den Kellner und dann auf unseren Tee –, sprach keiner von uns ein Wort. Eliot war ganz nah an die große Fensterscheibe gerückt, um auf die Straße hinausschauen zu können, während ich lieber die schillernden Spiegelungen der Kristallleuchter im Fensterglas betrachtete. Wir hatten das Hotelrestaurant ganz für uns alleine und da keine Musik gespielt wurde, herrschte vollkommene Stille, bis der Kellner schließlich mit einem großen Tablett an unseren Tisch trat, auf dem sich neben unseren zwei Teekännchen auch eine Platte mit verschiedenen Kuchenstücken befand. Wir hatten keinen Kuchen bestellt, aber das Restaurant hatte die Gewohnheit, die Überbleibsel des Tages an späte Gäste zu verschenken. Ich wollte keinen Kuchen, woraufhin Eliot fragte, ob er meinen haben dürfe. Der Kellner machte eine einladende Geste. Als sich Eliot jedoch nicht entscheiden konnte, stellte der Kellner schließlich von jeder Kuchen<em>s</em>orte <em>ein Stück</em> vor Eliot ab und legte mir ebenfalls eine Kuchengabel hin, damit ich <em>ihm</em> gegebenenfalls zur Hilfe kommen konnte.</p> <p>Ich nutzte die Zeit, die Eliot mit der Entscheidung zubrachte, welches Kuchenstück er zuerst essen sollte, um ihn zu beobachten. Ich versuchte noch immer, zu verstehen, warum er mir so vertraut vorkam, obwohl wir uns gerade erst kennengelernt hatten. Es war wie bei einer seltenen Pflanze, die man zum ersten Mal in natura zu sehen bekam, nachdem man sie zuvor bereits unzählige Male als Bleistiftzeichnung in einem Botanikführer betrachtet hatte. Wenn man dann schließlich zum ersten Mal vor einem lebendigen Exemplar stand, wusste man schon alles und doch war alles neu. Man kannte sämtliche Eigenschaften der Pflanze aus dem Lexikon, von ihren klimatischen Vorlieben über ihre Blütenstände bis hin zu ihrer Bedeutung in der Mythologie. Vielleicht konnte man sich sogar an den lateinischen Namen wie zum Beispiel Leontopodium alpinum erinnern, aber dennoch war alles, was man sah, roch und fühlte, neu: die Farbe und Form der jungen Knospen, der Duft der Blüten oder im Falle des Leontopodium alpinum das Kribbeln in den Fingerspitzen, wenn man über die dichte Wollschicht strich, mit der sich die Blume vor Kälte, Wind und Strahlung schützte.</p> <p>»Womit soll ich anfangen?«, fragte Eliot, während er hilflos auf die drei Teller vor ihm starrte. Ich versuchte, ihm bei seiner schwierigen Entscheidungsfindung behilflich zu sein, indem ich reihum von jedem Kuchen ein Stück probierte und befand, dass sie alle gut schmeckten und er sie deswegen einfach in alphabetischer Reihenfolge essen sollte oder von links nach rechts.</p> <p>»Alphabetisch?«, fragte er: »Von links nach rechts? Aus Deiner Sicht oder aus meiner?« Er schaute ratlos hin und her. Erst als ich erneut damit anfing, mir von jedem Kuchen ein Stück zu nehmen, kürzte er sein Auswahlverfahren aus Angst, zu kurz zu kommen, ab und begann mit dem Stück, das fast nur aus Sahne bestand.</p> <p>Der Kuchen schien Eliots Laune schlagartig aufzuhellen. Anstatt über seiner Begegnung mit dem Kameradenkreis zu brüten, fragte er mich über meine Pläne für den nächsten Tag aus und erzählte mir ein paar lustige Anekdoten aus seiner Dienststelle, in deren Keller es, wie ich in aller Ausführlichkeit erfahren sollte, einen Getränkeautomaten gab, der zwei Funktionen hatte. Zum einen konnte er Becher ausgeben und zum anderen konnte er aus einer Vielzahl verschiedener Düsen Flüssigkeiten wie Suppe, Kaffee oder Limonade auslassen. Die ursprüngliche Idee hinter dem Automaten war wohl gewesen, dass er die Flüssigkeiten jeweils in einen Becher füllen sollte, doch leider setzte er diese Idee nur sporadisch in die Tat um. Manchmal spuckte der Automat auch nur einen Becher ohne Inhalt aus. Ärgerlich. Und manchmal auch nur den Inhalt ohne Becher. Ein Fiasko.</p> <p>Der Hausmeister war sich des Problems bewusst und stellte immer ein paar Becher für Notfälle bereit. Außerdem hatte er eine Auffangwanne für Flüssigkeiten unter den Automaten gestellt. Diese Vorkehrungen lösten das Problem jedoch keineswegs, denn es war fast unmöglich, die Becher in den Flüssigkeitsstrahl zu halten, ohne sich dabei zu verkleckern, was bei heißen Getränken wie Kaffee und Suppe schmerzhaft und bei süßen Getränken wie Limonade und Apfelsaft eklig werden konnte. Obwohl der Hausmeister mehrmals am Tag um den Automaten herum wischte, war der Boden in einem Umkreis von fünf Metern klebrig, weil die Auffangwanne immer wieder überlief.</p> <p>Die meisten Geschichten, die Eliot mir erzählte, drehten sich um den Automaten, und ich bedauerte, dass ich nichts Derartiges zum Besten geben konnte, da der Automat im Offizierskasino abgesehen von den Getränkekartons mit Milch und Kakao nur Getränke in Dosen anbot. Das funktionierte eigentlich immer.</p> <p>Während Eliot erzählte, strich er sich immer wieder seine Haare zurück oder schaute zwischen seinen langen Ponysträhnen hervor. Ich hielt die Stimmung für ausgelassen genug, um ihn darauf ansprechen zu können, ohne dabei den Anschein zu erwecken, ihn maßregeln zu wollen. Ich kam jedoch nicht dazu, meine Gedanken laut werden zu lassen, weil er sie bereits aufgrund meines Blicks auf seine störrischen Haarfransen erraten hatte. Er deutete auf seine Haare und erklärte, dass Oberstleutnant Pragen es in seiner Dienststelle <em>mit </em><em>den </em>Haar<em>vorschriften</em> etwas <em>lockerer</em> halte, damit seine Agenten bei zivilen Einsätzen auch einen zivilen oder vielmehr zivilisierten Eindruck machten. Eliot brüstete sich damit, dass er diese Freiheit bis zum Maximum ausschöpfte, und vermutete darin einen der Gründe dafür, dass Pragen ihn zu seinem Schriftführer für das Kameradentreffen auserkoren hatte. Er hatte Eliots für einen Soldaten unerlaubt langes Haar als Teil seiner Provokation gegen die konservative Front benutzt.</p> <p>Eliot schaute mich eindringlich an und fragte, welche Entschuldigung ich für meine langen Haare vorzubringen hätte. Ich hatte keine. Aber meine Haare waren nicht so lang, dass sie sich nicht mit zwei Handgriffen hätten hinter meinen Ohren verbergen lassen. Da ich ohnehin die meiste Zeit eine Mütze oder einen Helm trug, kam das bei mir nicht so sehr zum Tragen. Eliot nickte und nahm sich den nächsten Kuchen vor. Ich half wie schon beim Stück zuvor tüchtig mit.</p> <p>Es gab neben der Haarlänge jedoch noch eine weitere Sache, die bei mir für Erklärungsbedarf sorgte: seine präzise Voraussagen bezüglich des Winds zwischen den Hügeln. Es wunderte mich, dass jemand mit solchen Fähigkeiten, sein Talent verschwendete, indem er als Lakai des Ministeriums arbeitete. Ich hatte ihm damit meine Anerkennung aussprechen wollen, aber er fasste es als Beleidigung auf und fragte etwas säuerlich zurück, ob ich mir ernsthaft einbildete, kein Lakai des Ministeriums zu sein. Ich erklärte, dass ich jedenfalls nicht das Gefühl hätte, meinen Sinn für Gut und Böse an ein Büro in Bonn abgegeben zu haben.</p> <p>Mit gespieltem Bedauern erklärte Eliot, dass es ihm leidtue, dass nicht alle Einheiten der Bundeswehr mit den Freiheiten und dem Luxus meines Trachtenvereins gesegnet seien: Dienst in einem idyllischen Urlaubsparadies und stets ein reines Gewissen. Mit diesen Worten deutete er auf ein Werbeplakat für eine österreichische Kräuterlimonade, das hinter dem Tresen hing. Es zeigte zwei Bergsteiger vor einem träumerischen Alpenpanorama, eine Frau im Dirndl und einen Mann in Kniebundhosen, die vom Schnitt her meinen glichen. Meine Hosen waren allerdings nicht aus weichem Leder, sondern aus robustem <em>Wetter</em>stoff. Sie wurden mit Plastik<em>k</em>nöpfen statt Stiften aus geschnitztem <em>Horn</em> zusammengehalten und hatten statt Blumenstickereien geräumige Taschen an den Seiten. Ich verzog das Gesicht und fühlte mich genötigt, ihm den Unterschied zwischen einer Tracht und der Felduniform der für den Gebirgskampf ausgebildeten Einheiten der Infanterie zu erklären.</p> <p>Außerdem versuchte ich, das Ansehen meiner Einheit zu verteidigen, indem ich der auf dem Werbeplakat dargestellten Bergromantik unseren weit weniger romantischen Alltag entgegensetzte. In den Bergen arbeiteten sämtliche Kräfte und Elemente des Planeten beständig gegen uns: das unwegsame Gelände, das raue Klima und nicht zuletzt die Schwerkraft. Im Winter konnten wir vor Kälte unsere Finger und Zehen nicht mehr fühlen, im Sommer blätterte uns die von der Sonne verbrannte Haut vom Gesicht. Kein Weg war jemals leicht. Beim Überqueren einer Schlucht oder beim Erklimmen einer Wand konnte jeder Fehler tödlich enden. Ein paar gebrochene Knochen galten noch als glimpflich, denn die Natur verlangte von jedem alles. Sie machte keinen Unterschied zwischen erfahrenen Soldaten, ehrgeizigen Kadetten oder zwangsrekrutierten Wehrdienstleistenden, die per Bundesgesetz direkt von der Schulbank an unseren Standort zitiert wurden und nur Blödsinn im Kopf hatten.</p> <p>Genau das sei der springende Punkt, hakte Eliot an dieser Stelle ein. Die Gebirgstruppe bestehe nun einmal hauptsächlich aus Wehrpflichtigen, die auf Staatskosten in Wander-, Ski- und Kletterurlaub geschickt wurden und allenfalls für den Einsatz in Schneeballschlachten taugten.</p> <p>Es ärgerte mich, dass er die Tauglichkeit der Gebirgstruppe an dem hohen Prozentsatz an Wehrpflichtigen festmachen wollte, zumal es nicht in unserer Macht stand, auf die durch die Bonner Bürokraten diktierte Personalpolitik Einfluss zu nehmen.</p> <p>Eliot war da anderer Meinung und ging sogar so weit, es allein unserer schlechten Eigenpromotion zuzuschreiben, dass die Gebirgstruppe als Stiefkind der Infanterie behandelt wurde, wenn es um die Vergabe von Dienstposten ging. Es fehle uns nun mal an Freiwilligen, und dies zu ändern, sei nicht die Sache der Bürokraten, sondern des Standorts. Urlaubsparadies hin oder her, man müsse den Leuten schon ein bisschen mehr bieten als ein verschlafenes Bergdörfchen. Er zeigte erneut auf das Werbeplakat mit dem idyllischen Bergpanorama.</p> <p>Er schien mich ärgern zu wollen und hatte mich fast so weit, dass ich ihm eine gute Nacht wünschte und mich zusammen mit meinen Berichten auf mein Zimmer verzog. Das hätte ich an jedem anderen Abend und bei jeder anderen Person auch getan. Doch an diesem Abend und bei dieser Person sagte ich weder gute Nacht noch verzog ich mich irgendwohin. Ich wollte lieber mit ihm weiterstreiten und fragte deswegen ein wenig pampig nach, welchen Standort er uns empfehlen konnte, damit uns die gleiche finanzielle Aufmerksamkeit zuteil würde wie seiner Dienststelle. München etwa? Es gab dort zwar keine Gebirge, aber unter Umständen ließen sich die Sandsteinbauten der alten Museen als Kletterwände nutzen. Wenn ein Umzug in die bayerische Landeshauptstadt das Prestige der Gebirgstruppe fördern konnte und uns zu den besseren Menschen machte, für die sich andere Einheiten dank ihres privilegierten Standorts bereits hielten, musste jede Möglichkeit in Betracht gezogen werden.</p> <p>Eliot lachte laut und fragte, wo bei mir in diesem Fall der Zynismus endete und die Ironie begann, ob ich ihn am Ende für einen schlechten Menschen hielt.</p> <p>»Vielleicht«, sagte ich und schaute ihn eindringend an: »Ich könnte über jeden Soldaten, mit dem ich heute Abend hier einquartiert habe, sagen, wie er seine beruflichen Fähigkeiten nutzt, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Sie arbeiten ehrenamtlich als Bergretter, tragen zum Erhalt gefährdeter Pflanzen und Tiere der Alpen bei und helfen der Kurverwaltung unseres Standorts Klettersteige zu bauen, Wanderrouten zu sichern und den verheerenden Wirkungen von Unwettern entgegenzuwirken. Nenne mir eine glanzvolle Leistung Deiner Dienststelle.«</p> <p>»Wie wäre es mit dem heutigen Abend? Wir schauen den bösen Buben auf die Finger.«</p> <p>»Was bringt es, wenn der Beelzebub dem Teufel auf die Finger schaut?«</p> <p>»Wieso redest Du, als ob wir Teufel wären?«</p> <p>»Hätte denn jeder Angst vor Euch, wenn ihr Heilige wärt?«</p> <p>»Manche fürchten den Heiligen Nikolaus. Kommt ganz darauf an, was über sie in seinem goldenen Buch geschrieben steht.«</p> <p>»Ich frage mich eher, wer die Dinge in das goldene Buch hineingeschrieben hat.«</p> <p>»Eigentlich ist das goldene Buch die Verfassung. Wir schreiben nichts hinein, wir lesen nur daraus und handeln danach.«</p> <p>»Handeln? Du meinst die Rute und den Sack? Das ist doch Terror. Würde ein wahrhaft guter Mensch so etwas tun?«</p> <p>»Würde ein wahrhaft schlechter Mensch, seinen Kuchen mit Dir teilen?« Eliot zeigte mit einer einladenden Geste auf die Teller vor sich. Ich nahm ein Stück und sah ein, dass wir alle keine Engel waren. Eliot lächelte und fügte hinzu, dass wir aber ebenfalls keine Teufel waren.</p> <p>»Nimmst Du das mit dem Trachtenverein zurück?«, fragte ich, um einen Schlussstrich unter unseren Streit zu ziehen.</p> <p>»Wenn Du das mit dem Terror zurücknimmst«, erwiderte er. Sein Ton war immer noch ein wenig bissig.</p> <p>»Hm«, machte ich und überlegte.</p> <p>»Tu nicht so, als stünde uns nicht allen das Wasser bis zum Hals.«</p> <p>»Vielleicht«, sagte ich: »Aber je höher man die Nase trägt, desto später schneidet einem das Wasser die Luft ab.«</p> <p>Eliot machte ein verdutztes Gesicht und zeigte mit der Kuchengabel auf seine Nase: »Die hier?« Er sah dabei so albern aus, dass ich laut loslachen musste. Unser Streit hatte seine Ernsthaftigkeit verloren und schließlich lachten wir beide.</p> <p>An dieser Stelle hörten wir draußen in der Halle verhaltene Stimmen und Stiefel, die sich Mühe gaben, leise auf den Holzdielen aufzusetzen. Es gelang ihn nicht wirklich und das Gewicht ihrer Träger ließ die Dielen knarzen und quieken.</p> <p>Eliot schaute mich an: »Deine Leute?« Ich nickte und schaute auf die Uhr. Ich war froh, dass sie es nicht übertrieben hatten, sondern zeitig zurückgekehrt waren. Die zwei Bonner Offiziere machten mich nervös und ich wollte nicht, dass sie uns von unserer schlechtesten Seite erlebten. Das würde die Dinge nur verkomplizieren. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht, dass nur ein Teil der Nachtschwärmer zurückgekehrt war und der andere Teil gerade dabei war, für ein Höchstmaß an Komplikationen zu sorgen.</p> <p>»Warum warst Du nicht mit ihnen unterwegs?« Eliots Frage klang so forschend, dass ich mich ertappt fühlte. Ertappt in meiner Eigenbrötelei und in meinem Unvermögen, mich gemeinsam mit anderen Menschen zu amüsieren. Die beiden Ausreden, die ich mir Falk gegenüber zurechtgelegt hatte, funktionierten bei Eliot nicht. Ich konnte ihm weder etwas von dringenden Berichten erzählen, noch konnte ich behaupten, dass mich ein Lakai des Ministeriums in ein Gespräch verwickelt hatte, das ich nicht hatte abbrechen können, ohne unhöflich zu erscheinen oder mich verdächtig zu machen. »Nicht mein Ding«, gab ich deswegen schließlich zu.</p> <p>»Was?«, fragte Eliot sofort nach.</p> <p>Ich zuckte mit den Schultern: »Alles. In Kneipen abhängen, Blödsinn reden, Bier trinken und mich verkuppeln lassen.«</p> <p>Eliot lachte bitter: »Da teilen wir uns ein Schicksal. Auch meine Freunde sind sehr um mein Liebesleben besorgt. Es würde ihnen jedoch nicht einfallen, mich zu verkuppeln. Sie versuchen eher, mich vor der nächsten Katastrophe zu bewahren.« Auf meinen nachforschenden Blick hin zuckte er jedoch nur mit den Mundwinkeln und winkte dann ab. Er wollte nicht darüber reden und bereute es offenbar, das Thema überhaupt aufgebracht zu haben. Er schwieg, doch ich spürte unter dem Schweigen eine tiefe Wunde.</p> <p>»Oder die Geschichte vom eisernen Heinrich«, sagte ich und schaute ihn ernsthaft an.</p> <p>Eliot erwiderte meinen Blick und nickte langsam: »Wenn es so einfach wäre. Wenn man sein Herz einfach mit Eisenbändern zusammenhalten könnte.«</p> <p>»Vielleicht waren die Bänder nicht aus Eisen«, schlug ich vor.</p> <p>»Aus was waren sie dann?«</p> <p>»Vielleicht aus Schweigen«, überlegte ich weiter: »Oder aus Zucker.« Ich schob das letzte Kuchenstück näher zu ihm hin.</p> <p>»Vielleicht auch beides«, sagte er, während er die Gabel nachdenklich in den Kuchen stach. »Aber es waren drei Bänder. Aus was war das dritte?«</p> <p>»Vielleicht–«, setzte ich an, aber Eliot legte den Finger auf seine Lippen und befahl mir, still zu sein. Auf meinen überraschten Blick hin erklärte er, dass wir besser nicht über Liebe und Kummer sprechen sollten. Solche Themen nagten an der Seele und verletzte Seelen zogen Kobolde und böse Geister an. Das hatte ihm seine Großmutter beigebracht.</p> <p>»Lass uns über etwas Lustigeres reden«, sagte er und ließ dabei seine Finger vor seinem Gesicht auf und ab tanzen, als ob er auf einem unsichtbaren Klavier spielen würde.</p> <p>»Gut, dann lass uns über Geister reden«, sagte ich. Eliot sah mich fragend an.</p> <p>»Du glaubst an Geister?«, fragte ich. Das tue er nicht, antwortete er prompt, aber er respektiere sie. Er bestand darauf, dass dies nicht dasselbe sei.</p> <p>Ich bezweifelte jedoch, dass man einer Sache Respekt zollen könne, die man nicht für real halte.</p> <p>Er gab zu, ein Talent für diese Art Widersprüchlichkeiten zu besitzen. Auch ohne an die Hölle zu glauben, sei er davon überzeugt, sie verdient zu haben, und obwohl die Bibel für ihn nichts weiter war als eine Überlieferung antiker Fantasterei, würde er niemals einen Meineid darauf schwören. Seine Ehrfurcht vor dem Übernatürlichen entspringe zum einen einer gesunden Vorsicht gegenüber allem Unerklärlichen, zum anderen den Gruselgeschichten seiner Großmutter. Er habe in seinem Leben allerdings keine Religion lange genug ausgeübt, um zu einem Glauben finden zu können, fügte er schließlich bedauernd hinzu.</p> <p>Ich fragte ihn, welche Religionen er denn ausprobiert habe.</p> <p>Seine Mutter sei Katholikin gewesen, habe aber leider sein viertes Lebensjahr nicht mehr erlebt. Mit ihr starben auch die Geschichten über Propheten, die Löwen bändigten oder in einem Wal den Ozean überquerten. Seine Großmutter, von der er daraufhin großgezogen wurde, habe eine mehr diesseitige und pragmatische Einstellung zur Religion gehabt und ihn zum Schutz vor bösen Geistern von Shintopriestern mit Papierwedeln läutern lassen und sein Schlafzimmer mit Glücksbringern tapeziert. Diese Unmittelbarkeit hatte ihm besser eingeleuchtet als die doch bisweilen etwas befremdlichen Bibelgeschichten seiner Mutter. Sein Vater, der ihn später zu sich genommen hatte, war Mediziner und Wissenschaftler gewesen. Die abgeklärte Rationalität seines Vaters habe ihn allerdings nie erreicht und nun bete und hoffe er nach den Regeln der Dienstvorschrift.</p> <p>Ich war beeindruckt. Er war weit gereist, vom Christentum und Shintoismus über die Wissenschaft zum Militärkatechismus.</p> <p>Keine der Methoden habe es jedoch vermocht, seine Zweifel oder seine Trauer zu heilen, schloss Eliot den Rundgang durch die Religionen seiner Welt. Als ich sein unglückliches Gesicht sah, legte ich meinen Finger auf die Lippen, schaute flüchtig nach links und rechts und flüsterte: »Kummer zieht Kobolde und böse Geister an.«</p> <p>»Machst Du Dich lustig über mich?«, fragte Eliot. Es lag jedoch keine Empörung oder Skepsis in seiner Stimme. Deswegen schüttelte ich einfach nur den Kopf und pickte mit dem Finger ein paar Kuchenkrümel von seinem Teller.</p> <p>Wir blieben danach bei unverfänglicheren und umgänglicheren Themen fernab von Beruf und Kummer. Wir streiften noch einmal kurz die Liebe, um herauszufinden, dass ich im Gegensatz zu ihm damit keine Erfahrungen hatte, und noch einmal kurz die Religionen, um herauszufinden, dass ich im Gegensatz zu ihm Religionen nur aus dem Ethikunterricht kannte und die Dienstvorschrift die einzige heilige Schrift war, mit der ich näher vertraut war.</p> <p>Es wurde früher spät, als ich es mir gewünscht hätte. Kurz vor Mitternacht trat der Kellner an unseren Tisch, um mir meinen Schlüssel zu geben, da die Rezeption nun nur noch per Nachtglocke erreichbar war. Als wir hastig aufspringen wollten, bat er uns mit einer beruhigenden Geste, so lange sitzen zu bleiben, wie wir wollten. Er zeigte auf einen Ständer mit Süßigkeiten und einen Kühlschrank voller Getränke. <em>F</em>alls wir noch etwas brauchten, sollten wir uns selbst bedienen. Er würde es am nächsten Morgen abrechnen. Wir sollten nur das Licht ausmachen, wenn wir den Raum verließen. Mit diesen Worten wünschte er uns eine gute Nacht und ließ uns allein.</p> <p>Eliot und ich schauten uns eine Weile schweigend an, bevor wir unsere Blicke voneinander abwandten und jeder seinen eigenen Gedanken nachhing, wobei ich mich bei jedem zweiten Gedanken fragte, was er gerade dachte. Ob er sich an seine Mutter, seine Großmutter oder seinen Vater erinnerte. Ob er den nächsten Tag plante. Ob er den vergangenen Tag Revue passieren ließ. Oder ob er, wie er es sich früher am Abend gewünscht hatte, an gar nichts dachte. Ich fragte mich auch, ob das überhaupt ging, an nichts zu denken. Ich versuchte es mehrmals, kriegte es aber nicht hin. Die Ruhe tat allerdings gut. Ich hätte mir keinen besseren Ausklang des Tages wünschen können, als zusammen mit einem Freund zu schweigen.</p> <p>Und zu diesem Zeitpunkt war ich mir jedenfalls sicher, dass Freundschaft das Mindeste war, was ich für ihn empfand. Hatten wir doch die wichtigsten Themen zwischen Himmel und Hölle diskutiert, uns zerstritten, wieder versöhnt und ganz nebenbei unsere Gesundheit mit Schokolade, Sahne und kandierten Früchten ruiniert. Ich fand, das verband.</p> <p>Obwohl wir beide einen anstrengenden Tag vor uns hatten, blieben wir sitzen, bis wir eine Kirchturmglocke ein Uhr schlagen hörten. Ich nahm den Schlüssel in die Hand, den mir der Kellner hingelegt hatte, und las, was auf dem Anhänger stand. Ich hatte offenbar ein Dachzimmer. Das gefiel mir. Es klang nach Abgeschiedenheit.</p> <p>Eliot holte seinen Schlüssel aus der Tasche und zeigte mir seinen Anhänger. Zweiter Stock. Ich nickte, bevor wir wie auf ein geheimes Kommando gleichzeitig aufstanden. Eliot <em>nahm</em> seine Jacke und seine Krawatte und ich meinen Rucksack. Nachdem wir das Licht gelöscht hatten, verließen wir den Speisesaal und Eliot rief den Aufzug.</p> <p>Weder er noch ich sprachen ein Wort und dieses Mal drückte das Schweigen wie ein verkehrt gepackter Rucksack, weil ich das Gefühl hatte, dass etwas Wichtiges unausgesprochen blieb. Es lag jedoch außerhalb meiner Möglichkeiten, es auszusprechen.</p> <p>Wir warteten auf den Aufzug, der seine Ankunft bereits leise polternd ankündigte, sich aber mächtig Zeit ließ. Es war ein altes Modell. Schweigsam beobachteten wir das Licht über dem Fahrstuhlknopf, das uns zu geduldigem Warten ermahnte. Als sich der Aufzug endlich mit einem Klingeln meldete und seine Türen einladend aufschob, stiegen wir ein. Wieder kein Wort, nur Nummern auf dem Ziffernblock der Wandarmatur. Eliot musste in die zweite Etage, ich noch zwei weiter. Unser Schweigen ging im Rumpeln der Fahrstuhlgondel unter. Mein Blick wanderte über den Boden und zählte die Dinge, bis wir den zweiten Stock erreichten. Erst als sich die Türen öffneten, sah ich auf. Eliot sah müde aus, als er mir noch einmal zulächelte und schließlich mit einem leisen Gute Nacht die Kabine verließ.</p> <p>Dieser Moment brachte alles in mir durcheinander. Mit einem Mal hatte ich mehr Wünsche als jemals zuvor in meinem Leben, und obwohl ich keinen einzigen davon in einen klaren Gedanken fassen konnte, schien es mir, als müsste ich umkommen, wenn auch nur einer unerfüllt bliebe, als würde ich alles verlieren, wenn ich nicht sofort alles gewänne. Aufgewühlt blickte ich ihm nach, als er plötzlich kehrtmachte und den Fahrstuhl daran hinderte, seine Türen zu schließen und seine Fahrt fortzusetzen: »Ist träumen auch denken?«, fragte er.</p> <p>»Ich denke schon«, erwiderte ich überrascht.</p> <p>»Dann hast vielleicht Du recht und es wäre Verschwendung, alles zu sehen, aber nichts dabei zu denken und nichts davon zu begreifen, alles zu haben, aber nichts dabei zu empfinden.«</p> <p>Als er einen Schritt zurücktrat, um die Tür freizugeben, trat ich einen Schritt nach vorn, um sie offenzuhalten. Da ich jedoch nichts sagte, stellte Eliot schließlich die erlösende Frage: »Sehen wir uns morgen zum Frühstück?«</p> <p>Ich atmete erleichtert auf. Das drückende Gefühl war mit einem Mal verschwunden: »Halb sieben?«, fragte ich. Er nickte. Ich erwiderte das Nicken und trat zurück in die Fahrstuhlkabine.</p> <p>Ich fühlte mich so beschwingt, dass ich mich nach einer kurzen Dusche tatsächlich an die Bearbeitung der Berichtsmappen setzte. Es waren nur zwanzig maschinengeschriebene Seiten, die ich durchzusehen hatte, aber da meine Gedanken an den vergangenen Abend und meine Freude auf den nächsten Morgen meinen Arbeitseifer überwogen, kam ich nur langsam voran und war gerade bei der Hälfte angekommen, als es an meiner Tür klopfte.</p> <p>Der Rest der Geschichte braucht nicht in aller Ausführlichkeit erzählt zu werden, denn sie hat nichts mit Eliot zu tun und ich bin im Nachhinein froh, dass ich mich in jener Nacht nicht schlafen gelegt hatte. Es wäre eine Verschwendung guter Gefühle gewesen. Denn auch wenn ich nicht ernsthaft daran geglaubt hatte, dass mein fragiles Gerüst aus vagen Sehnsüchten und Träumen lange halten würde, zerfiel es eher als erwartet.</p> <p>Der Hotelangestellte, der an meine Zimmertür geklopft hatte, entschuldigte sich für die späte Störung und fragte, ob die Rezeption einen Anruf von der Oberstdorfer Polizei durchstellen dürfe. Es gehe um die Personen Falk Theodor Kastl und Ferdinand Strefler. Seine Stimme klang abgehetzt, so als wäre er gerannt. Ich bat darum, den Anruf durchzustellen. Der Hotelangestellte machte auf dem Absatz kehrt und stürzte wieder nach unten. Ich nahm mein Notizbuch und einen Stift zur Hand, setzte mich neben das Telefon und machte mich auf das Schlimmste gefasst. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis das Telefon klingelte.</p> <p>Die tiefe Stimme eines Polizisten konnte sich nicht recht entscheiden, ob sie mir einen guten Morgen oder eine gute Nacht wünschen sollte, hielt sich damit aber nicht lange auf, sondern reichte den Hörer weiter an <em>Falk</em>, der mich in seinem typischen ausladenden und lauten Erzählstil in die Ereignisse einweihte, die dazu geführt hatten, dass er auf der Oberstdorfer Polizeiwache saß und Strefler schwer mitgenommen im Kemptener Krankenhaus lag. Ich brummte mürrisch in den Telefonhörer, um Falks epische Ausschweifungen auf das Nötigste zu reduzieren und schaute nervös auf die Uhr, obwohl ich wusste, wie spät es war. Zu spät, denn es gab viel zu tun: Ich musste die Bergung des Wagens veranlassen, die Verlegung des Patienten in die Wege leiten und dafür Sorge tragen, dass die gesamte Angelegenheit in die Hände des Militärs übergeben wurde. Ich befürchtete, dass ich meine Verabredung nicht würde einhalten können.</p> <p>Als ich nach vielen Telefonaten und ewiger Warterei am frühen Morgen des heutigen Tages im Kemptener Krankenhaus eintraf, um für eine zügige Verlegung nach München Sorge zu tragen, lag Strefler im Korsett einer Vakuummatratze auf dem Flur der Notaufnahme. Obwohl er wach war, wechselten wir kein Wort miteinander, weder über sein Befinden noch über den Zwischenfall. Er starrte zur Decke, während ich ein Formular nach dem anderen ausfüllte und zwischendurch Heidt telefonisch über die Lage informierte, der mich während unseres Gesprächs mehrmals daran erinnerte, mich um die Delegation aus Bonn zu kümmern. Ich versicherte ihm, dass ich alles unter Kontrolle hätte und es keinen Grund zur Panik gebe, legte auf und wartete auf den leitenden Arzt.</p> <p>Ich kann mich an Krankenhäuser einfach nicht gewöhnen. Ständig versuchen sie, mich in eine Vergangenheit zurückzuholen, die ich einerseits gerne vergessen würde, aber andererseits wie meinen größten Schatz hüte. Es <em>ist</em> nicht alles schlecht gewesen. Es sind zwar Erinnerungen an Einsamkeit und Schmerz, aber es sind auch Erinnerungen an Tomo, der diese Einsamkeit durchbrochen und meine Schmerzen gelindert hat. Seinetwegen klammere ich mich an der Vergangenheit fest. Sie zu verlieren, würde bedeuten, alles zu verlieren, was mir von Tomo geblieben ist.</p> <p>Die bedrohlich tickende Uhr über dem Stationszimmer lenkte mich jedoch von meiner Krankenhaus­aversion ab. Denn mit jeder verstreichenden Sekunde schwanden meine Chancen, vor der Ankunft der Bonner Prominenz noch einmal zu unserer Herberge zurückzukehren, um ihn dort wiederzusehen und mich persönlich bei ihm für die geplatzte Verabredung zu entschuldigen.</p> <p><em>D</em>ie Zeit nahm jedoch keine Rücksicht auf meine für sie bedeutungslosen Wünsche. Mir wurde schlecht, als ich sah, wie der kleine Zeiger der riesigen Stationsuhr gemächlich Richtung Sieben kroch, während seine beiden Brüder hektisch die Minuten und Sekunden zählten. In einem rasanten Eiltempo drehten sie ihre endlosen Runden durch die mit römischen Ziffern in kleine Abschnitte unterteilte Arena: Zehn nach sieben, zwanzig nach sieben, fast halb acht, so als wäre nichts dabei. Ich konnte nur hoffen, dass <em>wir die Verabredung nachholen </em><em>würden</em>, und musste mich sputen, um nicht auch noch mein Rendezvous mit den Bonner Offizieren zu verpassen.</p> <p>Als ich am späten Abend zum Hotel zurückkehrte, um meine Ausrüstung abzuholen, erzählte man mir, die beiden Agenten seien direkt nach dem Frühstück nach Sonthofen aufgebrochen. Eine Nachricht war nicht für mich hinterlassen worden. Obwohl somit <em>der Prolog geendet hatte, bevor die eigentlich</em><em>e</em><em> Geschichte beginnen konnte</em><em>, ist dieses Ereignis für mich der Anfang einer Liste</em><em> und der Anfang meines Glaubens an Trost</em><em>:</em> Eliot, Oy miwuen hoalan haatohoalsong, haatomisong mian hoalwuen Yo.</p> <p>~ Wilhelm Fenner</p> </div> <div class="field field--name-field-ort field--type-link field--label-hidden field__item"><a href="https://www.openstreetmap.org/relation/939341">Mittenwald</a></div> <div class="field field--name-field-datum field--type-datetime field--label-hidden field__item">Freitag, 27. Sep. 1991</div> <div class="field field--name-field-bezugsort field--type-link field--label-inline"> <div class="field__label">Bezugsort</div> <div class="field__item"><a href="https://www.openstreetmap.org/relation/958128">Oberstdorf</a></div> </div> <div class="field field--name-field-bezugsdatum field--type-datetime field--label-inline"> <div class="field__label">Bezugsdatum</div> <div class="field__item">Donnerstag, 26. Sep. 1991</div> </div> <div class="field field--name-field-kapitel field--type-integer field--label-above"> <div class="field__label">Kapitel</div> <div class="field__item">1</div> </div> <div class="field field--name-field-dateinummer field--type-integer field--label-inline"> <div class="field__label">Dateinummer</div> <div class="field__item">102</div> </div> Wed, 15 Mar 2023 18:29:08 +0000 eloroke 27 at https://www.adamsakte.de Eine neue Einsamkeit https://www.adamsakte.de/Tagebuch/Eine%20neue%20Einsamkeit <span class="field field--name-title field--type-string field--label-hidden">Eine neue Einsamkeit</span> <span class="field field--name-uid field--type-entity-reference field--label-hidden"><span>eloroke</span></span> <span class="field field--name-created field--type-created field--label-hidden">Do., 16.03.2023 - 17:55</span> <div class="clearfix text-formatted field field--name-body field--type-text-with-summary field--label-hidden field__item"><p>Ich dachte, die Begegnung hätte mich verändert und meiner ursprünglich selbst gewählten, aber im Laufe der Jahre zu einem regelrechten Zwang ausgereiften Isolation ein Ende gesetzt. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Ich flüchte mich stärker in die Einsamkeit denn je, nur dass sie, seit ich Eliot getroffen habe, ihre heilende Wirkung verloren hat. Sie wirkt nun feindselig und vernichtend. Dennoch suche ich sie.</p> <p>Ich widerspreche mir selbst und weiß es mir nicht recht zu machen. Jeder Wunsch birgt eine Abscheu. Jede Sehnsucht eine Angst. Und umgekehrt. Ich möchte ihn wiedersehen und nicht. Ich möchte einsam sein und nicht. Getrieben von derlei Widersprüchen fliehe ich vor dem, was ich liebe, und suche Zuflucht in dem, was mir maximal erträglich scheint. So beneide ich zwar Falk um seine Hast nach Dienstschluss, weil ich weiß, dass es ihn zu Anna zieht, schließe für mich selbst jedoch jede Form der Geselligkeit aus. Auf mich wartet nach Feierabend nur die Einsamkeit und die ist geduldig, weswegen für mich kein Grund zur Eile besteht.</p> <p>Mit diese<em>n zwiespältigen Gefü</em><em>h</em><em>len stehe</em> ich <em>oft</em> an der Isar und wünschte, sie würde mich auf ihrer Reise ein Stück mitnehmen. Doch da der Fluss mein Elend nicht versteht, zeigt er sich von meinen Sehnsüchten genauso unbeeindruckt wie von den Steinen und Hölzern, die ich ihm mit auf den Weg gebe. Er fließt weiter<em> und</em> <em>i</em>ch bleibe <em>stehen</em><em>. So ist es immer.</em></p> <p>Die Isar ist jedoch nicht die einzige Zeugin meiner Not. Die bunten Familienpackungen in den Supermarktregalen erinnern mich daran, dass ich allein zu Abend <em>esse</em><em>.</em> <em>D</em>ie dunklen Fenster meiner Wohnung auf dem Kasernengelände <em>künden von einem Ort, an dem mir alles gehört, der aber leer ist.</em> Mit der Post kommt nur lästiger Papierkram aus Köln, Bonn oder den hiesigen Verwaltungsbüros, und <em>wenn mein</em> Telefon klingelt, geht es in der Regel um dienstliche Absprachen. Besuch erwarte ich <em>fast nie</em>. Ich bin allein. So wie Falk es mir immer vorhält und wie er es mir für die Zukunft prophezeit hat, wenn ich weiterhin seine Ratschläge <em>ignoriere</em>.</p> <p>Tagsüber lassen mir die Stabsarbeit sowie meine Beteiligung an der Ausbildung unserer Bergführer keine Zeit für meinen Kummer, zumal wir durch den alljährlich fälligen <em>B</em>ericht über die Arbeit unseres Stabs und die Vorbereitungen für Oslo zusätzlich unter Beschuss stehen. Kurze Pausen und lange Abende im Büro voller Hektik und Anspannung bestimmen zurzeit unseren <em>A</em><em>rbeitsa</em>lltag. Umso bitterer trifft mich die <em>Stille in</em> meine<em>n</em> eigenen vier Wänden, die Einsamkeit auf den verschneiten Gebirgspfaden und die einsilbigen Monologe, die ich von mir gebe, wenn ich Leto in ihrem Winterstall besuche. Dennoch sind diese Refugien der Abgeschiedenheit erträglicher als das gesellige Beisammensein in den Heimen oder das Gewühl der Stadt, die nur meine innere Leere und meine Unfähigkeit, Teil des Ganzen zu sein, bloßstellen.</p> <p>Die Erkenntnis über meinen zerrissenen Zustand verschafft mir zunehmend schlechte Laune. Gunnar und André halten sich glücklicherweise, nachdem ich sie mit meinen knappen Antworten und vorgeschobenem Diensteifer vergrault habe, zurück. Falk hingegen, in dessen Benimmkatalog kein Eintrag für Zurückhaltung existiert, lässt sich nicht so leicht abwimmeln und quält mich trotz meiner beständigen Beteuerungen, dass es mir gut geht, mit Fragen über mein Wohlbefinden. Es vergeht kaum ein Tag, an dem er nicht Kiesel gegen das Fenster meines Büros wirft, um mich mit Belanglosigkeiten vom Arbeiten abzuhalten oder mich dazu zu überreden, ihm nach Feierabend auf einen seiner abenteuerlichen Nachtausflüge zu folgen. Wage ich es, das Scharren der Kiesel an der Fensterscheibe zu überhören, schallt kurz darauf mein Name in Falks unüberhörbar lauter Stimme über das gesamte Kasernengelände. Und <em>s</em>ollte auch diese letzte Warnung bei mir auf taube Ohren stoßen, brauche ich nicht lange zu warten, bis die Tür meines Arbeitszimmers aufgerissen wird und Falks Kopf im Rahmen erscheint. Hat er es sich erst einmal in dem weichen Polster des Besuchersessels oder auf meinem Drehstuhl bequem gemacht, ist es noch schwieriger ihn loszuwerden, als wenn er nur draußen vor dem Fenster steht.</p> <p>Ich muss allerdings gestehen, dass mir Falks besondere Art inzwischen so sehr ans Herz gewachsen ist, dass ich <em>mir manchmal einbilde, wir wären Freunde</em>. Was wir natürlich nicht sind, da Freundschaft, wie Falk es mir jüngst in einem Streit<em> an den Kopf geworfen hat,</em> <em>nicht zu meinen Kompetenzen zählt</em>. Vor ungefähr zwei Jahren sind wir das erste Mal aneinandergeraten, als ich zusammen mit André ein Magazin aus Skiern, Bindungen und Fellen auf Schäden und Verschleiß inspizieren wollte, um die reparaturbedürftigen Sportgeräte zur Instandsetzung in die Werkstatt der Winterkampfschule bringen zu lassen. Aus einer Not heraus hatten wir das Material kurzfristig in der Turnhalle zwischengelagert. Wie wir jedoch verwundert feststellen mussten, waren wir nicht die Einzigen, die die Turnhalle für ihre Zwecken missbraucht hatten.</p> <p>In der <em>Umkleidekabine für die Ausbil</em><em>d</em><em>er</em> trafen wir auf vier junge Offiziere, die dort ihren Dienst schwänzten. Aus einem <em>tragbaren</em> Radio tönte laute Musik und <em>a</em>uch für Speis und Trank<em> –</em> genug für ein Gelage mittleren Ausmaßes<em> –</em> war gesorgt. André geriet außer sich und wetterte lautstark gegen den Stabsunteroffizier Falk Kastl los. <em>Falk</em> <em>war nicht nur der</em> Ranghöchste unter den Drückebergern, sondern auch eine<em>r</em> der Gruppenleiter aus <em>Andrés</em> Zug.</p> <p>Während André in seinem Eifer so manch unfeines Wort fallen ließ, hielt ich<em> mich</em> nach einen prüfenden Blick in die Runde zurück. Im Gegensatz zu André pflege ich solche Ärgernisse ohne großes Gewese abzustellen, merke mir dafür aber sehr genau<em> die Gesichter und Namen der </em><em>beteiligten Soldaten</em>. Ich überließ also dem Fachmann das Schelten und machte mich nützlich<em>, indem ic</em>h überprüfte, welche Skier einer Reparatur bedurften, die Gestellnummern aufnahm und einen ersten Teil der Ausrüstung zum Wagen brachte. Als ich zurückkam, um die zweite Fuhre einzusammeln, diskutierte André noch immer mit Falk und <em>war inzwischen</em> über dessen Ausreden und <em>Widerworte</em> so sehr in Rage geraten, dass ich ihn Ruhe bewahren hieß. Die Sache sei des Ärgers nicht wert. André zwang sich zur Beherrschung, prophezeite Falk ein böses Nachspiel und warf der Mannschaft aus Drückebergern einen letzten grimmigen Blick zu, bevor er zusammen mit mir die restlichen Skier zum Wagen schaffte. Da ich die Angelegenheit damit als erledigt betrachtete, war ich mehr als überrascht, als Falk mich am nächsten Tag aufsuchte.</p> <p>Vollkommen überspannt schlug er früh morgens in meinem Büro auf, um die Missverständnisse des vergangenen Nachmittags gerade zu rücken. Da ich nicht verstand, was er von mir in dieser Sache erwartete, erklärte ich ihm schlicht, dass sich der Fall mit der Standpauke, die er direkt vor Ort erhalten habe, sowie mit der erzieherischen Maßnahme, die André über ihn verhängt hatte, meines Erachtens erledigt habe. Falk wollte sich damit jedoch nicht zufriedengeben, sondern verlangte, dass auch ich persönlich seine Entschuldigung annehmen solle.</p> <p>Ich weigerte mich <em>zwar</em> ebenso vehement, seiner Bitte nach Absolution <em>nachzukommen</em>, wie er sie vortrug, doch er ließ sich weder durch <em>den</em><em> Befehl</em><em>, zu seiner Einheit zurückzukehren,</em><em> noch durch</em><em> </em><em>mein</em><em> </em><em>strenges </em><em>Stirnrunzeln einschüchtern</em><em>. Stattdessen</em><em> schnappte </em><em>er </em><em>sich einen Stuhl, ging damit um meinen Schreibtisch herum und setzte sich dicht neben mich. Zu dicht für meinen Geschmack</em><em>, weswegen</em><em> </em><em>ich </em><em>mich </em><em>so weit </em><em>zurück</em><em> </em><em>lehnte, </em><em>dass</em><em> ich gegen die Stuhllehne prallte.</em><em> </em><em>Ich entschied mich</em><em> jedoch</em><em>, ihn ausreden zu lassen.</em><em> </em><em>Ich war der Meinung, er</em><em> würde irgendwann von selbst aufhören.</em></p> <p><em>Er fand jedoch kein Ende</em><em>.</em><em> </em><em>»Hauptmann Fenner«</em><em>, setzte er</em><em> mit lauten Worten</em><em> an, bevor er mir die Umstände des Vortags erneut darlegte</em><em>.</em><em> </em><em>A</em>ls er mit seinen Entschuldigungen und Erklärungen fertig war, <em>folgte</em><em> zunächst</em><em> eine Rede</em><em> ü</em><em>ber </em>seine tiefe Verbundenheit zu den Zielen unserer Einheit und seine kompromisslose Aufopferungsbereitschaft <em>für</em> seine Kameraden<em> und dann die Aufzählung</em> all seiner bisherigen Verwendungen, Verdienste und Sonderausbildungen. Während einer seiner wenigen und kurzen Atempausen ergriff ich rasch das Wort und <em>erläuterte</em> ihm in zwei kurzen Sätzen, dass die Geschichte nicht in meinen Verantwortungsbereich fiel und ich auch nicht darauf erpicht war, Teil davon zu werden. In Sachen Absolution verwies ich ihn an seinen Zugführer, Hauptmann André Wendt, bevor ich eine einladende Geste Richtung Tür machte.</p> <p>Falk lehnte sich vor. Da ich mich nicht weiter zurücklehnen konnte, presste mich mein Versuch, es dennoch zu tun, ins Polster meines <em>Bürostuhls</em><em>, der dabei ein Stück zurückrollte</em>. Falk machte eine theatralische Pause, bevor <em>er</em><em> </em><em>schließlich</em> <em>den</em> eigentlichen Punkt seines Anliegens zur Sprache brachte, den Grund, warum es ihm so wichtig war, dass ich kein falsches Bild von ihm bekam<em>:</em> Er strebte den Posten des ersten Beraters in der von mir geleiteten Stabsabteilung für Sicherheit im Gebirge an. Nach dieser Eröffnung strahlte er übers ganze Gesicht und <em>starrte</em> mich an, als ob <em>ich gerade den Hauptgewinn</em><em> in der Lotterie</em><em> gezogen hätte.</em></p> <p><em>Ich hatte im Gegenzug nur ein Stirnrunzeln für ihn</em> übrig und stand auf, um ihm und seinen fantastischen Ideen die Tür zu weisen. Noch bevor ich nach der Türklinke fassen konnte, war Falk aufgesprungen, hatte meinen Arm ergriffen und unternahm einen letzten nachdrücklichen Versuch, mich davon zu überzeugen, dass er der richtige Mann für meine Stabsabteilung <em>wäre</em>. Ich wand mich frei und erklärte ihm, dass ich meine Leute nur auf Andrés Empfehlung hin zu rekrutieren pflegte. Entgegen meiner Erwartung hellte diese Aussicht Falks Blick auf. Wieder erschien dieses Lotteriestrahlen auf seinem Gesicht, als <em>er mir versicherte</em>, dass er diese Empfehlung kriegen würde. Ich hielt das zwar für unwahrscheinlich, doch ich nickte und nutzte die Gelegenheit, dass wir nahe der Tür standen, und schob <em>ihn</em> sanft, aber bestimmt nach draußen.</p> <p>Als meine Stabsabteilung gut sechs Monate später aufgrund von Personalverschiebungen ihre beiden Unteroffiziere an den Bürokratiebetrieb der Kölner Hörsäle verlor, riet mir André tatsächlich einen der frei gewordenen <em>Gruppenführerposten</em> mit Falk Kastl zu besetzen. <em>Bei jedem anderen hätte ich gedacht, </em><em>dass er mich auf den Arm nehmen möchte</em>, aber André macht <em>keine</em> Scherze, schon gar nicht wenn es um <em>d</em>ienstliche Angelegenheiten geht. Als er auf meinen entgeisterten Blick hin, seine Empfehlung lediglich <em>wiederholte</em><em>, als ob ich ihn nicht verstanden hätte</em>, wurde ich deutlicher und verlangte, eine Erklärung dafür, dass ich ausgerechnet einen mir als arbeitsscheu<em> und</em> <em>dreist</em><em> bekannten</em> Feldwebelanwärter <em>zu meinem engsten Mitarbeiter und Stellvertreter machen soll</em><em>t</em><em>e</em>.</p> <p>»Falk mangelt es nicht an Talenten, weder im Praktischen noch im Organisatorischen. Außerdem …« André holte <em>tief Luft</em>, beließ es dann aber bei einem <em>schlichten</em>: »Seit wann zweifelst Du an meinem Rat? Hör einfach auf das, was ich Dir sage.« Wenn er sich nicht gerade ereifert, hält André seine Ausführungen gerne kurz und prägnant.</p> <p>Ich erinnerte ihn jedoch an den inzwischen ein halbes Jahr zurückliegenden Vorfall in der Turnhalle. Meinen Vorwurf, dass er Falk nur loswerden wollte, wies er energisch zurück und versicherte mir, dass er damals nicht so in Rage geraten wäre, wenn er in Falk nicht eine<em>n</em> der vielversprechendsten Offiziersanwärter gesehen hätte. Er beschrieb Falk als hochmotiviert, fast schon überengagiert. Er würde <em>den Posten</em> nicht nur vortrefflich besetzen, sondern habe<em> ihn</em> verdient.<em> </em>Auch wenn ich noch immer nicht überzeugt war, versprach ich André, mir Falks Verwendung in meiner Abteilung durch den Kopf gehen zu lassen. <em>Das</em> sage ich bei Personalfragen immer, <em>mache</em> am Ende <em>aber</em> genau das, was André mir vorgeschlagen hat. So auch damals.</p> <p>Da ich die Soldaten, die mit mir zusammenarbeiten sollen, gerne vorab um ihre offene und unverbindliche Meinung bitte, beschloss ich, Falk einen kurzen Besuch abzustatten, und fragte mich nach Dienstschluss im Gebäude des Hochgebirgsjägerzugs zu seiner Stube durch. Da sich auf mein Klopfen hin nichts regte, trat ich unaufgefordert ein und fand den Raum verlassen vor. Es roch vertraut. Soldatenstuben ha<em>ben</em> einen<em> Geruch</em>, der zwar mit der Tageszeit variiert, aber dennoch unverkennbar bleibt. Mal <em>dominiert der Geruch</em> von alten Socken und feuchte<em>n Rucksäcken</em>, mal der von frisch gestärkter und gebleichter Wäsche oder der von Shampoo und Deodorant, aber eine Soldatenstube riecht immer nach Soldatenstube. Es war früher Abend, der Geruch von Schweiß<em> verflüchtigte sich</em><em> gerade</em><em> durch die angelehnten Fenster</em><em>, während aus den zum Trocknen aufg</em><em>e</em><em>hängten Handtüchern parfümierte Düfte</em> aufstiegen<em>.</em></p> <p>Ich schaute mich um und erkannte Falks Bett an Annas Foto, das hinter dem Kopfkissen an der Wand klebte. Daneben hing ein Poster<em>, dessen</em> rissige Ecken und Ränder sorgfältig mit Klebeband ausgebessert worden waren. Da von Falk selbst jedoch jede Spur fehlte, machte ich schließlich kehrt, um dem Vermissten vor dem Waschraum geradewegs in die Arme zu laufen.</p> <p>Einen Arm voll beladen mit Badeutensilien, zupfte die Hand des anderen nervös an einer Igelfrisur. Falk hatte sein schwarzes Haar dazu <em>gebracht</em>, jeglichen Bemühungen der Schwerkraft zum Trotz nach allen Seiten abzustehen. Als er mich erkannte, grüßte er zunächst überrascht, wechselte aber, ohne große Umschweife und noch bevor ich ihm den Grund meines Besuchs erläutern konnte, zu dem Thema, das ihm gerade besonders dringend auf dem Herzen zu liegen schien: »Sehe ich gut aus?«</p> <p>Er hörte mit dem Zupfen auf und drehte seinen Kopf nach allen Seiten, damit ich mir ein Bild machen konnte. Ich ignorierte seine Frage und erzählte ihm stattdessen von Andrés Plänen. Er grinste breit und schaute mich erwartungsvoll an: »Und? Und, und, und?« Da er offenbar <em>keine konkreten Fragen hatte</em>, sagte ich ihm, er solle sich über Andrés Vorschlag Gedanken machen und mir im Laufe <em>der</em> nächsten <em>Woche</em> Bescheid geben, wie er <em>dazu</em> stehe. Falk wollte sofort einschlagen, doch ich <em>betonte</em>, dass ich nicht auf einen vorschnelle Entschluss aus war, sondern auf seine besonnene Entscheidung wartete. <em>Falk</em><em> </em><em>schlug die Hacken zusammen, </em><em>legt</em><em>e</em><em> die Hand, die zuvor an seinen </em><em>Haaren </em><em>herumgezupft hatte, an den Kopf und</em><em> schmetterte,</em><em> ohne dabei sein Grinsen abzulegen</em><em>, ein lautes Jawohl heraus.</em></p> <p>Ich dachte, <em>wir hätten uns verständigt</em>, als beim Verlassen des Gebäudes ein Fenster über mir aufgerissen wurde und Falk mir hinterher rief, dass er sich entschieden habe: »Ich hab mir’s überlegt. Ich bin dabei!« Ich stellte mich taub und ging, ohne mich umzudrehen, weiter. Er durfte auf keinen Fall meinen amüsierten Gesichtsausdruck sehen. Bevor ich um die Ecke des Gebäudes bog und damit aus seinem Sichtbereich verschwand, hörte ich noch ein "Bis morgen dann!" über den Hinterhof der ersten Kompanie schallen.</p> <p>Obwohl Falk und ich selten einer Meinung sind und es oft zu Reibereien zwischen uns kommt, <em>verstehen wir uns prima</em>, wenn es ums Klettern geht<em>.</em> Er ist einerseits mit enthusiastischem Pioniergeist zu <em>jedem</em> Wagnis bereit, andererseits auf Sicherheit bedacht und in jedem Handgriff gewissenhaft. Auch wenn mir sein <em>Geplapper</em> oft auf die Nerven <em>geht</em>, wurden wir bald eingeschworene Kletterpartner. Wir suchten nach<em> Wegen abseits der</em> traditionellen <em>R</em>outen,<em> </em>probierten neue Klettertechniken aus, über die wir in Magazinen gelesen hatten, und kauften <em>alles</em>, <em>was </em><em>die Kletterkataloge und </em>Sportgeschäfte als den letzten Schrei anpriesen<em>.</em> Selbst <em>w</em>enn wir <em>w</em>ährend einer <em>anstrengenden</em> <em>Gipfel</em>tour unvorbereitet an einem steilen Bergh<em>ang</em> biwakieren mussten,<em> gab es </em><em>kein Gemeckere oder</em><em> Schuldzuweisungen</em>. Wir versuchten einfach zu schlafen und nicht zu erfrieren. Falk hielt sich warm durch Reden, ich durch Schweigen.</p> <p><em>Die Namen, unter denen wir die Routen in unsere</em><em>n</em><em> Tourenbücher</em><em>n</em><em> </em><em>und</em><em> im Gipfelbuch verewigten, </em><em>sprachen für sich</em><em>:</em><em> </em><em>Eis</em><em>stieg, </em><em>Schachtspange, </em><em>Klimmzug oder Rückwärtsgang. </em><em>Wenn Falk </em><em>bei der Namensgebung federführend war</em><em>, </em><em>kamen auch Namen wie</em><em> Spiderman </em><em>dabei heraus </em><em>oder</em><em>:</em><em> ›Was eine Plackerei!‹</em></p> <p><em>D</em>ie uns vertrauten <em>Kletterrouten</em><em> </em><em>versuchten</em><em> wir</em> blind, und wenn es uns gelang eine uns unbekannte Route gleich beim ersten Versuch fehlerfrei, und ohne uns auf das Sicherungsseil zu verlassen, in einem Zug zu durchsteigen, benutzte Falk einen roten Stift, um die Route und unsere Namen in sein Tourenbuch einzutragen. Er sammelt diese flüchtige Trophäen wie andere Leute <em>Anstecknadeln</em> oder <em>Biergläser</em>.</p> <p>Auch André und Gunnar <em>sind</em> manchmal mit von der Partie. Solche Touren empfinde ich zwar <em>aufgrund Andrés</em><em> übertriebener Ernsthaftigkeit</em><em> und Gunnars Mangel </em><em>dar</em><em>an</em> <em>in der Regel als anstrengend</em>, <em>doch</em> es wäre gelogen zu behaupten, dass es mir keinen Spaß machen würde, mit dieser Truppe aus begabten und experimentierfreudigen Bergsteigern unterwegs zu sein. Ganz so einsam, wie ich es gerne vorgebe, bin ich also gar nicht, aber das alles zählt für mich jetzt nicht mehr. Die Berge stehen auf der Spitze und alle Wasser fließen zu einem Punkt. Ein Anruf von <em>ihm</em> und alles wäre gut.</p> <p>~ Wilhelm Fenner</p> </div> <div class="field field--name-field-ort field--type-link field--label-hidden field__item"><a href="https://www.openstreetmap.org/relation/939341">Mittenwald</a></div> <div class="field field--name-field-datum field--type-datetime field--label-hidden field__item">Donnerstag, 17. Okt.. 1991</div> <div class="field field--name-field-bezugsort field--type-link field--label-inline"> <div class="field__label">Bezugsort</div> <div class="field__item"><a href="https://www.openstreetmap.org/relation/939341">Mittenwald</a></div> </div> <div class="field field--name-field-bezugsdatum field--type-datetime field--label-inline"> <div class="field__label">Bezugsdatum</div> <div class="field__item">Donnerstag, 17. Okt.. 1991</div> </div> <div class="field field--name-field-kapitel field--type-integer field--label-above"> <div class="field__label">Kapitel</div> <div class="field__item">2</div> </div> <div class="field field--name-field-dateinummer field--type-integer field--label-inline"> <div class="field__label">Dateinummer</div> <div class="field__item">202</div> </div> Thu, 16 Mar 2023 16:55:48 +0000 eloroke 29 at https://www.adamsakte.de Das blaue Band https://www.adamsakte.de/node/30 <span class="field field--name-title field--type-string field--label-hidden">Das blaue Band</span> <span class="field field--name-uid field--type-entity-reference field--label-hidden"><span>eloroke</span></span> <span class="field field--name-created field--type-created field--label-hidden">Do., 16.03.2023 - 18:03</span> <div class="clearfix text-formatted field field--name-body field--type-text-with-summary field--label-hidden field__item"><p>Die drei Wochen in der Großstadt haben nichts verändert. Nicht dass ich der Stadt eine Chance gegeben hätte. Entgegen Falks gut gemeintem Rat, mied ich ihre Menschen, ihre Plätze, ihren Flair. Falk hat es mir dieses Mal aber auch einfach gemacht und sich zurückgehalten. Ich bin mir jedoch im Nachhinein nicht sicher, ob ich ihn am Ende dafür bestraft habe, dass er meinen Hang zur Eigenbrötelei respektiert hat oder weil er mich dazu gebracht hat, an einem zum Scheitern verurteilten Plan festzuhalten. Wie ich es auch drehe und wende, ich komme nicht gut dabei weg.</p> <p>Meine schlechte Laune an Falk auszulassen tröstet mich allerdings genauso wenig über den unglücklichen Ausgang meiner Begegnung mit Elli hinweg wie das Desaster in Oslo. Vermutlich ist Elli der wahre Grund, warum ich mir in letzter Zeit alles so sehr zu Herzen nehme, seien es Gunnars Marotten oder unsere Niederlage im zurückliegenden Wettkampf. Anstatt wie Falk über die Sache zu lachen oder wie André besserwisserisch Rückschau zu üben, schreibe ich Listen, meine vereinfachte, aber dafür übersichtlich strukturierte Sicht auf die Welt.</p> <p>Auf der Liste der Dinge, die in Oslo schief gelaufen sind, steht zuoberst meine Gier nach einem Sieg, und gleich darunter meine Einbildung, ich könnte diesen alleine erringen. Dass mir andere in meiner Überheblichkeit gut zuredeten, kam mir da gerade recht. Es braucht jedoch keine Liste, um zu sehen, dass die Fehlentscheidungen <em>während</em> der Vorbereitungen die Katastrophe am Ende <strong>unvermeidlich werden ließen</strong>. Nachdem Heidt glaubte, für die Gesundheit seiner Soldaten sorgen zu können, indem er ihnen die Teilnahme an Sportveranstaltungen untersagte, hätte ich Falks waghalsigen Plan zur Rettung unserer Wettkampfteilnahme ablehnen müssen und hätte speziell Strefler nicht als Ersatzmann annehmen dürfen – meine Unentschlossenheit ist ein weiterer Punkt auf der Liste.</p> <p>Auch Gunnars gekränktes Selbstwertgefühl habe ich auf die Liste gesetzt. Dieser Dauerzustand stellt an sich noch kein Problem dar, führte jedoch dazu, dass er sich kurz vor dem Wettkampf um seine Gesundheit und dadurch die Mannschaft aus ihrem Gefüge brachte.</p> <p>Sein zwanghaftes Kräftemessen definiert sein ganzes Dasein. Seine Tattoos sind provokativer, seine Witze derber und die <em>Schuhsohlen</em> seiner Sportschuhe federnder als die von jedem anderen am Standort. Niemand verträgt mehr Bier als er, niemand mehr Sahne auf dem Kuchen oder mehr Pfeffer in der Suppe.</p> <p>Es setzt sich aber auch niemand so sehr wie er für den Umweltschutz und bedrohte Tierarten ein und die meisten Bücher hat er auch gelesen. Mal trägt er bunte Uhren, mal schminkt er seine Augen, mal färbt er seine Haare. Die Farben wechseln dabei zwischen schwarz, rot und wasserstoffblond, je nachdem was gerade mehr Aufsehen erregt, so wie seine Haut je nach Trend mal blasser, mal gebräunter ist. Und in einem Disput vertritt er stets die Mindermeinung, es sei denn ich vertrete sie auch. Dann ist er dagegen. Denn das Einzige, was ihm wichtiger ist, als schrill zu sein, ist sein Bedürfnis, mich zu übertreffen, was er entweder in übertriebener Kameradschaftlichkeit oder feindseligen Eifersüchteleien auslebt.</p> <p>Ich hatte einen sechswöchigen Trainingsplan aufgestellt, der uns bis zu den Wettkampftagen in Höchstform bringen sollte. Die Teilnehmer, die sich aus meiner Stabsabteilung rekrutierten, waren für die Vorbereitungen vom regulären Dienst freigestellt und absolvierten ihre Trainingseinheiten unter Falks Leitung, während der Hochzug das Wettkampfprogramm unter Andrés Leitung durchexerzierte. Gunnar – von Dienst wegen an einen der vielen Schreibtische der Stabskompanie gekettet – trainierte allein. Sein persönliches Ziel war jedoch nicht, den Trainingsplan zu absolvieren, sondern mich zu übertreffen. Anstatt der von mir ausgearbeiteten vier Einheiten pro Woche trainierte er jeden Tag und ersetzte die Erholungsphasen durch weitere Leistungsmärsche und Ausdauerübungen.</p> <p>Zwei Wochen vor dem großen Ereignis brach er schließlich bei einer Übung, die als gemächlicher Lauf vorgesehen war, zusammen und kam nicht wieder auf die Beine. Da kurz zuvor vier Mitglieder aus dem Hochzug wegen kleinerer Wehwehchen von unserem Lazarettarzt zur Bettruhe verdonnert worden waren, suchte man nach einem Grund für diese hohe vorwinterliche Ausfallquote und fand ihn, indem man meinem Trainingsplan zu hoch gesteckte Leistungsziele und mit der inneren Führung unvereinbar harte Methoden unterstellte. Heidt verweigerte dem Hochzug daraufhin die Teilnahme an meinem Programm und dezimierte somit mein Wettkampfteam kurzer Hand um drei wichtige Männer: André, Illing und Harrach. Auch Gunnar, der nach seinem Kollaps fiebrig und schwach darniederlag, fehlte mir. Denn trotz seiner bisweilen fragwürdigen Motivation gehörte er zusammen mit André und Falk zum strategischen Kern des Teams. Meine Wettkampfaufstellung war dahin.</p> <p>Da mein Protest gegen diese Maßnahmen wirkungslos blieb und ich unter diesen Umständen eine Teilnahme für sinnlos erachtete, wies ich Falk an, das Proje<em>kt</em> abzuschreiben, von den in den Sand gesetzten Geldern zu retten, was noch zu retten war, und einen alternativen Dienstplan für den Dezember auszuarbeiten. Aber ich kenne Falk, weswegen ich mich <em>w</em>ährend des Mittagessens fragte, was so lange dauerte. Ich erwartete jeden Augenblick, dass die Tür aufgerissen wurde und Falk mit seiner lauten Art in die Stille des Offizierskasino platzte<em>.</em> <em>I</em>ch konnte meine Spaghetti jedoch in Frieden zu Ende essen. Erst als ich bereits auf dem Weg ins Büro war, kam mir Falk aufgeregt winkend entgegen gelaufen. Ich tat überrascht.</p> <p>Natürlich hatte er nichts von alledem getan, was ich ihm aufgetragen hatte. Stattdessen hatte er auf d<em>er</em> Suche nach einer Ersatzmannschaft sämtliche Dienstgebäude abgeklappert <em>und war</em> sogar <em>zum</em> Schießplatz rausgefahren. Er hatte sich auch gleich die Unterstützung der jeweiligen Einheitsführer <em>gesicher</em><em>t</em><em> und dar</em><em>a</em><em>ufhin sofort </em>die Telefondrähte heißtelefoniert, um bei der Wettkampfleitung anzufragen, ob ein<em>e</em><em> Umbes</em><em>e</em><em>tzung des Teams noch möglich sei</em><em>. Nachdem er von Oslo grünes Licht erhalten hatte, hatte er </em><em>das Reisebüro</em><em> angerufen, um sich über die Möglichkeit einer</em><em> Umwidmung der Flugtickets</em><em> </em><em>zu</em><em> erkundigen</em><em>.</em><em> Er hob den Daumen</em><em> und zwinkerte mir zu</em><em>. In solchen Angelegenheiten kann ich mich ganz auf ihn verlassen.</em></p> <p><em>N</em><em>achdem er </em><em>mich</em><em> jedoch</em><em> in die Details seines</em><em> Plan</em><em>s</em><em> </em><em>eingeweiht</em><em> hatte, runzelte ich die Stirn.</em><em> </em><em>Die Neubesetzung der Positionen in den Mannschaftskämpfen war nicht besonders raffiniert durchdacht, sondern </em><em>das Ergebnis einfacher</em><em> und zu</em><em>gleich</em><em> absurder</em><em> Mathematik</em><em>.</em><em> </em><em>Nachdem die Mannstärke unseres Kernteams durch den Wegfall von Gunnar und André halbiert worden war, hatte Falk sie wieder </em><em>aufgestockt</em><em>, indem er </em><em>die beiden verbleibenden Namen</em><em> einfach</em><em> doppelt eingetragen hatte.</em><em> </em><em>Nach </em><em>dieser</em><em> neue</em><em>n</em><em> Aufstellung</em><em> </em><em>sollten er und ich</em><em> zusätzlich zu unserer Aufgabe als Gruppenführer</em><em> jeden Tag anstatt </em><em>wie ursprünglich geplant </em><em>nur jeden zweiten </em><em>im Hauptrennen</em><em> antreten.</em><em> Außerdem beinhaltete sein Plan leere Ersatzbänke und die zwei </em><em>Neurekrutierungen vom Schießplatz.</em></p> <p><em>Bei einem </em><em>gewöhnlichen Sportturnier</em><em> hätte </em><em>diese</em><em> Rechnung vielleicht aufgehen können, aber d</em>ie Winterkämpfe in Norwegen <em>sind kein</em> Kräftemessen, wie man <em>es</em> von Sportereignissen her kennt, die oft im Fernsehen ausgestrahlt werden, sondern <em>ein</em> Patrouillenlauf, der sich über mehrere Tage hinzieht und d<em>en</em> man nur als Team bestehen kann. <em>Statt</em> starke Einzelkämpfer wie beim Tennis oder einer gut eingespielten Mannschaft wie beim Fußball braucht man <em>gl</em><em>eichsam kooperativ und unabhängig von einander operierende Einheiten, die </em><em>die gestellte Tagesaufgabe </em><em>durch Ausdauer, Teamwork und Ressourcenplanung</em><em> meistern</em><em>.</em><em> Eine gute </em><em>Gesamts</em><em>trategie zählt mehr als individuelle Höchstleistung</em><em>en,</em><em> Improvisationstalent mehr als </em><em>vorbereitendes</em><em> Training.</em></p> <p>Es ist immer wieder bemerkenswert, wie schnell sich Falks Gemütslage ändern kann. Es bedurfte nur meines skeptischen Stirnrunzelns, um seine Begeisterung in Enttäuschung umschlagen zu lassen, seine gute Laune in Trotz und Wut, der er auch sofort Luft machte.</p> <p>Ich versuchte, meine Bedenken zu erläutern, doch er wollte weder einsehen, dass man die Mannschaftsstärke nicht allein an zwei Personen festmachen konnte, noch dass es riskant war, mit einer leeren Ersatzbank und zwei neuen Rekruten, deren sportliche Leistungen weder er noch ich beurteilen konnte, ins Rennen zu gehen. Natürlich verstand ich seinen Zorn, und da ich sowohl seinen Mut als auch sein leidenschaftliches Engagement bewunderte, erlaubte ich ihm, die beiden Ersatzkandidaten einem Leistungstest unterziehen und mir am besten bis zum Abend, spätestens aber am folgenden Morgen eine überarbeitete Version seiner neuen Wettkampfaufstellung vorzulegen.</p> <p>Der Rest der Geschichte erzählt sich fast von selbst. Ich hatte noch am Abend eine Beurteilung der neuen Teammitglieder auf dem Schreibtisch liegen, inklusive Kopien aus ihren Dienstakten, die ihre Spezialausbildungen und erworbenen Sportabzeichen <em>sowie</em> Medaillen <em>von T</em>urnieren auflisteten. Außerdem einen mit Schreibmaschine getippten Mannschaftsplan.</p> <p>Falk saß mir ungeduldig gegenüber, während ich die Papiere durchging. Als ich aufsah, blickte <em> mich</em> Falk <em>durchdringend</em><em> an</em>. Er sah überarbeitet aus<em>.</em> <em>E</em>r hatte wohl zu viel auf dem Trainingsplatz herumkrakelt, zu wenig getrunken<em>,</em> keine Pause gemacht, aber dafür zu viele Sorgen. Trotzdem leuchteten seine Augen vor Erwartung. Ein Nein hätte ihm das Herz gebrochen und an meinem Stolz gekratzt, weswegen ich schließlich seufzte und ja sagte.</p> <p>Als wir Mittenwald verließen, waren die meisten noch guten Mutes. André, Illing und Harrach gaben uns noch ein paar <em>Last-Minute-</em>Ratschläge mit auf den Weg: Blaubeersuppe und <em>Erhabenheit</em>. Sogar Gunnar hatte sich <em>von</em> seinem Sterbebett erhoben, um uns auf die Schulter zu klopfen und<em> </em><em>von der Mannschaft au</em><em>f</em><em> sein Horrido</em><em> ein</em><em> dreifaches Joho zu hören. </em><em>Der Schlachtruf</em><em> </em><em>er</em><em>klang </em><em>laut und schallend </em><em>wie ein Siegesversprechen</em>. Ich hielt den Optimus für gewagt<em>, aber ich wusste, dass ich zuversichtlich bleiben oder zumindest so wirken musste.</em></p> <p>In Oslo endete der Optimismus. Nicht gleich am ersten Tag, aber wir litten zusehends an der knappen Kalkulation unseres Plans. Die Pausen zwischen den einzelnen Wettkämpfen reichten kaum aus, um die geprellten Knochen zu kühlen, die überanstrengten Muskeln zu erholen und genügend Ruhe und Schlaf für die nächsten Herausforderungen zu finden. In den ersten Runden schafften wir es zwar noch auf das Siegertreppchen, doch am vierten Tag gingen wir zum ersten Mal leer aus und am letzten Tag kam es schließlich zu der fast schon überfälligen Katastrophe.</p> <p>Strefler, einer der kurzfristig eingesprungenen Ersatzmänner, ging beim vorletzten Abschnitt eines Staffelparcours in die Knie. Er war zu ehrgeizig gestartet und hatte sich bereits nach einem drittel der Strecke verausgabt. Anstatt nach einem Rettungshubschrauber zu rufen, entschied sich Falk jedoch, als er zusammen mit einem Kameraden an der Unglücksstelle eintraf, Strefler so weit zu stabilisieren, dass sie ihn zum nächsten Übergabepunkt schleifen konnten. Für ihn einzuspringen, hätte gegen die Wettkampfregeln verstoßen, da jeder Teilnehmer in nur einem Streckenabschnitt antreten durfte und die beiden Helfer ihr Segment bereits hinter sich hatten.</p> <p>Ich bekam von all dem nichts mit, während ich am letzten Übergabepunkt auf den Staffelträger meiner Mannschaft wartete. Ich fragte mich nur, was so lange dauerte. Die Antwort darauf kam schließlich in <em>F</em>orm eines seltsamen Dreiergespanns daher, das ich aus der Ferne anrücken sah. Erst als die Formation näher herankam, erkannte ich, dass Strefler von seinen beiden Kameraden gestützt wurde und offenbar verletzt oder anderweitig angeschlagen war. Ich gab sofort Zeichen abzubrechen, doch Falk ließ nicht von mir beirren. Vermutlich bemerkte er mich noch nicht einmal, weil er sich so verbissen darauf konzentrierte, sein Unterfangen zu einem Ende zu führen.</p> <p>Die letzten Meter zum Übergabepunkt legte Strefler aus eigener Kraft zurück. Seine Lippen waren blau, seine Augen glasig und jeder seiner tiefen und kraftvollen, aber dennoch schleppenden Atemzüge <em>wurde</em> von einem hellen nach innen gestülpten Schrei begleitet, wie das um Luft ringen nach einem langen Tauchgang. Zum Glück standen an jedem Übergabepunkt Sanitäter bereit, die umgehend mit einer Decke und einem Koffer anrückten. Sie hätten jedoch Gewalt anwenden müssen, um Strefler daran zu hindern, mir mit zittrigen Fingern die Mannschaftsschärpe um die Schultern zu legen. Erst nach einem müden Blick, <em>in den er vermutlich allen ihm noch verbliebenen Kampfgeist gelegt hatte</em>, übergab er sich der Schwerkraft und den helfenden Händen seiner Retter.</p> <p>Ich hielt unsere Teilnahme am Wettkampf damit für beendet. Strefler brauchte einen Arzt und wir hatten vermutlich gleich gegen mehrere Wettkampfregeln verstoßen, wenn nicht <strong>per Definition, dann sicher gemessen an ehrlichem Sportsgeist</strong>. Darüberhinaus lagen wir bereits über eine Stunde hinter den <em>Spitzent</em>eams zurück. Doch Falk’s Blick sagte mir, dass ich auch dieses Mal nicht mit vernunftgebotenen Argumenten bei ihm durchkommen <em>würde</em>. Deswegen ließ er mich auch gar nicht erst zu Wort, kommen als ich Luft holte, um <em>sagen, was er nicht hören wollte</em>, sondern deutete auf die Schärpe, die mir Strefler mit letzter Kraft umgelegt hatte. Seine Stimme war um Tapferkeit bemüht, als er mir versicherte, dass er sich um alles kümmern werde. Falks Entschlossenheit und Streflers letzte Geste ließen mir keine andere Wahl, als die Schärpe festzuzurren und die absolut aussichtslose Verfolgung der gegnerischen Teams aufzunehmen.</p> <p>Mein Zieleinlauf war deprimierend. Ich hatte zwar einen Teil der verlorenen Zeit wiedergutmachen können, aber als ich die Ziellinie überquerte, <em>wurde ich </em>vo<em>m</em> Ordnungspersonal zur Seite <em>gewunken</em><em> und über die </em> Disqualifikation meiner Mannschaft <em>in Kenntnis gesetzt</em>. Obwohl ich es hatte kommen sehen, war ich bitter enttäuscht<em>.</em> Als ich die Arena <em>verließ, hörte ich noch die</em><em> Wellen des</em><em> Jubel</em><em>s</em><em>, die </em><em>die</em><em> nach mir eintreffenden</em><em> </em><em>T</em><em>eam</em><em>s</em><em> </em><em>auslösten</em><em>,</em><em> und sah wie die </em><em>J</em><em>ury die </em><em>Zeiten</em><em> meines Teams von der Tafel wischte</em><em>.</em><em> Ich gab mir Mühe, </em><em>Haltung zu bewahren</em><em>.</em></p> <p>Als ich in mein Hotelzimmer zurückkehrte, fühlte ich <em>eine </em>unendlich große Leere in mir, die nur von den schweren Schnallen und den Schichten über Schichten aus dicker Wolle und <em>wetter</em>dichten<em> Nylon</em> meiner Ski<em><strong>k</strong></em><strong>leidung</strong> davon abgehalten wurde, sich im ganzen Raum auszudehnen. Während ich meine Stiefel abstreifte und aus meiner Skimontur stieg, wurde es immer schwerer, diese Leere in mir zu behalten. <em>Ich zog</em> die Vorhänge zu und <em>schaltete alle</em> Lichter aus, damit die Schatten <em>d</em><em>er</em><em> Ausbreitung der Leere</em><em> entgegenwirken</em><em> konnten</em>. <em>O</em>hne geduscht oder etwas gegessen zu haben, kroch ich ins Bett, wo ich schließlich meinem Zorn freien lauf ließ und weinte. Ich bin ein schlechter Verlierer.</p> <p>Meine Wut machte jedoch den verlorenen Sieg nicht wett<em>, sondern</em> kostete mich <em>lediglich</em> meine letzten Kraftreserven<em>, sodass ich </em>schnell in eine<em>m</em> <em>tiefen</em> und traumlosen Schlaf versank, aus dem ich erst einige Stunden später von Falks Klopfen geweckt wurde. Ich <em>fuhr</em> hoch, starrte in die Leere, erinnerte mich an alles und schickte <em>Falk</em> mit ein paar mürrischen Anweisungen weg. Ich war nicht zum Reden aufgelegt, wollte niemanden in meiner Leere.</p> <p>Der Raum war nicht vollkommen dunkel. Am Telefon leuchtete ein schwaches Licht, das seine Betriebsbereitschaft anzeigte, und am unteren Rand der Badezimmertür <em>war</em> <em>ein schmaler</em> <em>Streifen Licht zu sehen</em><em>. Auch die </em><em>Ziffern</em><em> des Radioweckers leuchtete</em><em>n</em><em> schwach.</em> Ich schlich durch das <em>schemenhafte Halbdunkel</em>, füllte meine verlorenen Flüssigkeitsreserven<em> am Wasserhahn im Badezimmer</em> auf und machte mich danach über die Schokoriegel und Salzkräcker aus der<em> Minibar</em> <em>her.</em><em> </em>Dieses bescheidene Mahl tat ungemein gut. Ich genoss das Rumoren in meinem Magen und zählte, um an nichts denken zu müssen, die Schatten<em>, bis</em><em> ich </em>erneut in einen Tiefschlaf fiel, der dieses Mal bis zum nächsten Morgen anhielt.</p> <p>Es war noch dunkel, als ich mich zunächst aus dem Bett und dann aus <em>meiner</em> Unterwäsche schälte, um <em>mir endlich</em> das Salz von der Haut zu waschen. Das warme Wasser<em>,</em> der Geruch von Seife und das quietschende Geräusch, als ich mir mit den <em>Fingern</em> durch die Haare fuhr, <em>versicherten mir</em>, dass das Gröbste überstanden war<em>. </em><em>Es</em> erinnerte mich aber auch an die traurige Wirklichkeit: Ich würde als Verlierer heimkehren.</p> <p>Zu Hause nahmen die Dinge jedoch einen ganz unerwarteten Lauf. Es waren zwei Bilder von <em>uns</em> in der Zeitung gedruckt worden<em>.</em> <em>A</em>nstatt uns als Verlierer darzustellen, hatte man uns zu Helden mit eisernem Willen und unschlagbarem Teamgeist gekrönt. Die Medaillen, die wir in den Vorrunden errungen hatten, wurden zusammen mit den Zeitungsartikeln im Mannschaftsheim aufgehängt und die unglückliche Vorgeschichte des Wettkampfs sowie die Tragödie der letzten Runde verklärten sich durch die mythenbildende Kraft der Stammtische in den Heimen schnell zu heroischen Legenden.</p> <p>Der Stachel der Enttäuschung saß mir jedoch zu tief im Fleisch, als dass mich diese nachträgliche Korrektur der Wirklichkeit hätte trösten können. Daran konnte auch Falks übersteigerter <em>Dienst</em>eifer, den er nach Oslo an den Tag legte, nichts ändern.</p> <p>Falks Kreativität beim Buße leisten kannte keine Grenzen und gipfelte darin, dass er <em>die gesamte Stabsabteilung auf dem Hof der ersten Kompanie antreten und</em><em> singen ließ. </em><em>Er</em><em> wusste, dass solche </em><em>Rituale</em><em> bei mir keine Wirkung zeigen. </em><em>W</em><em>arum er es dennoch probierte, blieb mir ein Rätsel. </em><em>Als ich nach der ersten Strophe </em><em>die Hand hob, um </em><em>d</em><em>en Gesang</em><em> zu beenden</em><em>, verstummt</em><em>e</em><em> der </em><em>Chor jedoch</em><em> </em><em>nur zögerlich</em><em>. </em><em>Einige Stimmen </em><em>wurden </em><em>nur leiser, </em><em>andere</em><em> verstummten </em><em>zwar</em><em> </em><em>kurz</em><em>, setzten dann aber wieder ein, </em><em>da </em><em>Falk </em><em>den gegenteiligen Befehl gab, indem </em><em>er </em><em>voller inbrunst weiter sang</em><em>.</em></p> <p><em>E</em><em>rst</em><em> </em><em>nach</em><em>dem</em><em> </em><em>mein </em><em>halb </em><em>fragende</em><em>r, halb auffordernder</em><em> Blick </em><em>ein Mal die </em><em>Runde </em><em>gemacht,</em><em> kehrte Ruhe ein. </em><em>Auch Falk verstummte und </em><em>trat vor, um </em><em>etwas sagen, doch </em><em>ausnahmsweise</em><em>, war ich derjenige, der ihn nicht zu Wort kommen ließ. »</em><em>Oberleutna</em><em>n</em><em>t </em><em>Kastl</em><em>«, sagte ich laut, </em><em>woraufhin Falk </em><em>sofort in </em><em>Stillgestanden wechselte</em><em>. </em><em>Die anderen Soldaten taten es ihm gleich. </em><em>Ich mache nicht gern von der Autorität gebrauch, die mir per Rangabzeichen verliehen worden </em><em>ist, </em><em>a</em><em>ber </em><em>Falk </em><em>fordert es gelegentlich heraus</em><em>.</em></p> <p><em>Ich erklärte ihm kurz</em><em>, dass sich </em><em>meiner Meinungen nach</em><em> </em><em>mangelhafte </em><em>Wettkampfvorbereitung, </em><em>strategische Fehlentscheidungen</em><em> und schlechte </em><em>sportliche </em><em>Leistu</em><em>n</em><em>gen</em><em> nicht wegsingen ließen, </em><em>und </em><em>wechselte </em><em>zu den aktuell anstehenden Aufgaben. </em><em>Die Belege</em><em> für die</em><em> Ausgabenrückerstattung </em><em>der</em><em> Osloreise</em><em> war</em><em>en immer noch </em><em>un</em><em>vollständig, </em><em>außerdem </em><em>hatte das Büro de</em><em>s</em><em> Generalinspekteur</em><em>s</em><em> </em><em>einen detaillierten Bericht über die Vorkommnisse </em><em>verlangt, die </em><em>in Oslo zur</em><em> Disqualifikation </em><em>unseres Teams</em><em> </em><em>geführt hatten</em><em>. </em><em>Fast wichtiger als die Aufarbeitung von Oslo war jedoch die Vorbereitung </em><em>auf Bad Reichenhall, </em><em>wenn wir dort nicht erneut auf eine Katastrophe zusteuern wollte</em><em>n</em><em>.</em></p> <p><em>F</em><em>alk wollte etwas erwidern, aber </em><em>ich schüttelte den Kopf,</em><em> legte den Finger </em><em>auf</em><em> die Lippen </em><em>und</em><em> </em><em><strong>erklärte</strong></em><em> ihm, dass er alles, was </em><em>er </em><em>zu sagen hatte, in </em><em>B</em><em>erichtform </em><em>auf meinen Schreibtisch legen</em><em> </em>sollte. Dann wandte ich mich an die Truppe und verkündete,<em> </em><em>dass ich wegen dringender</em><em> Dienstangelegen</em><em>heiten bis auf weiteres</em><em> </em><em>das</em><em> Kommando der Stabsabteilung auf Falk übertrug, an den </em><em>sie</em><em> sich </em><em>während der nächsten Tage</em><em> in allen Fragen </em><em>zu wenden hatte</em><em>n</em><em>.</em></p> <p><em>Falk sagte nichts, als ich </em><em>mich</em><em> ein letztes Mal an ihn wandte, </em><em>doch </em><em>in seinem Blick lag Ü</em><em>berraschung,</em><em> verletzter Stolz </em><em>und unterdrückter Trotz</em><em>. </em><em>Ich </em><em>schaute ihm eindringlich die Augen</em><em> und sagte: »</em><em>Du hast jetzt das Sagen.</em><em> </em><em>Ich </em><em>verlasse mich</em><em> auf Dich.« </em><em>Damit </em><em>überließ</em><em> ich</em><em> es ihm, ob </em><em>er </em><em>weitere Chorproben durchführen oder sich mit den Gruppenführern zusammense</em><em>t</em><em>zen wollte, um die nächsten Schritte zu planen. </em><em>So sind meine Strafen.</em></p> <p>Ich frage mich in solchen Momenten, ob ich <em>vielleicht wirklich </em>so bösartig bin, wie <strong>Tomo</strong> mir das <em>manchmal</em> vorgeworfen hat. Tomo konnte allerdings auch bösartig sein. <em>Seine Strafen waren </em>Schweigen <em>und</em> zurückgehaltene Tränen, womit er die scheußlichsten Gefühle in mir hervorrief. Obwohl ich rückschauend zu der Meinung neige, <em>dass Tomo immer der Gute gewesen ist und ich der Böse</em><em>, waren</em> seine Strafen grausamer waren als meine. Meine Strafen <em>dienen der Erziehung</em>, seine quälten nur.</p> <p>Vielleicht tue ich Tomo unrecht, wenn ich seine Grausamkeit mit Bösartigkeit gleichsetze. <em>Seine</em> Strafen funktionierten bei mir nur, weil <em>ich ohne ihn nur zur Hälfte existierte</em>. Sein Schmerz war mein Schmerz, sein Heil war mein Heil,<em> und ihn zu enttäuschen, hieß vor mir selbst zu versagen</em>. Da sich<em> die Hälfte meines Daseins aus ihm schöpfte</em><em>, schnürte mir sein</em> Schweigen die Kehle zu und brachten mich die hinter seiner Brust angestauten Tränen zum <em>Nachgeben</em><em>.</em><em> Diese tiefe Verbundenheit war damals keinem von uns so recht bewusst</em><em> gewesen</em><em>.</em><em> So wie man die Luft erst schätzen lernt, wenn sie dünn wird</em><em>.</em><em> </em><em>W</em><em>ie sehr ich an Tomo hing, </em><em>hab</em><em>e</em><em> ich erst bemerkt, </em><em>als </em><em>es</em><em> bereits</em><em> </em><em>zu spät war. Nicht viel zu spät, nur fünf Minuten</em><em> etwa</em><em>, vielleicht </em><em>noch </em><em>weniger</em><em>,</em><em> eine Minute, eine Sekunde, den Bruchteil einer Sekunde. </em><em>Ich weiß nicht genau, ab welchem Punkt sein </em><em>Abschied</em><em> </em><em>unumkehrbar </em><em>geworden war.</em></p> <p><em>Nacht für Nacht wanderte ich daraufhin durch di</em><em>e </em><em>Duschhallen des Waisenheims</em><em>, wo die Schatten von der </em><em>hohe</em><em>n</em><em> </em><em>Decke </em><em>herab</em><em>hingen und </em><em>sich </em><em>in </em><em>den Ecken </em><em>zu </em><em>seltsam geformten Klumpen</em><em> verdichteten</em><em>,</em><em> und </em><em>raunte</em><em> To</em><em>mo</em><em>s Namen in die Dunkelheit</em><em>.</em><em> </em><em>I</em><em>n meiner Verzweiflung </em><em>versuchte</em><em> ich sogar zu beten</em><em>.</em><em> </em><em>Mein</em><em> Gebete richteten sich </em><em>sowohl </em><em>an </em><em>den </em><em>lieben </em><em>Gott </em><em>im Himmel</em><em> als auch</em><em> an</em><em> </em><em>die</em><em> Geister, </em><em>die laut</em><em> Tomo </em><em>alles</em><em> Irdische</em><em> durchdrangen</em><em>. </em><em>Hätte ich damals </em><em>weitere Religionen gekannt</em><em>, hätte ich es auch bei </em><em>ihren Göttern</em><em> probiert</em><em>. </em><em>Doch es half alles nicht. Tomo blieb fort.</em></p> <p>Obwohl mir Tomos Ende in klarer und schrecklicher Erinnerung geblieben ist, weiß ich nicht zu sagen, wie es eigentlich begonnen hat. Für manche Dinge im Leben gibt es ein erstes Mal<em>, </em>die erste Schlittenfahrt, die erste Gratwanderung <em>oder</em> die erste zärtliche Berührung. Andere Dinge hingegen schleichen sich langsam und heimlich ins Leben wie die Wahrnehmung von Licht und Schatten, das Selbstverständnis oder die Entwicklung von Idealen.</p> <p>Meine Freundschaft zu Tomo gehört zu den letzteren Erfahrungen. Denn genauso wenig, wie ich mich an meinen ersten Herzschlag oder Atemzug erinnern kann, gibt es für mich auch keinen Zeitpunkt, der Tomos Erscheinen in meinem Leben markiert. Soweit ich mich entsinnen kann, war er immer schon da, so wie der Boden, auf dem ich stehe, die Luft, die mich umgibt, und die grellen Blitze in meinem Kopf.</p> <p>Wenn ich mich durch den dichten Nebel der Vergangenheit bis zu meinen ersten Erinnerungen zurücktaste, lande ich in einer dunklen Sackgasse, wo ich ganz auf mein Fühlen und Hören angewiesen bin. In den Schatten fühle ich eine Furcht, die nicht meine eigene ist, höre ein Wimmern, obwohl ich selbst keinen Laut von mir gebe, greife nach etwas, das keine Substanz hat, und während ich mich im Dunkeln vorantaste, verändert sich die Geometrie des Raums. D<em>ie</em> Schreckgespenster, d<em>ie</em> im Gefolge der nächtlichen Schatten an den Wänden entlangkrochen und in den dunklen Winkeln lauerten, <em>raubte</em><em>n</em><em> mir den Schlaf. </em><em>Oft riss ich </em><em>in helle</em><em>m</em><em> Entsetzen</em><em> </em><em>an meinen Gurten</em><em> </em><em>oder </em><em>gegen</em> die Tür meiner Zelle <em>oder</em> das Glas meines <em>B</em>etts. Nacht um Nacht stand ich so die schlimmsten <em>Torturen</em> durch, <em>bis mir entweder vor </em>Erschöpfung die Kraft versagte oder das Tageslicht alle Schatten und Gespenster vertrieb.</p> <p>Auch wenn mein erwachsener Verstand – eine Institution, die sich ebenfalls unbemerkt etabliert hat – nach etwas <em>Präziserem und Überzeugenderem</em> verlangt, vermag meine Erinnerung nicht tiefer in das Urdunkel vorzudringen. Wann und wie sich eines Nachts Tomos Gestalt aus den Schatten löste, ist mir entfallen. Er ist Teil all meiner lebendigen Erinnerung diesseits der dunklen Leere.</p> <p>Nachdem wir Freundschaft geschlossen hatten, wuchs <em>unsere Verbundenheit</em> mit jeder Nacht, die wir zusammen verbrachten, und mit jedem Tag, während dem<em> wir</em><em> auf die</em><em> nächste Nacht </em><em>warteten</em>. In diesem entgegengesetzt zum Rest der Welt getakteten Tag-Nacht-Rhythmus erschufen wir unsere eigene Sprache und pflegten unsere eigenen Riten in dem uns eigenen Universum. Da ich der Einzige war, der von Tomos Existenz wusste, weil er mich nur in einsamen nächtlichen Stunden besuchen kam, gab es niemanden, der uns in unsere Zweisamkeit geredet hätte. In nahezu vollkommener Isolation gestalteten wir so unsere Wirklichkeit und Welt.</p> <p>~ Wilhelm Fenner</p> </div> <div class="field field--name-field-ort field--type-link field--label-hidden field__item"><a href="https://www.openstreetmap.org/relation/939341">Mittenwald</a></div> <div class="field field--name-field-datum field--type-datetime field--label-hidden field__item">Dienstag, 17. Dez.. 1991</div> <div class="field field--name-field-bezugsort field--type-link field--label-inline"> <div class="field__label">Bezugsort</div> <div class="field__item"><a href="https://www.openstreetmap.org/relation/2775550">Oslo</a></div> </div> <div class="field field--name-field-bezugsdatum field--type-datetime field--label-inline"> <div class="field__label">Bezugsdatum</div> <div class="field__item">Mittwoch, 4. Dez.. 1991</div> </div> <div class="field field--name-field-kapitel field--type-integer field--label-above"> <div class="field__label">Kapitel</div> <div class="field__item">2</div> </div> <div class="field field--name-field-dateinummer field--type-integer field--label-inline"> <div class="field__label">Dateinummer</div> <div class="field__item">204</div> </div> Thu, 16 Mar 2023 17:03:05 +0000 eloroke 30 at https://www.adamsakte.de Das blaue Band II https://www.adamsakte.de/Tagebuch/Das%20blaue%20Band%202 <span class="field field--name-title field--type-string field--label-hidden">Das blaue Band II</span> <span class="field field--name-uid field--type-entity-reference field--label-hidden"><span>eloroke</span></span> <span class="field field--name-created field--type-created field--label-hidden">Do., 16.03.2023 - 21:45</span> <div class="clearfix text-formatted field field--name-body field--type-text-with-summary field--label-hidden field__item"><p>Ich habe es über die Jahre hinweg <em>geschafft</em>, mich mit einer Welt zu arrangieren, in der es keinen Tomo mehr gibt<em>.</em> <em>D</em>och nun ist Elli in dieser Welt aufgetaucht und alles geht wieder von vorne los. Ihn wiederzusehen, scheint jedoch ein unerfüllbarer Traum<em>,</em> <em>eine</em> kräftezehrende und zermürbende Situation. Das Leben ist so einfach, wenn man keine Träume hat. <em>Und</em> auch wirklich nur dann.</p> <p>~ Wilhelm Fenner</p> </div> <div class="field field--name-field-ort field--type-link field--label-hidden field__item"><a href="https://www.openstreetmap.org/relation/939341">Mittenwald</a></div> <div class="field field--name-field-datum field--type-datetime field--label-hidden field__item">Dienstag, 17. Dez.. 1991</div> <div class="field field--name-field-bezugsort field--type-link field--label-inline"> <div class="field__label">Bezugsort</div> <div class="field__item"><a href="https://www.openstreetmap.org/relation/939341">Mittenwald</a></div> </div> <div class="field field--name-field-bezugsdatum field--type-datetime field--label-inline"> <div class="field__label">Bezugsdatum</div> <div class="field__item">Dienstag, 17. Dez.. 1991</div> </div> <div class="field field--name-field-kapitel field--type-integer field--label-above"> <div class="field__label">Kapitel</div> <div class="field__item">2</div> </div> <div class="field field--name-field-dateinummer field--type-integer field--label-inline"> <div class="field__label">Dateinummer</div> <div class="field__item">206</div> </div> Thu, 16 Mar 2023 20:45:28 +0000 eloroke 47 at https://www.adamsakte.de Das Verhör https://www.adamsakte.de/Tagebuch/Das%20Verh%C3%B6r <span class="field field--name-title field--type-string field--label-hidden">Das Verhör</span> <span class="field field--name-uid field--type-entity-reference field--label-hidden"><span>eloroke</span></span> <span class="field field--name-created field--type-created field--label-hidden">Do., 16.03.2023 - 18:06</span> <div class="clearfix text-formatted field field--name-body field--type-text-with-summary field--label-hidden field__item"><p>Morgen ist Weihnachten. Der Standort ist wie ausgestorben. Die Fußpfade und Sammelplätze, die sonst täglich von abertausend schweren Stiefeltritten platt gewalkt werden, liegen unter einer zwanzig Zentimeter hohen Schneedecke begraben. Nur hier und da ist einer lang gegangen oder wurde eine schmale Schneise freigeschaufelt. Die Spur, die ich am Morgen von meiner Wohnung zum Büro gelegt hatte, konnte ich am Abend zurückverfolgen. Niemand hatte ihr Gesellschaft geleistet, niemand sie gekreuzt. Da hier unten im Tal heute kein Schnee gefallen war und auch kein Wind geweht hatte, warteten die unter dem Gewicht meiner Stiefel in den Schnee gedrückten Kuhlen wie in Beton gegossen auf meine Heimkehr.</p> <p>Falk hatte heute seinen letzten Tag Dienst im alten Jahr. Bevor er abmarschierte, um den Vieruhrzug nach München zu erreichen, schaute er noch auf einen Sprung in meinem Büro vorbei, um mich für das – wie er es nennt – heiligste aller Feste zu seiner Familie nach Freising einzuladen. »Wir sind vierzehn Geschwister«, erklärte er stolz. Dazu kämen noch eine nicht zu unterschätzende Anzahl an Kindern und Kindeskindern, Vettern und Cousinen, Schwägern und Schwippschwägern, kleinen und großen Tanten und Onkeln und anderen weitläufig Verwandten. Auch einige enge Freunde der Familie seien eingeladen. Ein Gast mehr oder weniger falle bei diesem Menschenauflauf nicht ins Gewicht und seine Mutter freue sich über jede Seele, die sie am heiligsten aller Feste willkommen heißen und bewirten dürfe.</p> <p>Ich schlug dankend aus, da ich es nicht mag, wenn man mir meine Einsamkeit unter die Nase reibt. Dabei tue ich mir am Ende doch nur selber leid. Ich wünschte Falk ein frohes Fest und wollte ihn mit einem Handschlag verabschieden, doch er ignorierte meine vorgestreckte Hand und schloss mich stattdessen so fest in die Arme, dass mir die Luft ausblieb. Ungeachtet meiner akuten Atemnot, die sich als tonloses Krächzen bemerkbar machte, lockerte er seinen Griff erst, als seine Aufmerksamkeit von etwas anderem in Beschlag genommen wurde. Ebenso unversehens wie er mich in seinen Schwitzkasten genommen hatte, gab er mich wieder frei: »Was willst Du am Starnberger See?«, fragte er mich nach einem kurzen Blick auf den auf meinem Schreibtisch liegenden Straßenatlas. Meine Stimmbänder hatten sich jedoch noch nicht genügend von seinem Anschlag auf mein Leben erholt, um ihm Antwort geben zu können, als er auch schon eine der Einladungskarten zum Jahresball der Münchner Geheimdienststelle zwischen seinen Fingern hin- und herdrehte und mich vorwurfsvoll anschaute.</p> <p>Ich deutete entschuldigend auf einen dick wattierten, cremefarbenen Briefumschlag in meiner Schreibtischablage, der mich erst am Morgen über den zivilen Postweg erreicht hatte. Mein Schreibtischstuhl ächzte gequält auf, als sich Falk hineinfallen ließ. Er schnappte sich das das Kuvert und nahm das kurze Begleitschreiben heraus: »Lieber Wilhelm«, las er laut vor: »Ich freue mich, Sie und Ihre Kameraden vom Mittenwalder Standort trotz des wegen der kurzfristigen Absprache geringen Planungsvorlaufs bei unserem Jahresabschlussball erwarten zu dürfen. Mit kameradschaftlichem Gruß und den besten Wünschen für ein besinnliches Fest, Ihr Marcus Pragen. P.S.: Ich habe Ihnen einen Tisch mit Blick auf die Berge reserviert.«</p> <p>Falk zählte die passend zum Briefumschlag beige marmorierten Einladungskarten durch und nickte zufrieden. Es waren ganze zehn Stück. Im Inneren der aufklappbaren Karten informierte ein festes Seidenpapier, ähnlich den Transparentfolien, die man zum Bespannen von Drachen verwendet, in silbernen Buchstaben über Datum, Uhrzeit, Veranstaltungsort und Kleiderordnung. Auch von einem unterhaltsamen Abendprogramm war die Rede. Die Silberkordel, die das Bündel zusammenhielt, war aus einzelnen Fäden zusammengeflochten und auf halber Höhe zu einer Schleife gebunden. Falk staunte nicht schlecht über diese pompöse Aufmachung und blätterte nebenbei in meinem Terminkalender, um sich einen Überblick über die letzten Tage des Jahres zu verschaffen.</p> <p>Der Ball war für den Samstag vor Silvester anberaumt und bildete den feierlichen Abschluss der direkt an die Weihnachtsfeiertage anschließenden Jahreskonferenz des Münchner Geheim­dienst­apparates. Genauso ungewöhnlich wie der Termin zwischen den Jahren war die Wahl des am Ostufer des Starnberger Sees gelegenen Veranstaltungsorts, der laut Umgebungsplan nur aus einem einzigen Haus bestand. Es schien sich dabei allerdings um ein stattliches Gebäude zu handeln, um einen Gutshof vielleicht, eine brachliegende Militäranlage oder um ein altes Schloss.</p> <p>»Du hast den Termin noch gar nicht eingetragen«, stellte Falk plötzlich überrascht fest und deutete vorwurfsvoll auf die leere Stelle in meinem Terminkalender. Als er jedoch einen Stift aus der Ablage nahm, um diesen Fehler umgehend zu korrigieren, hob ich beschwörend die Hände und erklärte, dass ich nicht überhaupt nicht vorgehabt hätte, an den Feierlichkeiten teilzunehmen.</p> <p>»Warum nicht?«, fragte Falk sofort und zählte mir all die guten Dinge auf, die uns dort erwarten würden: »Schnapsnasige Offiziere in albernen Aufzügen mit ihren dickwanstigen Frauen und ledigen Töchtern. Glühwein und Bier, Haxen und Keulen, Eiscreme und Kuchen, Schokoladenspringbrunnen und Waffeltürme mit Schlagsahne. Tanz, Musik und Partyspiele.« Genau das waren auch meine Befürchtungen, doch ich schwieg, da dies nicht meine einzigen Sorgen waren.</p> <p>Obwohl ich zu Kreuze gekrochen war, um diese Einladungskarten zum Jahresball der Münchner Militärbehörden zu ergattern, hatte mich, als ich sie schließlich in den Händen hielt, der Mut verlassen. Was nicht nur daran liegt, dass ich Pragen keinen Seilmeter weit trauen kann, sondern vielmehr daran, dass ich Eliot nachträglich recht gebe, wenn er die Hoffnung als das einzig Gute in der Welt preist. Durch ein überstürztes Manöver eine Zurückweisung zu riskieren, könnte somit bedeuten, das einzige Gute in der Welt zu verlieren. Aber es gibt noch eine zweite Stimme in meiner Brust. Eine zwar leise, deswegen aber nicht minder beharrliche Stimme, die mir ständig damit in den Ohren liegt, dass ich ihn wiedersehen muss, koste es was es wolle.</p> <p>Während mich Falk erwartungsvoll ansah, verlor diese Stimme plötzlich an Zurückhaltung und begann lautstark, mit meinem Verstand zu streiten, und hatte damit sogar Erfolg. Denn Falk interpretierte mein Schweigen als Aufforderung, sich um das Organisatorische zu kümmern und versprach, trotz des knapp bemessenen Zeitfensters und der unmittelbar anstehenden Feiertäglichkeiten binnen kurzem eine Truppe trinklustiger Kameraden zusammentrommeln zu können.</p> <p>Voller Tatendrang riss er eine unbeschriebene Seite aus meinem Terminplaner und erstellte eine Liste der Leute, die sich leidenschaftlich gern ins Jenseits trinken, und eine Liste derjenigen, die nach der Feier als Ersthelfer und Chauffeure infrage kamen. Mein Name stand ganz oben auf der zweiten Liste und Falk überlegte sogar kurz, ob ich nicht einen Truppentransporter fahren könnte, um die Planung zu vereinfachen. Als ich ihn jedoch an seinen Zug nach München erinnerte, schaute er entsetzt auf die Uhr und drückte mir noch schnell ein letztes Mal die Luft aus den Lungen, bevor er Hals über Kopf davonstürzte.</p> <p>Ich öffnete das Fenster, lehnte mich hinaus und sah eine pulvrige Schneewolke davonstieben. Plötzlich hielt sie inne und verwandelte sich in einen jungen Feldwebel mit festen Wintergamaschen, einer warmen Wollmütze und einem schweren Rucksack, der mir nochmals zum Abschied winkte: »Mach Dir keine Sorgen um den Konvoi zum Jahresball«, rief er mir zu, während er die Schnallen seines Rucksacks enger zurrte: »Die Planung ist bei mir in den besten Händen. Und falls Dir über die Feiertage langweilig werden sollte, komm einfach nach Freising! Da gibt es vierzehn von meiner Sorte!«</p> <p>›Ich werde mich hüten‹, dachte ich still. Die Wolke wehte weiter und überließ das Königreich des Winters ganz dem Walten seines eingeborenen Prinzen. Ich sah ihr nach, bis sie sich im Winterweiß der zugeschneiten Welt verlor, und schloss das Fenster. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass Falk noch eine knappe halbe Stunde bis zur Abfahrt seines Zuges hatte. Bei seinem Tempo war das trotz zugeschneiter Wege und vereister Straßen Zeit satt.</p> <p>So sehr mich die Aussicht auf einen anstrengenden Maskenball mit musikalischer Untermalung aus dem Standardrepertoire des Musikkorps und einem vermutlich schlecht moderiertem Unterhaltungsprogramm zunächst auch abschreckte, jubiliert nun alles in mir. Denn ich werde Eliot wiedersehen.</p> <p>Falk hat inzwischen mit Sicherheit schon sämtliche Telefondrähte heißgeredet und Fahrgemeinschaften zum Starnberger See organisiert. Dennoch wundere ich mich, wo sein sonst so übersteigertes Misstrauen gegenüber dem Münchner Geheimdienstapparat geblieben ist. Denn nur wenige Tage zuvor war er in hellem Aufruhr und ohne zu klopfen bei mir aufgeschlagen, um mir mitzuteilen, dass Heidt Besuch von den Lakaien des Ministeriums empfangen hatte. Ich ließ mich augenblicklich von seiner Aufregung anstecken, wenngleich in einer etwas anderen Weise.</p> <p>Wer die Agenten seien, fragte ich sofort nach, doch Falk wusste nichts Genaues darüber zu sagen, da er seine Information selbst nur aus zweiter Hand hatte. André, erklärte er, habe sich beschwert, dass so kurz vor Weihnachten und Jahresabschluss die Dienstpläne des Stabes durcheinandergeworfen worden seien, nur weil Heidt dem hohen Münchner Besuch Vorrang vor den Stabsroutinen unseres Standorts einräume. Falk fackelte jedoch nicht lange, sondern schnappte sich mein Telefon und rief bei der Wache an: »Die wissen vielleicht was«, zwinkerte er mir zu und schaltete den Apparat auf laut.</p> <p>Ich stand am Fenster und trommelte nervös auf die Fensterbank, während Falk den Torposten ausfragte. Die Wache bestätigte das Gerücht. Ein Oberstleutnant namens Kajetan-Lewin Pragen habe kurz vor zehn in einer silbernen Karosse den Schlagbaum passiert.</p> <p>Als ich den Namen Pragen hörte, schellten bei mir sämtliche Alarmglocken. Ich hatte den Namen des Leiters der Münchner Geheimdienstbehörde, der damals mit zusammen mit Eliot in demselben Oberstdorfer Hotel abgestiegen war wie Falk und ich mit unserer Truppe, nicht vergessen. Die Aussicht, Eliot möglicherweise wiederzusehen, stürzte alles in mir um. Ich herrschte Falk flüsternd an, nachzufragen, ob dieser Pragen allein oder in Begleitung unterwegs sei. Falk zeigte mir seinen nach oben gerichteten Daumen und zwinkerte mir erneut verschworen zu, bevor er die Frage weitergab. Die Gegenseite besprach sich kurz und antwortete dann einvernehmlich mit: »Nein, der Oberstleutnant war allein unterwegs und es kam auch niemand nach.«</p> <p>Eliot war zwar nicht mit von der Partie, aber die Sache war noch nicht verloren. Wenn sich der Leiter seiner Dienststelle mit meinem Bataillonskommandeur traf, gab es eine Brücke zwischen seiner und meiner Welt. Ich schaute auf die Uhr. Es war bereits kurz nach halb eins und für die Eichenlaub-Epauletten wahrscheinlich allerhöchste Zeit zum Essen fassen. Ich musste mich beeilen, wenn ich den Herrn Oberstleutnant noch abpassen wollte.</p> <p>Falk bedankte sich für die Auskunft, legte den Hörer auf und schaute mich entsetzt an: »Was machen wir jetzt?«</p> <p>Ich beruhigte ihn und versprach, bei Heidt nach dem Rechten zu sehen. Falk stimmte mir zu und wollte umgehend den Rest der Truppe alarmieren. Doch ich hielt das für übertriebene Panikmache und fragte ihn, ob wir denn etwas zu befürchten hätten.</p> <p>Falks Augen wanderten hektisch hin und her, als würde sein Blick einem Eichhörnchen folgen, das gerade im Zickzack von einem Baum zum andern sprang. Er rieb sich das Kinn und räusperte sich. Das zögerliche Nein, das er schließlich hervorbrachte, klang zwar nicht sehr überzeugend, aber im festen Glauben daran, dass ein zwangloses Gespräch auf einem zugigen Berggipfel der Inneren Führung dienlicher ist als ein Verhör in einem Dienstzimmer, verschob ich mein Misstrauen auf unsere gemeinsame Bergtour im Januar.</p> <p>»In Ordnung«, gab ich deshalb nach: »Wenn wir nichts zu befürchten haben, werde ich Heidt nun einen Besuch abstatten, während Du derweil von einer unnötigen Verunsicherung der Truppe absehen wirst.« Falk rückte seine Koppel zurecht, schlug die Hacken zusammen und salutierte mit einem so vorbildlichen ›Jawohl, Herr Hauptmann‹, dass man es hätte filmen und als Schulungsvideo für junge Rekruten verwenden sollen. Auf mein überraschtes Stirnrunzeln hin meinte er mit einem verschwörerischen Augenzwinkern, heute gehe alles streng nach Protokoll. Wir würden uns nichts zu schulden kommen lassen. Ich nickte, scheuchte ihn zur Tür hinaus und stürzte hastig hinterher.</p> <p>Als ich kurz darauf durch das Vorzimmer des Büros unserer Kommandantur stürmte, versuchte mich Heidts Sekretärin zu bremsen: »Ho, ho, nicht so stürmisch, mein junger Freund, der Oberstleutnant kann Dich jetzt nicht empfangen. Und schon gar nicht in diesem ungekämmten Aufzug.« Gudrun tat empört, war es aber nicht, dazu kenne ich sie schon zu lange. Deswegen ließ ich mich nicht von ihren hochgezogenen Augenbrauen aufhalten, sondern steckte mir schnell die zu lang geratenen Haarfransen hinter die Ohren, klemmte mir wahllos einen von Gudruns Ordnern unter den Arm, klopfte trotz ihres Protests an der Tür zu Heidts Büro und trat, bevor man mich an der Tür abwimmeln konnte, ein.</p> <p>Heidts wohl genährter, doch aufgrund seiner geringen Körpergröße merkwürdig proportionierter Leib thronte wie immer schwerfällig auf dem speckigen Leder seines Bürosessels, während Pragen, eine Hand in der Hosentasche, die andere wie zum Dirigieren in die Luft erhoben, in der Zimmermitte stand. Mein Hereinplatzen hatte die Zeit in dem kleinen Zimmerchen für die Dauer eines Atemzugs zum Stehen gebracht. Ich nutzte diesen Moment der Überraschung, um den Münchner Gast einer Musterung zu unterziehen.</p> <p>Pragen war etwa von meiner Statur und Größe, nur im Gesicht und um die Schultern herum ein wenig schmaler. Die hohlen Wangen und untrainierten Oberarme taten seinem autoritären Auftreten jedoch keinen Abbruch. Sein Blick schien jede Fassade durchdringen zu können, und seine Lippen schienen in der Lage, Befehle zu erteilen, ohne sich dazu bewegen zu müssen. Obwohl in seinem reglosen Gesichtsausdruck keine offene Anfeindung zu erkennen war, lauerte darin etwas Argwöhnisches. Vielleicht war es nur die berufsgebotene Skepsis, vielleicht aber auch über die Jahre hinweg gesammelte Lebenserfahrung.</p> <p>Bis auf das weiße Hemd, das unter dem mit einem goldenen Adler besetzten Jackenkragen hervorlugte, wirkte alles an ihm düster und unnahbar. Der schwarze Anzug, die straff sitzende Krawatte und die mit dünnen Schnürsenkeln gebundenen Schuhe tranken gierig jeden Lichtstrahl, der sich in ihre Nähe verirrte. Sogar seine Haare, unter die sich nur hier und da ein paar graue Strähnen gemischt hatten, waren tiefschwarz. Pragen glich einer strukturlosen Granitwand. Es gab nichts, woran man sich festhalten konnte.</p> <p>Trotz seiner Unnahbarkeit zog er alles um sich herum in seinen Bann und machte es sich untertan. Selbst das Licht, das durch die zugezogenen Gardinen und die staubigen Lamellen der Deckenlampe auf ihn herabfiel, schien darum bemüht, ihm zu gefallen, und der Stoff, aus dem sein Anzug geschneidert war, gehorchte artig der unsoldatisch legeren Haltung seines Trägers und erlaubte sich keine unnötigen Falten zu schlagen. Heidts einfacher Dienstanzug wirkte dagegen ebenso plump wie mein Grünzeug aus Feldbluse, Kniebundhosen und dicken Wollsocken. Wenigstens hatte ich dank Gudruns Warnung meine zu langen Haare hinter den Ohren versteckt.</p> <p>»Wenn man vom Teufel spricht: unser Fürst!« Heidt schlug mit der flachen Hand auf seinen stämmigen Oberschenkel und begrüßte mich mit einem schallenden Lachen.</p> <p>Ich bat der Form halber um Verzeihung für die Störung und stellte mich dem Fremden vor: »Wilhelm Fenner.« Er nahm meine Hand.</p> <p>Heidt lachte wieder: »Nicht so förmlich, Fürst, und bloß keine falsche Bescheidenheit. Wissen Sie, Oberstleutnant Pragen, Hauptmann Fenner ist der Leiter der Sonderstabsabteilung für Sicherheit in Fels, Eis und Schnee, unserer Elitetruppe aus feuer- und eiserprobten Berg­soldaten. Unsere Hochgebirgsjäger, Gefreite und Feldwebel gleichermaßen, reißen sich geradezu darum, in seiner Abteilung ihren Dienst tun zu dürfen. Mit weniger als einem Prozent des Stabsetats sorgt er für neunundneunzig Prozent unseres guten Rufes.« Heidts übertrieben gute Laune und überschwängliches Lob zeigte nur, wie sehr er darum bemüht war, auf Pragen einen guten Eindruck zu machen. Mir war sein Gerede zwar peinlich, doch ich hielt mich zurück und ließ ihn für mich Werbung machen. Vielleicht hörte Pragen so etwas ja gerne.</p> <p>Heidts Lobeshymnen schienen jedoch, genau gegenteilig auf den Oberstleutnant zu wirken. Er schüttelte mir mit einem kühlen Lächeln die Hand: »Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Ihro Exzellenz, Fürst Hauptmann Wilhelm Fenner, Leiter der Sonderstabsabteilung für Sicherheit in Fels, Eis und Schnee«, wiederholte er, wie um zu beweisen, dass ihm keine Silbe von Heidts peinlicher Durchsage entgangen war. Doch was von meinem Kommandanten als Lob gemeint gewesen war, klang aus Pragens Mund wie eine scharfe Zurechtweisung. Er selbst stellte sich mir mit einem bescheidenen »Oberstleutnant Pragen« vor und fügte vermutlich nur der Fairness halber hinzu, dass er der Leiter des Münchner Geheim­dienst­kommissariats war. Obwohl ich bisher nichts weiter als meinen eigenen Namen gesagt hatte, wurde ich das Gefühl nicht los, ihn mir bereits zum Feind gemacht zu haben.</p> <p>Heidt hatte den kritischen Ton in Pragens Stimme nicht mitbekommen oder ignorierte ihn absichtlich. Jedenfalls redete er munter weiter: »Unser Fürst ist ein hervorragender Bergsteiger und Bergführer. Niemand klettert besser als er, weshalb er der Einzige ist, dem ich zwei Mal im Jahr meine Familie zur Querung der Gebirgspässe zum Kloster des Großen Sankt Bernhard und zum Marienheiligtum am Osthang des Piz Curvér anvertraue. An Ostern und Weihnachten. Wissen Sie, Herr Oberstleutnant, zu den heiligen Festen?« Pragen nickte.</p> <p>Obwohl Heidts Darstellung nicht ganz der Wirklichkeit entsprach, vermied ich es auch an dieser Stelle, ihm zu widersprechen, da vermutlich jeder Versuch der Richtigstellung ohnehin nur als falsche Bescheidenheit gewertet worden wäre. Doch in Wahrheit Falk klettert um Längen besser als ich. Denn trotz seiner frommen Erziehung ist er der Meinung, dass Berge eher durch Muskelkraft als durch Glauben versetzt werden, und unterwirft seinen Körper einem strengen Fitnessprogramm. Neben seinen Übungen im Kraftraum und seinen Ausdauerläufen durchs Gebirge achtet er peinlich genau auf das Verhältnis von Körpergewicht zu Muskulatur, um nicht mehr zu wiegen, als er in voller Gebirgsmontur im Klimmzug mit nur einem Arm tragen kann. Aufgrund dieser perfekten Balance läuft er mir mühelos den Rang als bester Bergsteiger ab.</p> <p>Ich bin jedoch der Einzige am Standort, der Falks wahre Begabung und Eifer erkennt und wertschätzt. Selbst André, der es besser wissen müsste, preist meine im Vergleich zu Falks tadelloser Technik unbeholfene Kraxelei als die höchste Kletterkunst, die unser Standort zu bieten hat, da es anders herum nicht in sein Weltbild passen würde. Ein junger Feldwebel, der einem erfahrenen Hauptmann etwas vormacht, ist für ihn undenkbar.</p> <p>Falk selbst streitet die Wahrheit ebenfalls so hartnäckig ab, als wäre sie ihm peinlich oder unbequem. Anstatt seinen Ruhm einzustreichen, verklärt er mich zu seinem Vorbild und drängt mich in eine Rolle, die eigentlich ihm selbst gebührt. Wenn Dich der in Wahrheit beste Kletterer sowie amtliche Kasernenclown und Allermanns Lieblingskamerad zu seinem Idol erklärt, ist es nahezu unmöglich, die Unwissenden vom Gegenteil zu überzeugen.</p> <p>»Nun, was beschert mir die Ehre Deiner Aufwartung, mein lieber Fürst?«, fragte Heidt schließlich.</p> <p>»Die Dienstregularien für die Standortpfarrer«, klärte ihn Pragen auf, während ich mich, um ein wenig Zeit zu gewinnen, ausgiebig räusperte.</p> <p>Heidt schaute ebenso verdutzt drein, wie ich mich fühlte. Pragen deutete mit einer entschuldigenden Geste auf meinen Ordner. Ich nahm ihn unter meiner Armbeuge vor und las die Aufschrift. Tatsächlich: Kirchenrechtliche Richtlinien für den militärgeistlichen Aufgabenbereich.</p> <p>»Ja, und zwar …«, sagte ich gedehnt und räusperte mich erneut, bevor ich den Ordner umständlich an der Stelle aufschlug, an der Gudrun ein Lesezeichen eingelegt hatte. Doch Heidts eifriges Bemühen um Pragens Wohlwollen ersparte mir weitere Peinlichkeiten. Entschieden schüttelte er den Kopf: »Das muss bis später warten, Fürst! Es ist bald Mittag und unser Gast ist sicherlich hungrig, nicht wahr?« Er wartete auf Pragens Zustimmung. Als dieser nickte und mich fragte, ob ich nicht Lust hätte, ihnen beim Mittagstisch Gesellschaft zu leisten, steckte ich plötzlich in der Klemme. Eigentlich hatte ich in der Hoffnung, eine Verbindung zu Elli knüpfen zu können, auf genau solch eine Gelegenheit gewartet. Doch nun machten mir Pragens unterschwellige Kampfansage, sein hellsichtiger Verstand und seine diplomatische Überlegenheit Angst. Ich dachte an Falks flirrenden Blick und kam zu dem Schluss, dass es wahrscheinlich klüger wäre, erst einmal in meiner Stabsabteilung für reinen Tisch zu sorgen und Abstand zu wahren.</p> <p>»Natürlich geht er mit!«, antwortete Heidt jedoch, noch bevor ich meine Gedanken zu Ende sortieren konnte. Er erhob sich aus dem unter seinem Gewicht jämmerlich quietschenden Sessel und klopfte mir kameradschaftlich auf die Schulter. Pragen schien dieser ungezwungene Umgang zu gefallen. Den gebieterischen Blick, den mir Heidt im Vorbeigehen zuwarf, sah er jedoch nicht.</p> <p>Heidt stiefelte schnurstracks ins Vorzimmer, um ein wenig mit Gudrun zu schäkern und sie darum zu bitten, die Chefs der übrigen Abteilungen zum großen Mittagstisch zusammenzutrommeln. »Für die Geselligkeit«, raunte er zu uns ins Zimmer hinein und schaute anschließend Gudrun beim Telefonieren über die Schulter. Er macht das gerne. Wenn man Gudrun am Telefon hat, hört man oft im Hintergrund Heidts quäkende Stimme, die ihr vorgibt, was sie sagen soll. Er könnte im Prinzip auch selbst anrufen.</p> <p>Als ich mit Pragen allein in Heidts Büro war, rief ich mir Ellis Beschreibung seines Dienstvorgesetzten ins Gedächtnis. In seinen Erzählungen war Pragen wie eine unfehlbare, engelsgleiche Lichtgestalt erschienen. Doch nun, da ich ihn leibhaftig vor mir hatte, sah ich nur einen dunklen Geheimniskrämer, in dessen Gesellschaft ich mich unwohl fühlte. Den kleinen goldenen Adler, der seinen Träger als hochrangigen Lakaien des Ministeriums kennzeichnete, hatte ich bereits an Ellis Jackenkragen bemerkt. Man bekam ihn gegen das Versprechen, es mit der Moral nicht ganz so genau zu nehmen, an die Uniform geheftet. Abgesehen von Besoldungsstufe, Dienstgrad und Schreibtischgröße bestand der maßgebliche Unterschied zwischen Pragen und mir wohl darin, dass ihm die Menschen Geheimnisse anvertrauen, mir hingegen ihr Leben. Dass die Rheinischen Behörden seiner Verschwiegenheit mehr Bedeutung beimaßen als meinem Einsatz als Bergretter, kränkte mich ein wenig. Denn im Gegensatz zu Pragens modischer Anstecknadel hatte ich mir den Seilkranz und die beiden Spitzhacken auf meiner Brust sauer verdienen müssen.</p> <p>Ich behielt meine Gedanken zu diesem Thema jedoch für mich und sagte auch sonst kein Wort, obwohl ich das Gefühl nicht loswurde, dass Pragen eine gute Erklärung dafür erwartete, wieso mein Bataillonskommandeur mich Fürst zu nennen pflegt. Aber wie konnte ich ihm am gescheitesten erklären, dass die Leute, die mich ›Fürst‹ nennen, damit eigentlich ›Idiot‹ meinen?</p> <p>Um diesen vermeintlichen Adelstitel habe ich mich gleich zu Beginn meiner soldatischen Karriere verdient gemacht: Ich las damals viel und redete wenig, und wenn ich doch einmal etwas sagte, war es meist fehl am Platz. Denn entweder brachte ich meine Vorgesetzten mit meinen dummen Fragen zur Weißglut oder meine Kameraden durch meine unüberlegten Antworten zum Lachen. Meine Komik war jedoch immer ungewollt. Am obligatorischen Soldatenunfug nahm ich hingegen nur teil, wenn ich selbst zum Opfer der albernen Juxereien meiner Kameraden wurde. Doch da ich zu leicht in ihre Fallen tappte und immer schwer von Begriff war, wenn es darum ging, den tieferen Sinn ihrer Aktionen zu verstehen, verloren sie recht schnell den Spaß daran, mich als Opfer für ihre Streiche auszuwählen. Sie wollten, dass ich mich ärgerte oder mich mit einem lustigen Gegenschlag rächte, aber stattdessen wunderte ich mich nur über den Erfindungsreichtum, den sie an den Tag legten, um mit ihrer Langeweile fertig zu werden, und meine Rache bestand allenfalls darin, dass ich sie in allem übertraf, sei es in sportlichen Wettkämpfen oder im Auswendiglernen von Dienstparagraphen. Vermutlich war das meiste an mir seltsam und das wenigste normal. Ich hatte einen guten Draht zu unserem Kompaniechef, hegte ein Faible für Präzision, Stille und Ordnung und verbrachte meine Wochenenden und Feierabende am liebsten allein, zumal mich meine Abneigung gegenüber dem fantasielosen Angebot der lärmenden Schankstuben und mein mangelndes Interesse an den Ranglisten verschiedener Ballsportarten ohnehin von den meisten geselligen Unternehmungen ausschlossen. Aufgrund dieser Marotten galt ich unter meinen Kameraden bald als Sonderling, weltfremd, naiv und einfältig, was mir schließlich den Spitznamen ›Idiot‹ bescherte.</p> <p>Die Kameraden dachten sich dabei nichts Böses, aber als diese Sache unserem Kommandeur zu Ohren kam, ließ ihm die Dienstvorschrift keine andere Wahl, als die Disziplinarvorgesetzten anzuweisen, meine Spötter an die Kandare zu nehmen. Sie wurden zu Stubenarrest verdonnert, zum Patronenhülsenaufsammeln über den Kasernenhof gejagt und zu Besserungsgelöbnissen gezwungen. Nachdem das Strafkommando überstanden war und sich alle geläutert und zu neuen Scherzen aufgelegt fühlten, taufte man mich, um weiteren Sanktionen dieser Art vorzubeugen, auf den scheinbar schmeichelnden Namen ›Fürst Myschkin‹, eben jenen Namen, der bis heute in den einsilbigen Koseformen ›Mysch‹ und ›Fürst‹ fortlebt. <em>Dass er auf den Protagonisten aus dem Roman ›Der Idiot‹ zurückgeht, wissen nur die wenigen, die damals dabei gewesen waren.</em></p> <p>Heidt ist einer dieser wenigen. Er fand schon damals als Kompaniechef schnell Gefallen an der scherzhaften Neckerei und hält bis heute an diesem Statut unserer langjährigen Freundschaft fest. Vielleicht hätte es Pragen versöhnlich gestimmt, wenn er den Ursprung meines Kosenamens erfahren hätte, vielleicht hätte er mich aber auch nur für einen noch größeren Tölpel gehalten, als er es aufgrund meines dilettantischen Auftritts in Heidts Büro ohnehin schon tat. So oder so hatte ich keine Lust, einen Schwank aus meiner Rekrutenzeit zum Besten zu geben.</p> <p>Pragen fragte glücklicherweise nicht nach, sondern begnügte sich damit, ein Gespräch über das Wetter zu beginnen: »Es schneit. Dabei habe ich gelesen, es soll Regen geben.« Er war ans Fenster getreten. Ich gesellte mich zu ihm und spähte ebenfalls durch die weißen Gardinen nach draußen. Was da vom Himmel kam, war jedoch kein Schnee, sondern feiner Graupel. Ich erklärte es ihm und öffnete das Fenster, damit er sich die Graupelkörner genauer anschauen konnte. Während er die verklumpten Schneekristalle durch seine Finger rieseln ließ, suchte ich am Himmel nach Regen. Auf etwa achtzehnhundert Metern hatte sich eine undurchdringliche Schicht aus Höhennebeln zusammengerottet, aus der nur eine einzige gleißende Lichtsäule senkrecht zu uns ins Tal hinab stach. Dort oben musste es jetzt gut kalt sein. Das verriet mir die Farbe des Lichts. Vor Regen würden wir jedenfalls erst einmal verschont bleiben. Ich schloss das Fenster wieder und schaute ungeduldig durch die angelehnte Tür ins Vorzimmer, wo Heidt noch immer eifrig am Soufflieren war.</p> <p>»Eine faszinierende Welt«, seufzte Pragen nach einem letzten Blick durch das geschlossene Fenster und drehte sich nach mir um: »Ich muss gestehen«, begann er in einem unerwarteten Plauderton, während er seine Finger mit einem Taschentuch trockenrieb, »dass ich bereits viel von Ihnen gehört habe, Hauptmann Fenner. Nicht nur Ihr Battaillonskommandeur preist Ihre Erfolge. Auch die Zeitungen schreiben darüber und allerorts spricht man von Ihnen in den höchsten Tönen. In Köln, Bonn, Koblenz, Eckernförde – Sie haben einen Ruf.« Er machte eine Pause und wartete auf eine Reaktion. Da jedoch keine kam, sprach er weiter: »Ich konnte es mir nicht verkneifen, einen Blick in Ihre Akte zu werfen, Hauptmann Fenner. Aber wie Sie sicherlich wissen, gibt es auch dort nur Gutes über Sie zu berichten.« Er lächelte mich an, doch ich schwieg. Da er mit Sicherheit nicht von meiner Dienstakte im Hängeregister der Mittenwalder Personalkartei sprach, konnte er nur die in den Kölner Geheimarchiven abgehefteten Ergebnisse meiner regelmäßigen Sicherheitsüberprüfungen meinen. Dass es dort nichts an meiner Person zu bemängeln gab, hätte mich aufatmen lassen sollen, aber ich glaubte, aus Pragens Plauderton Zweifel heraushören zu können.</p> <p>Falls er welche hatte, behielt er sie jedoch für sich. Es schien, als wollte er mir beweisen, dass auch er schweigen konnte. Er steckte sein Taschentuch ein und streifte scheinbar gedankenverloren durch Heidts Büro. Vor den fein säuberlich nach Jahrgängen und Ressorts gegliederten Stabsakten hielt er unvermittelt inne. Auf den Aktenrücken prangten jeweils eine Jahreszahl und die Nummer der jeweiligen Abteilung. Außer auf den Ordnern der erst ab dem Jahrgang 1989 vertretenen Stabsabteilung mit dem ominösen Kürzel ›X‹. Dieses X steht nicht, wie man vielleicht meinen möchte, für die Zahl Zehn, sondern für den unserem Standort eigenen Aufgabenbereich mit dem unglücklich langen Namen ›Besondere Stabsabteilung für Sicherheit in Fels, Eis und Schnee‹. Da der erste Versuch, diesen Namen mit ›BesSt – SichFeEiSc‹ abzukürzen, immer wieder an den zu knapp bemessenen Textfeldern verschiedener Amtsformulare scheiterte und sich obendrein kaum einer die genaue Buchstabenfolge merken konnte, kam man bald stillschweigend überein, dass es in der Spalte für das Stabskürzel auch ein einfaches X tat. Weder dieser unhandliche Name noch die Abkürzung dafür ist auf meinem Mist gewachsen und auch die Stabsabteilung an sich war ursprünglich nicht meine Idee gewesen, sondern ist aus einem zufälligen Aufeinandertreffen von Heidts Launen und Gunnars Quertreibereien entstanden.</p> <p>Dabei fing alles ganz harmlos an. Ich wurde damals wegen eines tragischen Bergunglücks in unserer Ausbildungskompanie als Experte und Berater in Sachen Gebirgsausrüstung und Ausbildungskonzepte zu einer Stabssitzung hinzugeholt. In deren Verlauf geriet ich jedoch in eine heftige Debatte mit dem stellvertretenden Bataillonskommandeur und seinem Stabsoffizier Hauptmann Gunnar Verstoisser, da ich grundlegende Techniken und Materialverwendungen unserer Ausbildungseinheit kritisierte. Ich wies auf die durch verknotete Bandschlingen und andere Knausrigkeiten beim Materialkauf verursachten Gefahren hin und machte Vorschläge zur Risikovermeidung beim Legen von Sicherungsmitteln. Doch der Ausbildungsstab hielt mit seinen vorgestrigen Ideen vehement dagegen. Die vorgebrachten Argumente entsprachen zwar der gängigen Lehrmeinung, aber ihnen fehlte meines Erachtens der nötige Realitätsbezug.</p> <p>Ich nahm mir ein Stück Kreide und kritzelte einige schematische Zeichnungen und Formeln an die Tafel, um die Vermeidbarkeit des jüngsten Unglücks zu demonstrieren. Gunnar sprang von seinem Stuhl auf und warf mir vor, Methoden zu kritisieren, die nicht nur seit Jahrzehnten Bestand hätten, sondern auch bei der Ausbildung zum staatlich geprüften Bergführer genauso gelehrt würden. Ich hingegen bestand darauf, dass man Althergebrachtes regelmäßig überdenken und neu bewerten müsse, um weiterhin reinen Gewissens daran festhalten zu können. Ich klopfte an die Tafel, um meinen Standpunkt zu unterstreichen, und hielt Gunnar das Stück Kreide hin. Wenn er meine Theorien entkräften zu können glaubte, sollte er es beweisen. Es war ein nervenaufreibendes Tauziehen, doch keiner von uns wollte locker lassen. Wir gifteten uns an und legten uns mit aller Kraft ins Seil.</p> <p>Heidt gab uns am Ende beiden recht: Da ihm einerseits meine Ideen zu revolutionär – und zu teuer – waren, um von einem auf den anderen Tag in die Praxis umgesetzt werden zu können, sollte der Standort vorerst an seinem bisherigen Ausbildungsprogramm festhalten. Andererseits war er es leid, sich immer wieder vor den Eltern rechtfertigen zu müssen, wenn er dort anrief, um ihnen die Stationsnummer des Feldlazaretts durchzusagen, wo ihr Sohn gerade seine Knochenbrüche auskurierte. Deswegen sollte ich in die erste Kompanie wechseln, um dort einen Sonderzug für die Erprobung von Taktik und Gerät unter dem Aspekt von ›Sicherheit in Fels, Eis und Schnee‹ auszuheben.</p> <p>Die Mehrheit der Stabschefs befürwortete Heidts Idee, sodass noch am selben Tag die Rahmenbedingungen festgelegt werden konnten: Die Ausgaben meiner anfänglich nur aus Mannschaftsdienstgraden bestehenden Sondereinheit sollten über den Stabsetat gedeckt werden, und da die neue Einheit trotz ihrer Zugehörigkeit zur ersten Kompanie dem direkten Befehl der Kommandantur unterstand, galt sie als Teil des Bataillonsstabs, was mich wiederum zur Teilnahme an den regelmäßigen Stabssitzungen und zu anderen unliebsamen Bürokratentätigkeiten verpflichtete. Die Budgetierung sollte quartalsweise erfolgen und man erwartete zum Ende eines jeden Halbjahres einen fundierten Bericht über die Arbeit meiner Abteilung mit allen Zahlen und Fakten sowie eine weißbuchfähige Abhandlung über die Vermeidbarkeit von Risiken beim Bewegen von Truppenkontingenten in unwegsamem Gelände. Einen Stellvertreter stellte man mir zunächst nicht zur Seite. Auch auf als Gruppenführer oder für die Stabsarbeit ausgebildete Feldwebel musste ich verzichten und die Felsausrüstung sollte ich mir für den Anfang aus den Beständen der Ausbildungskompanie borgen. Dafür stellte man mir eine verwaiste Schreibstube in der Stabskompanie zur Verfügung, in der ich mir ein Büro einrichten konnte. Nach einer Bewährungsprobe von einem Jahr bestand die Möglichkeit, die neue Sondereinheit als regulären Bestandteil des Bataillonsstabes zu etablieren.</p> <p>Das hörte sich sinnvoll an und klang nach einem Stück Freiheit in der sonst durch ständiges ›Jawohl‹, ›Hier‹ und ›Achtung‹ reglementierten Welt. Ich schlug, ohne zu zögern, ein. Doch Gunnar hat mir den Ausgang dieses Kräftemessens nie verziehen. Denn während er weiterhin die Büroarbeiten für den Ausbildungsstab erledigte, war ich nun Chef einer zwar unbedeutenden und obendrein schmal budgetierten, dafür aber mit einem gewissen Maß an Narrenfreiheit ausgestatteten Sonderabteilung unter Heidts direktem Kommando und Protektorat. Viel glücklicher hätte es mich gar nicht treffen können.</p> <p>Ich hörte Heidts schallendes Gelächter aus dem Vorzimmer. Kurz darauf streckte er seinen Kopf zu Tür herein und rief: »Ich habe den gesamten Stab zu einem kulinarischen Ausflug nach Garmisch zusammengetrommelt. Dort gibt es die leckersten Schlemmereien. Auf geht’s! Marsch marsch!« Er klatschte in die Hände, nahm seinen Autoschlüssel vom Brett und zwinkerte mir zu: »Meinen Wagen nehme ich heute zur Abwechslung mal selbst, wenn’s recht ist. Du musst mit der Rückbank vorliebnehmen.« Ich nickte und vermied es, in Pragens Richtung zu schauen.</p> <p>Als wir das Gebäude verließen, blies uns ein unangenehmer Graupelschauer entgegen. Heidt lachte dem Wind trotzig ins Gesicht, während Pragen hastig den Kragen seines Mantels aufstellte und unter einem schwarzen Regenschirm Deckung suchte. Da ich weder einen Mantel noch einen Schirm bei mir trug und mir auch nicht nach Lachen zumute war, steckte ich meine Hände zum Schutz vor den auf mich niederprasselnden Eiskörnern in die Hosentaschen und zog meine Schultern bis zu den Ohren hoch. Ich bin weitaus Schlimmeres gewohnt. Denn das Land, das unseren Standort umschließt, gibt sich gerne abweisend und rau. Die Erdnägel, die man im Sommer beim Aufspannen der Zelte in den Boden treibt, muss man festschlagen wie Mauerhaken, und im Winter liegt die Welt monatelang unter Eis und Firn begraben. Die auf Postkarten und Werbeplakate gedruckten Bilder von grünen Wiesen und Pulverschnee sind nur Tarnung für die darunter liegenden felsigen Steinböden und menschenfeindlichen Eisfelder.</p> <p>Ich wollte gerade zum Sprint ansetzen, um mir einen Platz auf Heidts Rückbank zu ergattern, als sich eine dunkle Wolke über meinen Kopf schob. Pragen hatte sich zu mir gesellt und bot mir ein wind- und graupelsicheres Obdach unter seinem Regenschirm. »Ihnen ist der Weg nach Garmisch und zu der von ihrem Kommandeur erwählten Gaststätte sicherlich bestens vertraut.« Er brauchte es nicht auszusprechen. Die militärische Etikette ließ mir keine andere Wahl, als dem Oberstleutnant als Steuermann zur Seite zu stehen. Ich nickte und dachte mir, dass ich die zwanzigminütige Autofahrt schon irgendwie überstehen würde. Pragen bedankte sich und lenkte meine Schritte in Richtung seines Wagens.</p> <p>»Da habe ich mir wohl die verkehrte Zeit ausgesucht«, raunte er mir zu, während wir im Gleichschritt zum Auto marschierten: »Das Wetter zeigt sich jedenfalls nicht gerade von seiner freundlichen Seite. Den nächsten Besuch sollte ich vielleicht lieber auf den Sommer verschieben, damit ich der vielbesungenen romantischen Idylle der Wälder und Wiesen dieses bezaubernden Fleckchens Erde teilhaftig werden kann.«</p> <p>Ich zuckte nur mit den Schultern und wiegte meinen Kopf. Kein wirkliches Nicken und kein wirkliches Kopfschütteln, sondern einfach ein aufrichtiges Zeichen meiner absoluten Meinungslosigkeit. Ich glaubte jedoch, dass wenn er die winterliche Romantik nicht zu schätzen wusste, er auch im Sommer nichts dergleichen finden würde. Denn die Wälder, die die Flanken der Alpen emporklimmen, sind steil und dunkel und kalt und die Wiesen drumherum hart und karg, auch im Sommer.</p> <p>»Schon bei meinem letzten Besuch vor drei Monaten haben mir die Alpen die kalte Schulter gezeigt«, erzählte Pragen: »Ich war damals gemeinsam mit Oberfeldwebel Luv dienstlich in Oberstdorf unterwegs und hatte gehofft, eine Wanderung ins Allgäu unternehmen zu können. Doch das meteorologische Amt warnte vor Schneestürmen, Lawinen und Eis.«</p> <p>Ich versuchte, mir meine Aufregung bei der Erwähnung von Eliots Namen nicht anmerken zu lassen und sagte, ohne Pragen in die Augen zu sehen: »Ja, der Winter kam dieses Jahr überraschend früh.« Er lachte und schwieg den Rest des kurzen Weges bis zum Parkplatz.</p> <p>Als wir sein Auto erreichten, wechselte er das Thema. Er habe bereits alle Weihnachtseinkäufe erledigt, erzählte er, während er zwei Einkaufstüten vom Beifahrersitz auf die Rückbank verfrachtete. Da er ledig und kinderlos sei, würden sich seine familiären Verpflichtungen in Grenzen halten. Er hielt mir die Tür auf und fragte, was ich für Weihnachten geplant hätte. Ob ich das raue Klima über die Feiertage hinter mir lassen und zu meiner Familie fahren würde.</p> <p>Ich schüttelte den Kopf, bevor ich ihn einzog, um in den Wagen zu steigen. Pragen ließ die Tür sanft hinter mir ins Schloss fallen und ging um den Wagen herum. Ich klopfte mir unterdessen das Eis aus den Klamotten, und fragte mich, welche Familie Pragen gemeint haben könnte. Etwa meine Pflegeeltern? Ich habe sie seit meiner Initiation als Bürger in Uniform nur ein einziges Mal wiedergesehen. Sie machten sich damals Sorgen um mich und kamen am Standort vorbei, um nach mir zu sehen und einige persönliche Sachen für mich abzugeben. Ich konnte ihre Aufregung nicht verstehen. Wir hatten uns doch kaum gekannt. Ich sprach sie kurz an der Wache und schickte sie schnell wieder nach Hause. Das Versprechen, mich bald zu melden, bin ich ihnen bis heute schuldig.</p> <p>Oder meinte Pragen das Ehepaar Arthur und Kristin Fenner, die auf meiner Geburtsurkunde als meine leiblichen Eltern eingetragen sind? Die konnte er jedoch nicht meinen, da sie seit dem Antritt einer Ostblockreise in den sechziger Jahren als vermisst gelten. Wahrscheinlich sind sie tot. Von meiner wahren Mutter wusste Pragen natürlich nichts. Sie ist Meissmanns streng gehütetes Geheimnis und auch sie ist tot. Sie starb lange bevor ich geboren wurde und ohne die weiße Kunst des Professors wäre auch ich heute nicht am Leben. So wurde es mir jedenfalls immer erzählt.</p> <p>Milada, die eine Zeit lang als Ärztin an Meissmanns Institut angestellt war, hatte diese Erzählungen für mich immer reichlich ausgeschmückt und mir von den Heldentaten meiner Mutter und ihrem Königreich aus immerwährendem Eis erzählt. In einem fernen Land liegt umringt von viertausend Metern hohen Bergen mit frostigen Kuppen ein grünhügeliges und seenreiches Tal, wo die Engel Boreas und Passat abertausend rote Blütenblätter über dem Haupt meiner Mutter herabregnen ließen, bevor sie auf dem Königsschiff Schwarzenfels ihre Fahrt nach Deutschland antrat. Während des schlimmen Krieges floh sie nach Osten, wo ich später im Institut des Professors geboren wurde. Ihre sterblichen Überreste wurden dort in einer Grabkammer aufbewahrt, die jedoch niemand außer dem Professor betreten durfte. Obwohl ich wusste, dass Milada mir diese Geschichten nur zum Trost erzählte und das meiste daran erlogen war, hörte ich sie immer wieder gerne. Ich hatte damals Talent dafür, mich in Märchenerzählungen und selbsterdachten Hirngespinsten zu verlieren, spielte vornehmlich mit imaginären Freunden und steigerte mich in manch einsamer Stunde gerne in die Vorstellung hinein, tatsächlich königlicher Abstammung zu sein und eines Tages mit der Schwarzenfels wieder nach Hause zu fahren.</p> <p>Nachdem Pragen von der anderen Seite zugestiegen war und umständlich seinen Regenschirm im Fußraum der Rückbank verstaute, fuhr er fort: »Entschuldigen Sie meine hoffentlich nicht zu aufdringliche Neugierde. Weihnachten macht mich trotz der allgemeinen Hektik immer wieder sentimental und empfänglich für das Schicksal anderer Menschen. Ich weiß aus Ihrer Akte, dass Sie, bevor Sie von deutschen Pflegeeltern aufgenommen wurden, in einem russischen Waisenhaus aufgewachsen sind. Ich wollte Sie mit meinen Fragen über Ihre Familie nicht in Verlegenheit bringen.« Obwohl mich die Erwähnung des Waisenhauses mit Unbehagen erfüllte, erteilte ich Pragen meine Absolution mit einem erneuten Kopfschütteln. Er<span> ließ den Motor an und hängte sich an Heidts Schlusslichter.</span></p> <p>Bisher hatte mich noch niemand auf meine Vergangenheit im Waisenhaus angesprochen. Ich beobachtete Pragen aus den Augenwinkeln und konnte mich nicht entscheiden, ob seine Entschuldigung und Anteilnahme ernst gemeint waren oder ob er in Wirklichkeit ein anderes Ziel verfolgte.</p> <p>Als wir am Kasernentor darauf warteten, dass der Wachhabende den Schlagbaum öffnete, wandte sich Pragen mir zu: »Die Trennung von Ihren Freunden und Ihrer gewohnten Umgebung ist Ihnen bei Ihrer Übersiedelung nach Deutschland sicherlich schwergefallen«, sagte er und schenkte mir einen Blick, der mich vermutlich seines Mitgefühls versichern sollte. Ich fühlte mich jedoch nur weiter verunsichert und befürchtete schon, dass er in mir einen nach Deutschland entsandten Kinderspion des sowjetischen Geheimdienstes witterte. Ich schüttelte wieder nur den Kopf und drehte mich weg, um aus dem Fenster neben dem Beifahrersitz zu schauen. Ich vermisse nichts aus jener Epoche meines Lebens.</p> <p>Wenn ich mich an die anderen Kinder aus dem Waisenhaus erinnere, sehe ich nur ihre scheelen Augen vor mir, die mich argwöhnisch und neugierig anstarren. Ich war damals ziemlich wütend auf so ziemlich alles und schlug jedem, der mir ungelegen kam, auf die Augen. Ich schlug so lange und so fest mit meinen beiden Händen zu, bis sie verstanden, dass ich nicht einer von ihnen war, sondern Adam, Eva, Kain, Abel, Wilhelm, Fenner, Prinz oder meinetwegen auch alles in einem, aber auf keinen Fall einer von ihnen: nie und niemals. Ich muss für die anderen Kinder eine regelrechte Plage gewesen sein und bin mir sicher, dass sie drei Kreuze geschlagen haben, als sie mich endlich los waren.</p> <p>Nur an dem Tag, an dem Meissmann mich im Waisenhaus aufsuchte, war ich nicht im geringsten aggressiv, sondern warf mich lammfromm vor ihm auf den Boden, umklammerte seine Beine, weinte die dicksten Tränen und flehte ihn an, mich zurück nach Hause, ins Institut, zu bringen. Er ließ sich von meinem Theater jedoch nicht erweichen: »Du bist weggelaufen, undankbares Blag«, schimpfte er kalt.</p> <p>»Ja«, gab ich schluchzend zu: »Aber ich tu’s nie wieder. Ehrlich! Es war ein Versehen. Bitte! Ich möchte wieder nach Hause.« Ich zog alle Register und war zu jedwedem Versprechen bereit, wenn er mich nur wieder mit ins Institut genommen hätte. Doch es half alles nicht. Er war nur gekommen, um sich zu verabschieden.</p> <p>»Ab jetzt musst Du selber zusehen, wie Du zurechtkommst. Ich kann nichts mehr für Dich tun«, war Meissmanns letzte Antwort auf mein Geheule. Er rief die Aufsicht, die mich losmachte und schreiend und strampelnd den Gang entlang zerrte, weg von meinem einzigen Hoffnungsschimmer.</p> <p>Ich schrie in den hellsten Tönen: »Professor, Professor, Professor!« Ich bäumte mich auf, biss, schlug und trat nach den unzähligen Händen, die nach mir griffen und mich zu bändigen versuchten. Doch die Regeln hatten sich geändert. Man ging nicht gerade zimperlich mit mir um. Ruck zuck hatte ich ein paar Ohrfeigen sitzen. Ich war darüber so schockiert, dass die Aufseher danach ein leichtes Spiel mit mir hatten. Mit einem geschickten Griff ließen sie meine beiden Kieferhälften aufschnappen, um meine Zunge mit einer bitteren Medizin zu beträufeln. Kurz darauf sah ich, wie sich die hohe Zimmerdecke zu mir herab bog. Dann schlief ich ein.</p> <p>Es blieb mir nichts anderes übrig als mich mit der Situation zu arrangieren. Mit meinen dreizehn Jahren gehörte ich zu den Senioren unter den Kindern. Zusammen mit meinem grau schimmernden Haar, meinen abstehenden Ohren und meinem aggressiven Verhalten galt ich somit als unvermittelbar und wurde entsprechend behandelt. Meine strikte Weigerung, Russisch oder Lettisch zu lernen, machte mir das Leben auch nicht gerade leichter. Ich war auf mich allein gestellt, hielt mich aber recht wacker. Ich merkte bereits an meinem ersten Tag, dass ich die süße Abendmilch, die man uns kurz vor dem Schlafengehen servierte, nicht trinken durfte, weil man dadurch in einem tiefen Nachtschlaf versank, von dem manche erst am späten Morgen des nächsten Tages wieder erwachten. Da wir alle immer sehr hungrig waren, wurde die Milch immer artig ausgetrunken. Ich hatte jedoch damals das Glück, dass mir der bittere Nachgeschmack nicht behagte und sich immer ein Paar gieriger Kinderhände finden ließ, an die ich das unliebsame Getränk loswerden konnte.</p> <p>Einige Kinder wurden von der Milch so müde, dass ihre Köpfe schwer zur Tischplatte sanken. Dennoch wurden auch sie zusammen mit den anderen Kindern für eine letzte Katzenwäsche in den Baderaum getrieben. Da wir uns immer ein einziges Handtuch teilten, war es ratsam, nicht der Letzte zu sein, der sein nasses Gesicht und seine Hände damit trockenzureiben hatte. Hungrig und hellwach folgte ich dem Kindertross dann zum Bettenlager, wo es augenblicklich totenstill wurde. Man hörte weder ein Flüstern noch das Rascheln einer Decke. Die Kinder lagen so reglos in ihren Betten, als wären sie gestorben.</p> <p>Wenn ich mir sicher war, dass die Wachsamkeit der Heimleiter in einem ebenso tiefen Schlummer versunken war wie meine Kameraden, stahl ich mich über den dunklen kalten Flur hinaus in die Duschräume. Da Tomo in Gegenwart Dritter nicht zu mir kommen konnte – das war eine der Regeln, die wir recht schnell herausgefunden hatten –, musste ich dafür sorgen, dass ich nachts alleine war, wenn ich ihn wiedersehen wollte. Am hinteren Ende der großen Gemeinschaftsdusche befanden sich zwei niedrige Holzbänke, auf denen ich mich niederließ, um auf Tomo zu warten. Ich wartete zwei Jahre lang.</p> <p>Es gefiel mir nicht, dass Pragen mich an diesen Ort zurückführte, denn das Waisenhaus gehört ebenso wenig zu mir, wie ich zu ihm gehörte. Ich habe mir aus dieser Zeit keinen einzigen Namen und kein einziges Gesicht gemerkt, weder von den Kindern noch von den Aufsehern. Sie gehörten nicht zu meiner Welt, eine Welt, die ich mir einst gemeinsam mit Tomo aufgebaut hatte und die seit seinem Fernbleiben stetig in sich zerfiel.</p> <p>Glücklicherweise stocherte Pragen nicht tiefer in meiner Vergangenheit, sondern ging stattdessen zu weniger verfänglichen Themen über. Er redete über das Verhalten der Wintervögel, über das bald anstehende Neujahrs­springen und das sich mit jedem zurückgelegten Kilometer ständig wandelnde Wetter. Auf diese Weise verlief die weitere Autofahrt im Wesentlichen harmlos. Pragens beiläufiges Geschwätz ließ keinen taktischen Zusammenhang erkennen. Doch da ich befürchtete, dass gerade darin die Finte bestand, hüllte ich mich den Rest der Fahrt über in eisernes Schweigen und beobachtete die am Fenster vorbeiziehende Welt, bis wir die von Heidt erwählte Taverne erreichten.</p> <p>Der Himmel über Garmisch war klar. Nachdem wir die Mittenwalder Hochnebel hinter uns gelassen hatten, bestaunte Pragen nun andächtig die über uns thronenden Gipfel. Er stellte mir viele Fragen zu den Gebirgsformationen sowie zu den eiszeitlichen Ausformungen und aktuellen Wetterlagen. Seine aufrichtige Bewunderung und sein fast schon kindlich aufgeschlossenes Interesse für die uns umgebende Natur brachten mich dazu, mein Schweigegelübde zu brechen, und ehe ich mich versah, hatte er mich in ein Gespräch verwickelt. Seine Ungezwungenheit stimmte mich versöhnlich und ich beschloss, sein scheinbar streitsüchtiges Auftreten in Heidts Büro nicht mehr länger als offene Kampfansage, sondern lediglich als strenge Warnung zu deuten. Dank dieses herrischen Auftakts wusste ich es nun immerhin besser, als ihn mir zum Feind zu wünschen oder als Gegner zu unterschätzen. Ich blieb zwar argwöhnisch, wagte es jedoch, mich auf meinen ursprünglichen Plan zurückzubesinnen, und wusste auch schon halbwegs, wie ich es anstellen wollte. Pragen selbst hatte mir das Stichwort dafür gegeben, als er unter dem Eindruck der majestätischen Gipfel bedauerte, den für Ende des Jahres geplanten Abschlussball für die Belegschaft seiner Dienststelle an die Ufer des Starnberger Sees anstatt in die Bergwelt gelegt zu haben. Ich brauchte also eine Einladung zum Jahresball der Münchner Geheimdienstbehörde, wenn ich Eliot wiedersehen wollte. Falks schuldbewussten Blick hatte ich zu jenem Zeitpunkt verdrängt.</p> <p>Heidt klatschte in die Hände und trieb uns wie Schafe in die Taverne. Wir waren eine stattliche Gruppe von zwanzig – oder so – Personen und füllten das halbe Lokal aus. Ich ergatterte einen Platz an Pragens Tisch, ihm direkt gegenüber. Er nickte und lächelte, während er die vorsorglich bereitgelegte Serviette über seinem Schoß ausbreitete und die Karte zur Hand nahm. Ich folgte seinem Beispiel.</p> <p>Die Karte brauchte ich allerdings nicht lange zu studieren, denn ich kannte das Lokal und hatte meine Wahl eigentlich schon unterwegs getroffen. Als einer der ersten, der sein Tischleindeckdich aufsagte, bestellte ich einen Germknödel in süßer Soße, aber ohne Kompott und dazu einen großen Becher frischer Milch, die nach Möglichkeit nicht eiskalt sein sollte. Als Vorspeise wählte ich eine Grießklößchensuppe und bat um mehr Klößchen als Suppe. Die Bedienung war mit meinen Marotten vertraut und versprach, meine Sonderwünsche an die Küche weiterzuleiten.</p> <p>Als Pragen an die Reihe kam, hatte er sich noch nicht entschieden. Unschlüssig beugte er sich über die Speisekarte.</p> <p>»Keine falsche Bescheidenheit«, rief Heidt ihm vom Nachbartisch zu: »Die Rechnung geht auf mich.« Nach einem Blick in die Runde fügte er hinzu: »Das gilt natürlich für alle: Langt kräftig zu!« Dieser Befehl wurde natürlich fleißig und ohne Murren befolgt. Sogar rückwirkend, denn wer bereits bestellt hatte, klappte die Karte erneut auf, um die Liste der Suppen, Salate und Vorspeisen durchzugehen.</p> <p>Ich blieb bei meiner Bestellung und auch Pragen legte schließlich die Karte beiseite, bedankte sich bei Heidt für die großzügige Einladung und bestellte dasselbe wie ich. Nur dass er sich gewählter ausdrückte, statt der Grießklößchen eine einfache Gemüsesuppe vorneweg nahm und keine Extrawünsche hatte.</p> <p>Die Speisekarten wurden weggetragen, Trinkdeckel ausgeteilt und die ersten Getränke gebracht. Erstaunt beobachtete ich, wie Pragen ein Erfrischungstuch aus dem Tischständer nahm und sich damit die Hände wusch. Ich hatte immer gedacht, diese Tüchlein seien für nach dem Essen. Manchmal liegen sie den eisernen Rationen bei, mit denen wir uns während unserer Biwaks versorgen. Da ich jedoch den Geruch nicht ausstehen kann, bringe ich die luftdicht versiegelten Beutel jedes Mal ungeöffnet vom Berg zurück und habe inzwischen einen ganzen Karton voll davon gesammelt. Auch dieses Mal verzichte ich auf die in Desinfektionslösung und Zitronensaft getränkten Tücher und entschuldigte mich stattdessen kurz, um meine Hände mit klarem Wasser waschen zu gehen. Als ich zurückkam, wurden bereits die Vorspeisen aufgetischt und die Kellnerin schenkte Pragen gerade ein verschmitztes Lächeln, bevor sie mit ihrem leeren Suppentablett unterm Arm in die Küche zurück eilte.</p> <p>Heidt gab unterdessen sein übliches Repertoire an Anekdoten zum Besten. Er erzählte von Zeiten, als Berge noch echte Berge waren und Gebirgsjäger wahre Helden. Seine Geschichten waren wohl hauptsächlich für Pragens Ohren bestimmt. Denn der Rest von uns kannte sie zur Genüge. Pragen wiederum mischte sich nur sporadisch in die tischübergreifenden Wortgefechte und Heidts Heldenlieder ein und unterhielt sich hauptsächlich mit mir. Obgleich unser Gespräch gewisse Längen aufwies und aufgrund meines eher bescheidenen Konversationstalents in der einen oder anderen Sackgasse mündete, war er im Grunde ein angenehmer Tischgenosse. Er konnte auch mal schweigen und verzieh mir meinen Mangel an akademischer Bildung. Studieren ist ja besonders unter Offizieren inzwischen so sehr in Mode gekommen, dass man zunehmend in die Verlegenheit gerät, sich rechtfertigen zu müssen, wenn man sich diesen Zirkus erspart hat. Pragen störte sich jedoch nicht an meinen naiven Antworten.</p> <p>Es blieb jedoch nicht lange so unverfänglich. Als die Hauptspeisen serviert wurden, war am Nachbartisch gerade eine hitzige Debatte über einen kürzlich erschienen Zeitungsartikel im Gange. Darin wurde über eine mögliche Form des Soldaten der Zukunft spekuliert, der durch Medikamente und Strahlenbehandlung in einen hitze-, kälte- und schmerzresistenten, nimmermüden und ergebenen Staatsdiener verwandelt werden sollte. An dem Thema schieden sich die Geister und bald fielen sich alle gegenseitig ins Wort, um ihre Meinung dazu kundzutun. Nur ich beteiligte mich nicht an dem inbrünstig diskutierten Für und Wider. Ich hatte zwar auch schon von dem Bericht gehört, mich jedoch nicht sonderlich für die Details interessiert. Dass die Zukunftsvisionen des Journalisten auf dem wehrmedizinischen Bericht eines Koblenzer Forschungslabors gründeten, das unter Professor Meissmanns Fittichen stand, erfuhr ich erst, als sich Pragen in die Diskussion einmischte. Das machte die Sache zwar ein wenig interessanter, aber immer noch nicht interessant genug. Weswegen ich mich weiterhin ausschließlich meinem Essen widmete.</p> <p>»Warum schweigen Sie?«, stellte mich Pragen unvermittelt zur Rede: »Sie kennen Meissmann vermutlich besser als jeder andere hier am Tisch, dennoch sind Sie der Einzige, der nichts zu dem Thema zu sagen hat. Glauben Sie, dass die journalistische Aufarbeitung dem zugrundeliegenden medizinischen Bericht gerecht wird?« Ich war mir sicher, dass Pragen nicht wirklich an meiner Meinung über den Zeitungsartikel interessiert war, sondern mehr über meine Beziehung zu Professor Meissmann erfahren wollte. Vermutlich hatte er dessen Namen überhaupt nur ins Spiel gebracht, um meine Reaktion darauf zu beobachten. Ich hoffte, seiner Frage mit einem Schulterzucken ausweichen zu können, legte meinen Suppenlöffel beiseite und trank die Brühe.</p> <p>Pragen schien, mein vorgeschobenes Desinteresse jedoch nicht zu gefallen. Anstatt sich ebenfalls seinem Essen zuzuwenden, wartete er darauf, dass sich unsere Blicke erneut begegneten. Ich konnte seine gespannte Erwartung förmlich spüren und wagte nicht, von meinem Teller aufzublicken. Als ich es schließlich doch tat, sah ich, wie Pragen meine Not mit geduldiger Miene beobachtete. Er wartete offenbar noch immer auf eine Antwort.</p> <p>»Mir fällt zu diesem Thema wenig ein und es geht mich auch nichts an«, gab ich schließlich nach, um wenigstens irgendetwas gesagt zu haben, aber mit dieser Antwort schien er, sich ebenfalls nicht begnügen zu wollen: »Es geht um die Heilung der Menschheit von Erschöpfung, Krankheit und Schmerz, ja vielleicht sogar um ein Ende der Sterblichkeit«, erklärte er: »Sollte diese ungeheuerliche Vorstellung nicht jeden von uns etwas angehen und jedem von uns ein wenig Herzklopfen bereiten, sei es nun aus Hoffnung, Furcht oder Empörung?« Er tat erstaunt.</p> <p>»Ich möchte mir nicht über etwas den Kopf zerbrechen, wovon ich ohnehin nichts verstehe. Warum befragen Sie mich nicht zur Kräftewirkung einer aus Klemmkeilen und Seilschlingen gebauten Ausgleichsverankerung in weichem Kalkgestein?«, erwiderte ich: »Dazu wüsste ich mehr zu sagen.«</p> <p>»Das glaube ich gern«, pflichtete Pragen mir bei: »Könnte Ihr einseitiges Interesse vielleicht darin begründet liegen, dass Sie Krankheit weniger fürchten als einen schlecht gesetzten Mauerhaken?«</p> <p>»Ein Mauerhaken ist ein für mich kalkulierbares Risiko. Aber alles weitere liegt in Gottes Händen.«</p> <p>»In Gottes Händen?«, hakte Pragen umgehend ein und schien dabei fast ein wenig amüsiert: »In Ihrer Akte steht, Sie seien Atheist.«</p> <p>»Das sagt man hier bei uns so«, wehrte ich ab und fühlte mich erneut ertappt, zumal dies meinen Vorwand, mit Heidt über kirchliche Angelegenheiten sprechen zu wollen, noch fadenscheiniger aussehen lassen musste. Doch Pragen blieb beim Thema: »Wenn Sie Leben und Tod in Gottes Hände legen, passt das erstaunlich gut mit dem zusammen, was Professor Meissmann über den Platz der Medizin in unserer modernen Gesellschaft predigt. Er behauptet, seit der Vertreibung aus dem Paradies sei der Mensch auf sich allein gestellt und stehe somit in der Pflicht, sein eigener Gott zu sein. Wer einen Berg überqueren möchte, ist seiner Meinung nach besser beraten, wenn er sich einem fähigen Bergführer anvertraut, als wenn er sich auf Gottes Gnade verlässt, und mit einer Blinddarmentzündung geht man ins Krankenhaus nicht in die Kirche. Nun sitze ich hier zusammen mit einem, wie ich mir glaubhaft habe versichern lassen, exzellenten Bergsteiger, der zwar einerseits die Existenz einer Höheren Macht abstreitet, aber zugleich die Grenzen seiner eigenen Möglichkeiten anerkennt. Was befindet sich jenseits dieser Grenze? Ein Gott in einem weißen Kittel? Oder braucht jemand, der keine körperlichen Gebrechen kennt, keinen Gott? Dann wäre Ihr Atheismus rein pragmatischer Natur. Sie leugnen Gott nicht, sondern Sie brauchen ihn einfach nicht.« Ich schaute Pragen nur verwirrt an.</p> <p>»Sie sind niemals krank gewesen«, fuhr er auf mein Schweigen hin fort: »Kein einziges Mal in fast zehn Jahren Dienstzeit als Infanterist in diesem rauen Klima, in dieser rauen Welt. Kein Schnupfen, keine Prellung, noch nicht einmal eine kleine Magenverstimmung. Jedenfalls gibt es keine derartigen Krankmeldungen oder Lazarettberichte. Das klingt doch schon fast wie der Soldat der Zukunft aus dem Zeitungsbericht.« Pragen lachte, als hätte er sich nur einen Scherz mit mir erlaubt. Doch sein Lachen täuschte mich nicht über seine Unterstellungen hinweg. Ich wollte etwas zu meiner Verteidigung vorbringen, doch mir fiel auf die Schnelle nichts ein.</p> <p>»Entschuldigen Sie, aber Ihre scheinbare Unbezwingbarkeit machte mich stutzig, Hauptmann Fenner«, erklärte Pragen weiter, »und neugierig. Deswegen verfolgte ich den Lauf Ihrer Karriere und wurde dabei auf Ihre Koblenzer Krankenakte aufmerksam. Dort sind all Ihre routinemäßigen Blutentnahmen und Untersuchungen, aber auch eine Serie stationärer Aufenthalte im Zentrallazarett vermerkt. Meine Neugier wurde damit jedoch nicht befriedigt, denn die Felder für Wundbericht, Befund und Behandlung sind leider immer leer und aus dem Datum lässt sich kein erkennbares Muster ableiten. Nur die Unterschrift ist interessant. Denn sie ist auf allen Dokumenten gleich: Hans-Joachim Meissmann.« Pragens eben noch kameradschaftlicher Tonfall war plötzlich voller Misstrauen. Trotzdem lächelte er wieder. Sein Lächeln machte mir jedoch mehr Angst als sein Misstrauen. Um nichts Falsches zu sagen, schwieg ich.</p> <p>»Warum reisen Sie für eine Routineuntersuchung in das fünf Zugstunden entfernte Koblenz? Warum gibt es für Ihre ein- bis zweiwöchigen Aufenthalte im Zentrallazarett keine Aufnahmeberichte? Wieso braucht ein den offiziellen Papieren nach kerngesunder junger Mann überhaupt einen Leibarzt?« Pragen nahm sich einen Moment Zeit, um meine Verlegenheit zu genießen, bevor er fortfuhr: »Ihre Wege scheinen immer wieder die des Professors zu kreuzen. Er unterschrieb das ärztliche Gutachten im formellen Rechtsprozess um Ihre Anerkennung als deutscher Staats­bürger. Aufgrund seines Befundes über Ihren Hochbegabtenstatus konnten Sie entgegen der Empfehlung der deutschen Jugendbehörden gleich nach Ihrer Übersiedlung aus dem Ostblock in die Mittelstufe eines allgemeinbildenden Gymnasiums aufgenommen werden. Von allen Offiziersanwärtern, die im Jahr 1982 zur Eignungsprüfung antraten, sind Sie der Einzige, dessen Bewertungsbögen nicht von einem Musterungsarzt, sondern von Meissmann unterschrieben wurden. Selbst die Gegenzeichnung ihrer Tauglichkeitspapiere erfolgte nicht durch den ihnen zugeordneten Wehrbeamten, sondern durch einen mit dem Professor befreundeten Sanitätsoffizier.«</p> <p>Pragen hatte seine Hausaufgaben offenbar gründlich gemacht und war die Amtspapiere in meiner sicherlich meterdicken Personalakte so oft durchgegangen, bis er zwischen all dem bunten Durcheinander aus Stabsberichten, Reiseanträgen und Sicherheitsprotokollen eine Konstante isoliert hatte: Hans-Joachim Meissmann. Zehn Jahre lang hatte sich niemand daran gestört, aber Pragen schien, seine Obliegenheiten als Chef der Münchner Geheimdienstelle entweder sehr ernst zu nehmen, oder wie ich, nichts Besseres mit seinem Leben anzufangen zu wissen, als die berufliche Pflicht zu seinem privaten Steckenpferd zu machen.</p> <p>Ich fühlte mich in die Enge getrieben und meine Unsicherheit brachte jenen Teil meiner Natur hervor, der mir vor vielen Jahren den Titel Fürst Myschkin eingebrockt hatte: »Wenn es Meissmanns Name ist, der Sie so sehr beunruhigt«, setzte ich mich zur Wehr, »warum fragen Sie den Professor dann nicht selbst?« Ich versuchte, gelassen zu wirken, befürchtete jedoch das Schlimmste. Seltsamerweise lachte Pragen nur, als hätte ich einen guten Witz gemacht: »Ich muss gestehen, dass ich bisher noch nicht einmal von den Generälen des Verteidigungsministeriums eine solch furchtlose Antwort zu hören bekommen habe. Sie reden, als wären es nicht der mit weitreichenden Befugnissen ausgestattete Geheimdienstapparat und eine von Heidt zusammenfantasierte Stabseinheit, die sich hier gegenübersitzen. Aber es ist Ihr gutes Recht, es mir nicht zu einfach zu machen.« Er schmunzelte: »Ich dachte, die Ihnen nachgesagte Unerschrockenheit beziehe sich nur auf Ihre Leistungen als Bergführer, nicht auf Ihre Aufmüpfigkeit gegenüber ranghöheren Offizieren. Aber keine Sorge«, fügte er augenzwinkernd hinzu: »Ich betrachte unser Gespräch als Plausch unter Freunden und muss mich wohl damit abfinden, dass Sie den Professor mehr fürchten als mich.«</p> <p>Fast hätte ich mich dazu hinreißen lassen, Pragen zu widersprechen. Denn ich fürchtete Meissmann nicht, sondern weigerte mich nur, sein Monster zu sein. Ich besann mich jedoch eines Besseren und nahm mir meinen Germknödel vor, solange er noch heiß war. Auch Pragen räumte seinen Suppenteller beiseite, sägte ein Stück von seinem Germknödel ab und trank dazu einen Schluck Milch. Vermutlich hätte er seine unangenehmen Fragen und Sticheleien danach mit neuen Elan fortgesetzt, wenn nicht gerade in diesem Moment an der Stelle, wo meine Messerspitze in dem weichen Hefekloß steckte, eine rotbraune Masse ausgetreten wäre. Der klebrige Brei aus zähflüssigem Fruchtsirup und verschrumpelten Pflaumenstückchen erinnerte mich an die zum Ausweiden kopfüber aufgehängten Tierkadaver, denen man manchmal begegnet, wenn man zu früh am Morgen oder zu tief in den Wald hinaus läuft. Aufbruch nennen die Jäger diesen Brauch. Es war jedoch nicht das Bild von aufgebrochenen und ausgeweideten Wildschweinen, Rehen und Hirschen, was mich so erschreckte, sondern eine davon überlagerte Erinnerung, in der ich selbst der Jäger war und Tomo der Gejagte. Ich schüttelte mich, um meine durch Pragens merkwürdig hartnäckiges Interesse an meiner Vergangenheit durcheinanderbrachten Gedanken zu ordnen.</p> <p>Da er den Grund für mein stilles Entsetzen nur raten konnte, glaubte Pragen, mir hätte das glibberige Pflaumenmus den Appetit verdorben. Mit einem vorsichtigen Schnitt untersuchte er das Innenleben seines Knödels und stellte belustigt fest, dass man offenbar unsere Mahlzeiten vertauscht hatte.</p> <p>»Was nun?«, fragte er und lachte, wie um ein Kind aufzumuntern. Er könne mit der Vertauschung leben, sei aber auch gerne dazu bereit, die Teller zu tauschen.</p> <p>Ich überlegte kurz und schob ihm schließlich mit einem stummen Kopfnicken meinen Teller zu, der eigentlich seiner war, um im Gegenzug seinen oder vielmehr meinen entgegenzunehmen. Pragen setzte seine Mahlzeit daraufhin mit großem Appetit fort. Ich starrte hingegen zunächst unschlüssig auf meinen Teller. Das Hin-und-Herreichen von Wasserflaschen, das Essen aus einer gemeinsamen Suppenschüssel oder die gemeinschaftliche Nutzung von Seife und Handtuch ist mir von Berufs wegen vertraut. Aber was mir am Berg und unter meinesgleichen natürlich erscheint, fiel mir plötzlich ungeheuer schwer. Ich hatte das Gefühl, mit Pragen Blutsbrüderschaft zu schließen. Nur dass unser Blut gelb statt rot war und nach Vanille duftete.</p> <p>Ich gab mir jedoch Mühe, meine Befangenheit zu überwinden, bevor mein Essen kalt wurde, und redete mir ein, dass die Vertauschung eigentlich ein glücklicher Zufall gewesen war. Immerhin bewahrte sie mich vor weiteren Fragen. Jedenfalls vorerst. Mir war klar, dass Pragen unser Gespräch jederzeit in einem Münchner Verhörraum fortsetzen konnte, wenn er wirklich Antworten auf seine Fragen haben wollte.</p> <p>Viel zu erzählen hätte ich aber auch in München nicht. Denn obwohl Pragens Zusammenfassung meines Lebens anderes vermuten lässt, pflege ich keinen Kontakt mehr zu dem Professor, seit ich ihn vor ein paar Jahren darum gebeten habe, mich endgültig und ein für alle Mal in Frieden zu lassen. Seit dem schickt er mir jedenfalls keine Weihnachtskarten mehr und zitiert mich auch nicht mehr zu den von Pragen erwähnten Untersuchungen in sein Koblenzer Krankenhaus.</p> <p>Ich weiß nicht, warum, aber ich kam mit Meissmann nie besonders gut aus. Dabei hat er mich niemals schlecht behandelt, sondern ihm Gegenteil wie einen Prinzen verwöhnt. Ich war eines seiner wichtigsten Projekte, habe jedoch nie ganz verstanden, worum es dabei ging. Die Versuchsanordnungen änderten sich jedes Jahr. Hauptsächlich beschäftigte sich Meissmann mit Wahrnehmungen, die nicht auf tatsächlicher sensorischer Aktivität, sondern auf autoassoziativen Vorgängen im Gehirn gründeten. Seiner Meinung nach sollte es möglich sein, dass Nachkommen Sinnesreize ihrer Vorfahren spüren oder sogar deren Erinnerungen erleben. Der Professor nannte dies genetisches Nachhallen und testete mich zur Erforschung dieses Phänomens auf Wahrnehmungsverschiebungen bezüglich der physikalisch messbaren Realität. Diese in den Laborjournalen als Evokationstherapien geführten Prozeduren waren in der Regel schmerzfrei und konnten, wenn man dabei nicht gerade mit mangelhafter Ausrüstung bei Minustemperaturen durch das verschneite sibirische Hinterland stapfen musste, sogar Spaß machen. Solche Expeditionen waren jedoch teuer und somit eher selten. Soweit ich mich erinnere, waren es insgesamt nicht mehr als vier. Vielleicht bringe ich aber auch alles durcheinander. Die meiste Zeit meines Lebens habe ich in Meissmanns Institut verbracht. Ich wurde dort geboren und wäre vermutlich auch heute noch dort, wenn mich nicht eines Tages der Mann mit dem dunklen Anzug von meinem Zuhause fortgelockt hätte. Vielleicht wäre dann auch Tomo noch am Leben.</p> <p>Wahrscheinlich hat sich der Professor meine Sympathien durch seine rückbetrachtet doch recht grausamen Spielchen verscherzt. Denn als ich noch sehr klein und dementsprechend leichtgläubig war, hat er mir, um mich gefügig zu machen, die haarsträubendsten Münchhausnereien aufgetischt. Einmal erzählte er mir, er habe in seiner Jugend die ganze Welt erforschen wollen und sei darum eines Nachts auf dem Nullmeridian nach London gereist und in das königliche Observatorium von Greenwich eingebrochen. Dort besiegte er in einem wilden Kampf den Sekundenzeiger der großen Weltuhr und band ihn mit einem roten Bindfaden an der Acht fest. So sehr sich der Sekundenzeiger auch wehrte, gelang es ihm nicht, seinen vorbestimmten Weg über das Ziffernblatt fortzusetzen. Der Sekundenzeiger von Greenwich war jedoch der Herzschlag der Welt, ohne dessen kontinuierliches Ticken das ganze Universum zum Stillstand kam. Denn ohne Sekunden gab es auch keine Minuten, ohne Minuten keine Stunden und ohne Stunden keine Tage. Die gesamte Zeit hörte einfach auf, zu existieren, und mit ihr alles Leben. Die Menschen und Tiere verwandelten sich in reglose Statuen und die Sternbilder am Himmel froren ein. Nur der Professor selbst konnte sich noch bewegen. So erforschte er Jahrhunderte lang die ganze Welt, ohne dabei zu altern, bis er eines Tages aus Sehnsucht nach dem Sonnenaufgang den Bindfaden wieder löste und den Fluss der Zeit wiederherstellte.</p> <p>Was heute lächerlich wirkt, wirkte damals jedoch wahre Wunder. Denn der Professor erzählte mir, dass er den roten Bindfaden, der über die vielen Jahrhunderte hinweg die Zauberkraft des königlichen Zeigers von Greenwich in sich aufgesogen hätte, immer noch besitzen würde, um damit jeden festzubinden, der ihm nicht gehorchte. Er brauche den Faden nur um ein einziges Fingerglied der betreffenden Person zu wickeln, damit sie umgehend zu Stein erstarre, während sich die Welt ohne sie weiterdrehen würde. Das fühle sich an, wie bei lebendigem Leib begraben zu sein, versicherte er mir. Wenn ich fortan widerspenstig oder ungehorsam war, musste der Professor nur mit dem roten Bindfaden drohen, um jeglichen Widerstand zu brechen. So lebte ich viele Jahre lang in Angst vor dem roten Bindfaden, bis ich mir eines Nachts zusammen mit Tomo einen Plan überlegte, der mich eigentlich von dem Fluch hätte befreien sollen, aber stattdessen in einer Katastrophe mündete.</p> <p>Der Professor und ich gerieten immer wieder aneinander, auf die eine oder andere Weise. Je älter ich wurde, desto öfter und heftiger. Manchmal wurde Meissmann ungeduldig oder ließ seine schlechte Laune über die erfolglosen Resultate an mir aus, beschwerte sich über meine mangelhaften Fortschritte oder warf mir Undankbarkeit vor. Auch ich war oft sehr launenhaft und reagierte ganz unterschiedlich auf seine scharfen Zurechtweisungen. Manchmal lief ich einfach davon und verkroch mich in einer dunklen Ecke, bis die Nacht hereinbrach und Tomo erschien. Manchmal veranstaltete ich aber auch ein Riesengezeter und schrie voller Wut, dass er mich in Ruhe lassen solle, einfach nur in Ruhe lassen. Dann ballte ich meine Hände zu Fäusten, biss dem Professor in den Bauch oder warf mich auf dem Boden und trat und schlug wild um mich.</p> <p>Nicht dass ich auch nur den Hauch einer Chance gegen ihn gehabt hätte. Wenn es ihm zu viel wurde, rief er einfach einen Assistenten, um mich wie ein lästiges Insekt entfernen zu lassen. Diese herablassende Geste machte mich jedoch umso wütender. Jeder, der mich anfasste, bekam meine kleinen Kinderfäuste zu spüren, und seine Assistenten mussten all ihre Kraft aufwenden, um das zappelnde Etwas, das sich unter ihrem festen Griff krümmte, streckte, bog und wand, unter Kontrolle zu halten. Ich machte mich schwer, klammerte mich an Türrahmen fest, strampelte mich frei und lief davon. Ich muss gestehen, dass ich dieses Kräftemessen mit den Erwachsenen auch ein wenig genoss. Denn obgleich ich von vorneherein wusste, dass ich am Ende unvermeidlich den Kürzeren ziehen würde, erlaubten mir meine wachsende Kraft und Geschicklichkeit, in diesen Kämpfen immer länger durchzuhalten. Erst wenn die Fesselgurte meines Betts in Sichtweite kamen, lenkte ich ein und ließ mich schließlich ohne weiteren Widerstand in meinem Zimmer einsperren, wo ich nach dem vollbrachten Kraftakt erschöpft auf mein Lager sank und die Dinge zählte.</p> <p>Das klingt nun alles ein wenig rabiat, war es aber eigentlich gar nicht. Das Institutspersonal ging immer recht behutsam mit mir um, da es strenge Regeln gab. Ohne medizinische Notwendigkeit oder Meissmanns ausdrücklich erklärtes Einverständnis durfte mich niemand grob anpacken, medikamentös ruhigstellen, fixieren oder einsperren. Eine Druckstelle an meinem Handgelenk, ein aufgeschlagenes Knie, ein zu fest gewickelter Verband oder eine zerstochene Vene reichte bereits aus, um Köpfe rollen zu lassen. Ich erinnere mich noch deutlich an die tyrannisierten Blicke der Pfleger, wenn ihnen bei einem Routinehandgriff ein Malheur passierte. Diese Sonderstellung bewahrte mich natürlich nicht vor den Strapazen der Versuchsreihen, die zwei oder drei Mal im Jahr stattfanden. Aber meine Wunden verheilten immer sehr schnell. Das sagte selbst der Professor.</p> <p>Milada musste nie handgreiflich werden, um mich zur Räson zu bringen. Bei ihr gehorchte ich immer aufs Wort. Vermutlich war mir Milada deswegen so sympathisch, weil sie sich auch oft mit Professor Meissmann stritt. Wenn ich eine Auseinandersetzung zwischen den beiden mitbekam, spitzte ich die Ohren und feuerte Milada in Gedanken an. Das machte natürlich am meisten Spaß, wenn ich das Thema der Diskussion war. Ich liebte Milada und hielt sie nicht nur für die intelligenteste, tapferste und schönste Frau auf der ganzen Welt, sondern für das Maß aller Dinge. Ich eiferte ihr nach und versuchte, den Professor zu selbstbewussten und sachlichen Streitgesprächen herauszufordern, wie Milada es zu tun pflegte. Doch leider erwiesen sich Wortgefechte nicht als meine große Stärke, denn ich argumentierte weder selbstbewusst noch sachlich, sondern oft einfach nur trotzig und unbesonnen drauf los, und mein Vorrat an guten Argumenten ging regelmäßig schneller zur Neige als der meines Gegners. Das ist leider immer noch so. Außer eben, wenn es ums Bergsteigen geht.</p> <p>Heidt sorgte kurz für Aufregung. Nachdem er einen Grillteller für zwei Personen komplett leer gegessen hatte, studierte er die Dessertkarte, rang lange mit seiner Entscheidung und wählte dann endlich Apfelstrudel mit Eis und Vanillesoße. Er wollte die Karte weiterreichen, aber nach den üppig portionierten Mahlzeiten konnte keiner mehr etwas vertragen.</p> <p>»Übung macht den Meister«, lachte Heidt, schlug sich auf seine Wampe und rief nach der Kellnerin. Er wies sie in gespielt gebieterischem Ton an, seine Portion nicht zu klein zu machen und allen anderen wenigstens noch ein Getränk zu bringen. Die Bedienung schäkerte ein wenig mit ihm, bevor sie unsere Getränkewünsche aufnotierte.</p> <p>»Kaffee oder Tee?«, fragte mich Pragen nach einem flüchtigen Blick auf die Uhr. Ich entschied mich für Tee, woraufhin er, ohne nach meinen weiteren Vorlieben zu fragen, für uns beide eine Kanne Schwarztee bestellte. Die Bedienung schrieb es nach einem kurzen Zögern auf.</p> <p>Teekannen sind bei uns im Süden eigentlich nicht üblich. Kaffeekannen, ja. Aber Tee wird hier gewöhnlich direkt in der Tasse aufgebrüht. Deswegen war ich auch nicht verwundert, als man unseren Tee in einer Kaffeekanne brachte. Pragen hingegen schon. Bis auf einen amüsierten Blick auf das Kaffeegeschirr ließ er sich seine Verwunderung jedoch nicht anmerken.</p> <p>Als Pragen jedoch die Teebeutel aus der Kanne nahm und unsere Tassen füllte, war ich der derjenige, der in Verwunderung versetzt wurde. Obwohl er improvisierte, wirkte jeder Handgriff wie einstudiert. Beim Lüpfen des Kannendeckels hielt er seinen Ärmel zurück, damit sich der Saum seiner Jacke nicht im Teenebel mit Kondenswasser vollsog, und ein kurzer Blick auf die Farbe des Wassers genügte ihm, um zu entscheiden, dass der Tee lange genug gezogen hatte. Die vier Beutel, die man in das kochende Wasser gehängt hatte, fand er übertrieben. Er nahm sie aus der Kanne und setzte sie, ohne sie auszuwringen, auf einen kleinen Untersetzer, wo sich ruckzuck ein dunkelbrauner See bildete. Der Tisch hatte jedoch keinen einzigen Tropfen abgekommen. Danach setzte er der Kanne wieder ihren Deckel auf und befüllte unsere Tassen. Erst seine, dann meine. Aus Höflichkeit, nehme ich an. Er wollte vermutlich vermeiden, dass die durch die hohe Tülle der Kaffeekanne ausgegossene Teehaut in meiner Tasse landete. Außerdem war mein Getränk auf diese Weise etwa zehn Sekunden frischer und heißer als seins.</p> <p>Er fragte, ob ich Zucker oder Milch bräuchte. Als ich verneinte, stellte er meine Tasse vor mir ab und drehte den Henkel meiner Tasse nach links. Meine Vorliebe schien ihm aufgefallen zu sein. Zuletzt nahm er ein Papiertuch und stellte mit einer raschen und routinierten Handbewegung sicher, dass die Porzellankanne rundherum und am Boden trocken war. Es war jedoch, wie wohl nicht anders zu erwarten, nichts daneben gegangen. Er faltete das Papiertuch zu einer Schleife und setzte diese auf den Deckel.</p> <p>Ich bedankte mich und hielt meine Nase in den Teenebel. Pragen nickte mir zu und lehnte sich mit seinem Tee zurück. Die erste Tasse tranken wir schweigend. Vermutlich hörte er den Gesprächen vom Nachbartisch zu, während ich darüber nachdachte, ob es wirklich eine gute Idee war, über Pragen ein Wiedersehen mit Eliot einzufädeln.</p> <p>Die zweite Runde Tee gab ich aus. Nicht so elegant, wie Pragen dies zuvor getan hatte, aber ebenfalls ohne auf den Tisch zu kleckern. Einen einzelnen Tropfen, der nach dem Eingießen die Tülle hinab rann, konnte ich gerade noch rechtzeitig mit der verknoteten Papierserviette auffangen. Nach der gelungenen Rettungsaktion setzte ich die weiße Schleife wieder oben auf den Deckel der Kanne. Dieses Mal war es Pragen, der mir dankte, während er den Henkel seiner Tasse in die richtige Position drehte. Nachdem wir bereits vom gleichen Teller gegessen hatten, tranken wir nun auch noch aus der gleichen Kanne und schenkten uns gegenseitig ein. Das Gefühl weckte in mir Befremden. Zugleich, kam ich, obwohl ich mich dagegen wehrte, nicht umhin, Sympathie für ihn zu entwickeln.</p> <p>Die zweite Tasse Tee war dunkler als die erste und schmeckte bitter. Ich wäre vollkommen damit zufrieden gewesen, das bittere Getränk zu genießen und weiter zu schweigen, doch Pragen nutzte den ruhigen Moment, um an unser von dem Zwetschgenkompott unterbrochenes Gespräch anzuknüpfen: »Ich werde ihren Rat beherzigen«, verkündete er unvermittelt, »und mich mit meinen Fragen zu Meissmann an den Professor persönlich wenden. Doch mir liegen einige Dinge auf dem Herzen, zu denen Sie mir vermutlich am besten Rede und Antwort stehen können, weil es dabei um Sie geht, beziehungsweise um Ihre Stabsabteilung, Stabsabteilung X.«</p> <p>Mir fiel plötzlich ein, wie mich Heidt mit den Worten ›Wenn man vom Teufel spricht‹ begrüßt hatte. Unwillig schaute ich von meiner Teetasse auf. Offenbar hatte sich das Gespräch, in das hineingeplatzt war, um mich gedreht. Über meine Erfolge und Verdienste konnten sie allerdings nicht geredet haben, denn damit hatte Heidt erst angefangen, nachdem der Teufel persönlich ins Zimmer getreten war.</p> <p>»Fragen Sie sich denn gar nicht, wieso ich eigentlich hier bin?«, fuhr Pragen fort. Diese Frage stellte ich mir in der Tat, äußerte sie jedoch nicht laut, sondern schaute Pragen nur über den Rand meiner Tasse hinweg an.</p> <p>»Ich bin mir vollkommen bewusst«, erklärte er weiter, »dass der Besuch des Geheimdiensts oftmals Unbehagen in den Truppenteilen auslöst. Die erste Frage, die ich in der Regel zu hören bekomme, ist die nach dem Grund meines Besuchs. Die zweite ist, ob man etwas zu befürchten hat. Manchmal ändert sich auch die Reihenfolge oder man begnügt sich mit der einen oder der anderen. Wer jedoch keine der beiden Fragen stellt, hat oftmals etwas zu verbergen. So zeigt es jedenfalls die Praxis.« Er setzte seine Tasse ab und schaute mich erwartungsvoll an.</p> <p>»Habe ich etwas zu befürchten?«, fragte ich.</p> <p>Er lachte: »Ich weiß es nicht. Sagen Sie es mir.« Ich schüttelte den Kopf und zuckte gleichzeitig mit den Schultern.</p> <p>»Wenn der Fürst des Standorts das nicht weiß …« Pragen trank seine Tasse aus, schob sein Gedeck zur Seite und beugte sich nach vorn. Ich wich unwillkürlich zurück und prallte mit meinem Rücken so hart gegen die Stuhllehne, dass der Tee für einen kurzen Moment gefährlich hoch über den Tassenrand schwappte.</p> <p>»Nun gut«, sagte Pragen schließlich und erklärte mir, dass Heidt zwar über meine Einfälle und Allüren hinwegzusehen und sie sogar zu fördern scheine, Brigadegeneral Eichenseher jedoch Bedenken über die Entwicklung meiner Stabsabteilung vorgebracht habe. Er habe ihn gebeten, die Angelegenheit zu untersuchen und eventuelle Unstimmigkeiten gerade zu ziehen, bevor ein größeres Unheil daraus entstehen konnte.</p> <p>Ich verzog die Lippen. General Eichenseher hatte unserem Standort nur wenige Wochen zuvor einen Besuch abgestattet und währenddessen große Lobreden auf meine Arbeit in Heidts Stab geschwungen. Er hatte mir sogar angeboten, meine Arbeit auf Divisionsebene fortzusetzen, um fortan einen erleichterten Zugang zu internationalen Kooperationen mit Frankreich und Österreich zu haben. Obwohl mir die Vorstellung, in den Divisionsstab aufzurücken, wenig behagte, ließ ich mich auf ein paar gedankliche Spinnereien ein. Bevor sich der General verabschiedete, bat er mich darum, ihm in Zukunft eine Kopie der halbjährlichen Berichte meiner Stabsabteilung zukommen zu lassen, da er meine Arbeit mit größter Spannung verfolge und nicht erst auf die Sammelmappen der Division warten wolle. Alles schien in bester Ordnung.</p> <p>Als Pragen meine Enttäuschung sah, fügte er hinzu, dass Eichenseher mein Engagement sehr zu schätzen wisse und von meiner Arbeit begeistert sei. Der General befürchte jedoch, dass Heidt mir zu viele Freiheiten gewähre und mich zu wenig in die Verantwortung nehme.</p> <p>Zu viele Freiheiten? Zu wenig Verantwortung? Ich runzelte demonstrativ die Stirn.</p> <p>Zu viele Freiheiten bei der Anschaffung und Verwendung von Kleidung, Ausrüstung und Fahrzeugen sowie bei der Besoldung der in meiner Stabseinheit Dienst leistenden Soldaten, klärte Pragen mich auf. Und zu wenig Verantwortung, wenn dabei etwas schief laufe oder ein teures Prestigeprojekt in den Sand gesetzt werde.</p> <p>Ich wusste nicht, wovon die Rede war. Jeder Einkauf, der von meiner Stabsabteilung getätigt wird, schiebt eine Bugwelle aus Kostenvoranschlägen und Antragsformularen vor sich her und im Kielwasser treibt ein Tross aus Bilanzierungsberichten, Kaufbelegen und aktualisierten Inventarlisten. Ich spreche bei diesen Anschaffungen nicht – wie man vielleicht meinen möchte – von Raumanzügen, Fregatten oder Truppenpanzern, sondern von wettertauglichen Gamaschen, einem Satz Klemmkeile oder einem Paar Schnee­tritt­linge. Persönliche Ausrüstungsgegenstände wie leichtes, aber dennoch hochgebirgstaugliches Schuhwerk oder moderne Funktionswäsche bestreiten wir größtenteils aus eigener Tasche. Skier, Seile und Gurtzeug leihen wir zumeist aus den Beständen der Ausbildungskompanie und des Hochgebirgsjägerzugs. Eigene Fahrzeuge haben wir keine und die Besoldung meiner Mannschaftsposten und Unteroffiziere als übertrieben zu bezeichnen, ist ebenfalls ungerechtfertigt. Für die Feldwebel habe ich kürzlich eine Zulage für ihre Tätigkeit als Bergführer beantragt, weil sie weniger verdienen als ihre Kollegen aus den Schreibstuben der anderen Abteilungen. Bei den Mannschaftsdienstgraden sind mir jedoch die Hände gebunden. Da sie trotz der harten Belastung durch regelmäßige Biwaks und Einsätze in der Nacht und am Wochenende nur über ihren regulären Sold verfügen, gebe ich ihnen hin und wieder eins, zwei Tage frei.</p> <p>Als meine Abteilung im Spätjahr 1989 aus der Taufe gehoben wurde, waren noch keine Feldwebelposten vorgesehen gewesen und man schacherte mir zunächst all diejenigen Rekruten zu, die sonst niemand haben wollte. Ich schätze, Gunnar hatte damals maßgeblich seine Finger im Spiel. Er empfand meine Beförderung als persönliche Niederlage und wollte sich mit dieser Erschwernis an mir rächen.</p> <p>Die eine Hälfte meiner Männer war von der Musterungsbehörde als eingeschränkt dienstfähig eingestuft worden und durfte nur für Schreib- und Putzarbeiten eingesetzt werden. Die andere Hälfte bestand aus erfolglosen Wehrdienstverweigerern – die waren bei mir zwar gut aufgehoben, mussten aber ständig bei Laune gehalten werden –, einem angehenden Studenten der Betriebswirtschaft – ich hörte damals zum ersten Mal von der Existenz eines solchen Studienfachs – und dem Sohn eines Mainzer Brigadegenerals, der ständig mit seinem Vater drohte – nach ein paar Auseinandersetzungen war jedoch ich derjenige, der dem Sohn mit dem Herrn Brigadegeneral drohte.</p> <p>Bis es mir gelang, aus diesem zu Beginn relativ unmotivierten und querulantischen Haufen eine funktionierende Truppe aufzustellen, floss viel Tee ins Land. Doch die Abteilung entwickelte sich rasch von einer Strafkolonie für Taugenichtse zum Flaggschiff der ersten Kompanie und zum Prestigeprojekt des gesamten Standorts. Der Ausbau um zwei Feldwebelposten war bald unverzichtbar und ich erhielt immer mehr Zulauf von engagierten und talentierten Soldaten. Wann immer in meiner Stabsabteilung fortan ein Personalwechsel in Haus stand, reichte die Schlange der Bewerber vor dem Büro der Personalabteilung bis hinunter in den Kasernenhof. Und das obwohl die Stellen damals noch keinerlei Besoldungszulagen oder Freizeitvergünstigungen boten.</p> <p>Aus diesem Grund habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, die Mitarbeiter meines Stabs ausschließlich aus Andrés Hochgebirgsjägerzug und nur auf seine Empfehlung hin zu rekrutieren. Er ist ein guter Ausbilder und die Bergsteiger, die an seinem Seil geführt wurden, allesamt qualifiziert und zuverlässig. Selbst Falk.</p> <p>Er ist inzwischen das Herz der Stabsabteilung und sorgt nicht nur für einen reibungslosen Ablauf der Amtsgeschäfte, sondern kümmert sich auch um sämtliche Wehwehchen der übrigen Mitglieder. Da es nicht in meiner Natur liegt, bei einer schlampig gepackten Bergausrüstung ein Auge zuzudrücken oder meine Kameraden am Freitagsabend unter den Tisch zu trinken, übernimmt Falk diese mir unliebsamen Aufgaben. Er hat dafür auch ein wesentlich besseres Händchen als ich und geht in seiner Doppelrolle als Gruppenführer und Kasernenclown förmlich auf. Ich bleibe lieber im Hintergrund und beschränke meine außerdienstlichen Auftritte auf das Nötigste.</p> <p>Trotz des mir noch immer anhaftenden Rufs als weltfremder Eigenbrötler sprachen mir die Männer meiner Abteilung bei unserer internen Nikolausfeier ihre Wertschätzung aus, indem sie mir ein Geschenk überreichten, an dem sie wochenlang gebastelt hatten, eine zwar nicht maßstabsgetreue, dafür aber umso detailreichere Pappmachénachbildung der Gebirgswelt, die unseren Standort umgibt. Die auf getrocknetem Moos grasenden Kühe waren aus leeren Milchpackungen ausgeschnitten worden und die aus Flaschenkorken geschnitzten Bergsteiger trugen Reepschnüre als Seile und aufgesägte, rundgeklopfte Patronenhülsen als Helme. Auf dem höchsten Berg thronte ein Wandhaken als Gipfelkreuz und unten im Tal floss die Isar, ein Streifen zerknitterter Transparentfolie auf einem Bett aus weißen Kieseln. Ich war erstaunt über den Einfallsreichtum, doch am meisten überraschte mich, als unvermittelt zwanzig starke Arme nach mir griffen und mich mit einem dreifachen ›Horrido – Joho‹ hoch in die Luft warfen und wieder auffingen.</p> <p>»Bitte«, forderte mich Pragen plötzlich auf: »Verteidigen Sie sich. Dafür bin ich hergekommen. Aus keinem anderen Grund.« Ich presste jedoch nur die Lippen aufeinander und ärgerte mich über mich selbst. Einerseits darüber, dass ich mich durch meinen überstürzten Auftritt in Heidts Büro zu leichter Beute gemacht hatte, und andererseits darüber, dass ich Falks flirrendem Blick nicht auf den Grund gegangen war. Was auch immer er mir verschwiegen hatte, war mit Sicherheit kein streng gehütetes Geheimnis, sondern etwas, wovon ich hätte wissen können, wenn ich nicht immer der Erste wäre, der eine Party verlässt, und der Letzte, wenn es darum geht, sich zu einem gemeinsamen Mittagessen oder Feierabendausflug zu verabreden. Immer sage ich zu allem nein und nun stehe ich außen vor und habe keinen Schimmer.</p> <p>Er wolle lediglich Klarheit über die Gerüchte, die der Brigade über mich zu Ohren gekommen seien, erklärte Pragen auf mein beharrliches Schweigen hin. Eichenseher hätte auch die Murnauer Kettenhunde von der Leine lassen oder eine offizielle Disziplinaruntersuchung einleiten können. Aber da er dem Standort wohlgesonnen sei, habe er auf derlei drastische Maßnahmen verzichtet und stattdessen einen Freund um Mithilfe gebeten. Pragen legte den Kopf schräg.</p> <p>Ich atmete deutlich hörbar aus und stellte meine Tasse ab. Es sei zu keiner ungebührlichen Verwendung von Mannschaft, Material oder Ausrüstung gekommen, rechtfertigte ich mich endlich. Außerdem gebe es doch für alles Berichte und Belege. Ich merkte, wie sich Trotz zu meinem Ärger gesellte.</p> <p>Die Unterschriften meiner Vorgesetzten würden scheinbar ebenso leichtfertig wie freizügig erteilt, weswegen er auf die von mir eingereichten Berichte und Belege nicht viel gebe, erwiderte er.</p> <p>Warum er sich dann nicht an diejenigen wende, deren Nachlässigkeit und Nachsicht er anprangere. Mein Trotz gewann die Oberhand und ich fing an, mich um Kopf und Kragen zu reden.</p> <p>»Ich geben Ihnen die Chance, Ihren Hals zu retten, aber Sie möchten, dass ich mich an Ihre Vorgesetzten wende?« Pragens Frage verunsicherte mich. Ich wusste, dass sowohl Heidt als auch dessen Stellvertreter sowie der Stabschef und die Einheitsführer der übrigen Kompanien und Logistikeinheiten unseres Standorts mir nur deswegen freie Hand ließen, weil sie von meiner Zuverlässigkeit überzeugt waren. Falls Falk tatsächlich etwas ausgefressen hatte und Pragen ihnen einen Strick daraus drehen würde, stünde ich möglicherweise sehr schnell ohne Rückendeckung da und müsste meinen Dienst fortan am kurzen Gängelband der Stabsbürokratie ableisten.</p> <p>Ich gab mich also geschlagen und stand artig und für meine Verhältnisse sogar umgänglich Rede und Antwort. Doch obwohl ich mich nach bestem Wissen bemühte, fuhr Pragen plötzlich in deutlich strengerem Ton fort: »Hauptmann Fenner, ich möchte nicht den Inhalt der Berichte wiedergekäut haben, die kenne ich zur Genüge. Ich will wissen, was die Berichte verschweigen. Also reden Sie um Ihrer selbst willen.« Nach einem Griff in die Innentasche seiner Jacke kam ein kleines, schwarzes Notizbuch zum Vorschein. Um meinem seiner Meinung nach sturen Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, legte er mir eine Namensliste vor.</p> <p>Ich beugte mich über das Notizbuch und ging die Namen einem nach dem anderen durch. Ganz zuoberst stand mein eigener, darunter Falk Kastl und vier weitere Mitglieder aus meiner Stabsabteilung. Ich dachte zunächst, Pragen hätte mir einfach die Personalliste meines Büros vorgelegt, doch dann tauchten neben Hauptmann André Wendt auch die Namen sämtlicher Wehrdienstleistender und junger Zeitsoldaten aus seinem Hochgebirgsjägerzug auf. Ich kannte die Namen, weil Falk sie oft erwähnt. Am Fuß der Liste standen etwas abgesetzt Gunnar Verstoisser, Ferdinand Strefler und Anna Berg.</p> <p>Die letzten drei Namen ergaben für mich zunächst keinen Sinn, denn der Hauptmann aus dem Ausbildungsstab, der Hauptgefreite aus der Fernmeldegruppe und das Mädchen aus dem Glashaus passten weder zu anderen Personen auf der Liste noch zueinander. Gunnar und Strefler gehörten zu unserem Bataillon, Anna nicht. Gunnar und Anna waren exzellente Bergsteiger, Strefler nicht. Anna und Strefler waren Falks beste Freunde, Gunnar nicht. Oder etwa doch? Mir fiel plötzlich ein, dass er und Falk im vergangenen Herbst gelegentlich gemeinsam auf Klettertouren gegangen waren. Seltsamerweise waren sie immer erst am späten Abend aufgebrochen, aber schon am darauffolgenden Morgen zurückgekehrt. Ich schluckte, als ich erkannte, dass die drei doch etwas gemeinsam hatten und somit der letzte Beweis für den inneren Zusammenhang der Liste waren. Was auch immer Pragen und Eichenseher zu bestanden hatten, schien auf Falks Konto zu gehen. Denn alle Namen auf der Liste ließen sich ohne Umwege mit ihm in Verbindung bringen.</p> <p>Ich schob das Buch in die Tischmitte und schüttelte den Kopf, um mein Bedauern darüber ausdrücken, dass ich Pragen nicht behilflich sein konnte. Zugleich schaute ich zu Heidt, Gunnar und André hinüber, die jedoch zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren, um meinen Blick zu bemerken.</p> <p>Heidts Bauch gluckste fröhlich unter seinem mit Soße verkleckerten Hemd, während er über seine eigenen Witze lachte. Gunnar hing leger in seinem Stuhl. Er hatte seine Dienstjacke abgelegt und ließ seine Mütze um den Zeigefinger seiner rechten Hand kreisen. André folgte dem ganzen Theater in gewohnt friedfertiger Manier. Still und gemütlich zurückgelehnt. Solange die Dinge ihren ordentlichen Gang gehen, behält er ruhig Blut.</p> <p> </p> <p> </p> <p>Pragen klappte das Buch zu und erklärte mir, wo seines Erachtens der Spaß aufhöre und die Grenzen des guten Geschmacks überschritten seien: Wenn Soldaten mit Kälteverbrennungen zweiten Grades ins Lazarett eingeliefert würden, weil sie die Nacht zuvor in der Kühlkammer der Standortküche biwakiert hätten. Wenn bei der Heeresinspektion Berichte über junge Rekruten eingingen, die sich während einer Abhärtungsübung beim Verzehr von ungegarten Fleischvorräten eine Magenverstimmung zugezogen hätten. Wenn sich die Garnisonsstädte über mitternächtliche Hochseilakte auf den Kabelzügen ihrer Bergbahnen beschwerten. Wenn Gerüchte über Vergiftungserscheinungen aufgrund übermäßigen Koffeinkonsums kursierten, da die Teilnehmer der harten Gebirgsmärsche fehlenden Schlaf durch das Kauen von Kaffeebohnen ersetzten.</p> <p>Auch der Missbrauch von Drahtseilmasten als Kletterparcours, lebensgefährliche Tauchmanöver in zugefrorenen Seen und Flüssen und Steilhangabfahrten auf Hornschlitten, die man sich ohne das Wissen der Eigentümer ausborgte, um mit atemberaubenden Geschwindigkeiten ins Tal abzufahren, gefielen Pragen nicht. Es gebe belastendes Fotomaterial von Geschwindigkeitskameras der Polizei, wie diese Schlitten mit sechzig Stundenkilometern über die verschneiten Landstraßen preschten und dabei Autos überholten.</p> <p>Die Vorstellung der verdutzten Gesichter der Polizei hätte mir fast ein Schmunzeln entlockt, doch Pragens strenger Blick hielt mich davon ab. Stattdessen schüttelte ich den Kopf und sagte, dass diese haarsträubenden Geschichten nicht mit den Namen auf der Liste zusammenpassen würden. Ich erklärte ihm auch, wieso.</p> <p>Gunnar mochte mit seinem gefärbten Haar, seinen Tätowierungen und seiner schrillen Kleidung zwar eine skurrile Erscheinung abgeben, aber er würde niemals rohes Fleisch essen. Er lebe seine gekränkten Eitelkeiten und selbstzerstörerischen Neurosen eher in gelegentlichen Trinkexzessen als in masochistischen Initiationsriten aus. Außerdem sei er Vegetarier. Pragen hob die Augenbrauen.</p> <p>Strefler würde sich hingegen davor hüten, fuhr ich fort, auf den Kabeln der Bergbahn herumzuturnen. Bei ihm könne man schon froh sein, wenn er nach einer harmlosen Gondelfahrt seinen Mageninhalt bei sich behalte. Er leide zwar nicht an Höhenangst, aber an einer Art Höhenunverträglichkeit. Warum er Gebirgsjäger geworden ist, konnte ich Pragen jedoch nicht erklären.</p> <p>Anna, zählte ich weiter auf, sei eine clevere Geschäftsfrau, die nach Kräften darum bemüht sei, sich mit ihren Glashaus eine Existenzgrundlage zu schaffen. Sie würde Ihre guten Beziehungen nicht riskieren, indem sie in der Nachbarschaft Schlitten klauen gehe.</p> <p>Auch für die Mannschaftsdienstgrade aus dem Hochgebirgsjägerzug und aus meiner Stabsabteilung verbürgte ich mich. Wer von André ausgebildet worden sei, lege in der Regel ein fast schon beängstigendes Maß an Disziplin und Ehrgefühl an den Tag und lasse sich nicht zu solchem Unfug anstiften.</p> <p>Pragen runzelte die Stirn, klappte sein Buch auf, schrieb etwas hinein und ließ es wieder zuschnappen. Er glaubte mir kein Wort.</p> <p>»Haben Sie Lust jemanden aufgrund dieser Dummenjungenstreiche sterben zu sehen?«, fragte er vorwurfsvoll und tippte auf das Buch: »Hauptmann Fenner, ich bin weder Ihr Richter noch Ihr Henker, sondern nur ein dienstlich und moralisch verpflichteter Beobachter. Aber ich brauche Ihre Hilfe.« Hilfe bei was, wollte ich wissen.</p> <p>»Hilfe bei der Deutung der Zeichen«, erklärte er knapp, doch ich machte daraufhin nur eine entschuldigende Geste und erklärte, dass es in meinem Zug bisher noch nicht vorgekommen sei, dass jemand wegen Lebensmittelvergiftung, Koffeinüberdosis oder Kälteverbrennungen vom Dienst freigestellt wurde.</p> <p>»Nun«, seufzte er: »Eichenseher stellt derzeit den gesamten Standort unter Generalverdacht. Nur weil jemand bisher mit heiler Haut davon gekommen ist, heißt noch lange nicht, dass er unschuldig ist. Im Gegenteil: Gerade die Soldaten, die sich selbst für die hartgesottene Elite halten, könnten bei diesen grausamen Spielchen als Stimmungsmacher, Anstifter und Rädelsführer Pate stehen, ohne daran selbst allzu großen Schaden zu nehmen. Da bei den Mitgliedern Ihrer Einheit bisher noch keine besondere Neigung zum Aushalten von Schmerzen bekannt wurde, liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei den erwähnten Vorfällen um eine Art kollektiver Nötigung handelt. Um Mutproben, Folterexperimente oder um sadomasochistische Rituale, wie man sie aus dem Kindergarten und von studentischen Verbindungen her kennt. Vielleicht ist Ihnen ja etwas aufgefallen. Oftmals pflegen sie bestimmte Rituale wie Lieder, Handzeichen, Grußformeln, Sprüche oder sogar eine eigene Sprache, um die Gruppenidentität zu stärken.«</p> <p>Ich fand, dass Pragens Beschreibung das Wesen militärischer Ausbildung auf den Punkt brachte. Militärische Ausbildung ist immer kollektive Nötigung. Das Gemeinwohl lastet immer auf den Schultern jedes einzelnen und umgekehrt. Manche empfinden es als ungerecht, wenn für das Vergehen eines Einzelnen, die gesamte Truppe zur Rechenschaft gezogen wird, aber die Realität lässt einem oftmals keine andere Wahl. Wenn ein Soldat bei einem Leistungsmarsch unter dem Gewicht seines Rucksacks zusammenbricht, muss eben ein anderer die Last übernehmen. Falk ist ein Meister darin, seine Kameraden für einander in die Verantwortung zu nehmen und sie dazu zu motivieren, ihr Bestes zu geben. Ich fragte mich jedoch, ob er mehr als ihr Bestes von ihnen verlangt haben könnte. Mit einem etwas unguten Gefühl erinnerte ich mich an seinen persönlichen Mutmacher: ›Wer kneift, taut!‹</p> <p>Was dieser Spruch genau bedeutet, weiß Falk allein. Aber inzwischen spornen sich auch die Kameraden untereinander damit zum Durchhalten an. Es war nicht auszuschließen, dass er sie mit diesem Leitspruch auch zu den von Pragen erwähnten Abhärtungsmanövern angestiftet haben könnte. Wer möchte schon tauen? Oder Falk Kastls Erwartungen enttäuschen? Ich machte mir immer größere Sorgen um ihn und verfluchte mich erneut, weil ich nicht besser auf ihn aufgepasst hatte. Pragen teilte ich meine Befürchtungen natürlich nicht mit. Das brauchte ich auch nicht, denn er hatte seine eigenen Vermutungen, die er mir redselig mitteilte. Seiner Meinung nach hatten wir es mit einer Clique aus gleichermaßen talentierten wie übermütigen und risikosüchtigen Soldaten zu tun, die sich über alles hinwegzusetzen imstande sahen. Selbst den Tod nahmen sie entweder nicht ernst oder billigend in Kauf. »Was, glauben Sie«, wollte er schließlich von mir wissen, »würde den Beteiligten blühen, wenn es zu einem Disziplinarverfahren käme?«</p> <p>Diese Frage war leicht zu beantworten, da ich dazu nur die Dienstvorschrift zitieren musste: »Disziplinarverfahren, Degradierung, Strafversetzung und einen Eintrag in die Dienstakte«, antwortete ich widerwillig. Pragen nickte und schaute mich eindringlich an: »Bleibt nur die Frage: Wessen Dienstakte?« Ich schüttelte langsam den Kopf. Das konnte er nicht von mir verlangen. Ich verbürgte mich erneut für alle Namen auf der Liste und wies darauf hin, dass es sich dabei um dienstbeflissene Soldaten handle, an deren Arbeit es nichts zu beanstanden gebe. Ich übertrieb natürlich ein wenig, aber warum auch nicht. Pragen übertrieb ja auch.</p> <p>»Und nach Dienstschluss?«, fragte er skeptisch. Doch ich bestand darauf, nicht zu wissen, welchen Beschäftigungen die Soldaten meiner Stabsabteilung nach Dienstschluss in ihrem stillen Kämmerchen nachgingen. Irgendwo hört die Dienstaufsicht ja auch auf.</p> <p>»Pflicht zur Kameradschaft hört niemals auf, auch nicht am freien Wochenende oder durch Ablegen der Uniform«, glaubte Pragen mich daraufhin belehren zu müssen.</p> <p>Ich fragte, ob man mir Führungsschwäche vorwerfe, und machte ein bitteres Gesicht.</p> <p>»Nein, noch nicht«, erwiderte Pragen mit einem Drohen in der Stimme: »Noch haben Sie Gelegenheit, das Gegenteil zu beweisen.« Ich schob verärgert das Kinn vor und unterbreitete ihm das Angebot, mich der Sache intern anzunehmen. Falls es tatsächlich eine derartige Verbindung geben sollte, würde ich die Situation abstellen und mir den Rädelsführer persönlich vornehmen. Er habe mit Sicherheit eine ordentliche Standpauke verdient, aber keine bürokratische Hinrichtung.</p> <p>Pragen nickte und nannte meinen Vorschlag insoweit vernünftig, dass ich zu einer Kooperation bereit war. Er wandte jedoch ein, dass er auf die Auslieferung des Verantwortlichen bestehen müsse. Die Praxis zeige nun einmal, dass das beste Mittel gegen Unkraut nicht das Jäten, sondern das Wurzelstechen sei. Er versprach dafür, alle anderen Beteiligten zu verschonen.</p> <p>So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Pragen wollte mich zum Denunzianten machen und verlangte von mir Falks Kopf, um meinen eigenen zu retten. Ich war entschlossen, dieses Spiel nicht mitzuspielen, sondern meinen Fehler irgendwie wieder gut machen. Ich wollte Pragen erklären, wie sehr sich alles in mir dagegen wehrte, ihm einen Sündenbock zu liefern und dass mir mit Sicherheit eine glimpfliche Alternative einfallen würde, wenn ich mir nur lange genug den Kopf darüber zerbrach. Doch er schien sich plötzlich nicht mehr für mich zu interessieren. Ein Gespräch vom Nachbartisch hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Es war Jost, der mit seinem jüngsten Jagderlebnis prahlen zu müssen glaubte.</p> <p>Groß anderes, womit er prahlen könnte, hat er allerdings auch nicht. Da ihm körperliche Anstrengung zuwider ist und er sich nicht gerne die Finger schmutzig macht, ist aus ihm nie ein guter Bergsteiger geworden. Dafür hat er als Paragraphenreiter ordentlich Karriere gemacht. Ich werfe ihm das nicht vor. Auch solche Leute muss es geben. Ihm selbst genügte es jedoch eines Tages nicht mehr, den im Verhältnis zum Aufwand bestbesoldeten Dienstposten zu besetzen, weswegen er, um seinem Leben einen etwas abenteuerlicheren Anstrich zu verpassen, vor Kurzem den Jagdschein erworben hat.</p> <p>Während Jost die Geschichte von seinem ersten Schuss zum Besten gab, glaubte ich, eine neue Seite an Pragen zu bemerken. Bisher hatte seine Miene, wenn er nicht gerade einen seiner wenigen entgegenkommenden Momente hatte, einfach nur streng und überaus kritisch, unerbittlich und sogar gefährlich gewirkt. Doch all das war mit einem Mal wie weggewischt. Die an den Winkeln gekräuselten Augen fixierten Jost, ohne zu blinzeln, und die zum Zerreißen gespannten Lippen schienen, mit viel Mühe eine tiefsitzende Gefühlsregung zu unterdrücken. Einen solch bitteren Gesichtsausdruck hatte Pragen mir gegenüber trotz all seiner Anschuldigungen nicht an den Tag gelegt. Ich war mir nicht ganz sicher, glaubte aber, dass es eine Mischung Wut und Abscheu war, was er bei Josts Geschichte empfand.</p> <p>Ich kannte die Geschichte schon, da ich sie erst kürzlich in einer kleinen Runde hatte über mich ergehen lassen müssen. André, Gunnar, Falk und ich waren an jenem Tag auf einer bewirteten Alm zufällig mit Jost und dessen Frau zusammengetroffen und hatten uns gemeinsam mit ihnen zum Mittagstisch gesetzt. Kurz darauf war auch Anna auf der Hütte erschienen und hatte sich auf Falks Schäkereien hin artig zu ihm auf die Eckbank gequetscht.</p> <p>Josts Augen glänzten damals wie im Höhenrausch, als er uns davon erzählte, wie er seine erste Jagdbeute erlegt hatte. Er hatte sogar ein Foto dabei, auf dem er mit erhobener Waffe und Stolz geschwillter Brust über einem am Boden liegenden Eber – seinem Kronprinzen, wie er es ausdrückte – posierte. Um das erlegte Wild zu seinem Eigentum zu erklären, hatte er einen Tannenzweig – oder Beutebruch, wie er es nannte – auf dessen zerlöcherten Leib gelegt und das Maul des Ebers – das Gebrech – mit Grünzeug vollgestopft. ›Letzter Bissen‹ nennt der waidmännische Fachmann diese dem Laien nur schwer zugängliche Form der Ehrerbietung.</p> <p>Den Leichnam hatte Jost für die Fotografie derart drapiert, dass das durch den gewaltsamen Tod entstellte Gesicht mit verdrehten Augen und gebrochenem Genick in die Kamera blickte. Als Zeichen seines Triumphes hatte sich Jost das Blut – er nannte es Schweiß – seines Opfers auf Wangen und Stirn verteilt. Er beschrieb uns die Euphorie, den Taumel und das Glücksgefühl, das einen befällt, wenn etwas auf den eigenen Wunsch hin zu leben aufhört.</p> <p>Am Abend habe er den Tod des Ebers mit kühlem Bier und jungem Wein begossen – totgetrunken, nannte Jost diese Sitte. Seine gleichermaßen kaltblütige wie fiebrige Rede irritierte mich. Sie passte nicht zu dem reservierten Logistikoffizier, den ich kannte.</p> <p>Jost ließ das Foto kreisen. Anna reichte es nach einem flüchtigen Blick mit spitzen Fingern weiter. Falk verzog kurz das Gesicht, André schwieg und Gunnar lächelte halb spöttisch, halb amüsiert. Aus ihm ist nicht leicht schlau zu werden.</p> <p>Als Jost unser reserviertes Verhalten bemerkte, fügte er abwehrend hinzu, dass er das mit dem Blut im Gesicht zunächst auch nicht gewollt habe, aber die Altjäger auf der Einhaltung dieses Brauchtums bestanden hätten. Er schaute hilfesuchend zu seiner Frau, die sofort entschlossen nickte.</p> <p>Falk schien, etwas sagen zu wollen. Ich merkte das an seinen hin und her irrenden Augen und seinem angespannten Gesicht. Doch André kam ihm zuvor. Er kenne den Sog, den der Besitz einer Waffe auf einen Menschen ausüben könne, erklärte er unvermittelt und fügte auf Annas überraschten Blick hin rasch hinzu, dass er als kleiner Junge ein Luftgewehr besessen habe. Den Pappscheiben, Porzellantellern und Blechbüchsen sei er jedoch recht schnell überdrüssig geworden, sodass er den Lauf seiner Flinte eines Tages auf eine Hummel gerichtet habe.</p> <p>Sie im Flug zu erwischen, war natürlich fast unmöglich. Deshalb wartete er ab, bis sie sich auf einer Blume niederließ. Er geriet dabei in ein regelrechtes Fieber und dachte unablässig: »Jetzt halt endlich still, damit ich Dich töten kann!« Als die Hummel schließlich auf einem Blütenblatt zum Sitzen kam, brachte er sein Gewehr in Position und zog an dem kleinen vorgespannten Hebel.</p> <p>»Das war alles, was ich zu tun brauchte«, seufzte André.</p> <p>»Ja, ja«, pflichtete ihm Jost aufgeregt bei. Gunnars Mundwinkel zuckten wieder spöttisch, während Falk und Anna wie die Ölgötzen schwiegen. Ich hielt mich sowieso raus.</p> <p>»Ich verfehlte sie«, fuhr André schließlich fort und gestand, dass ihm erst sein Versagen bewusst gemacht habe, dass er gerade aus purer Langeweile den Tod eines anderen Lebewesens beschlossen hatte. Er habe daraufhin geschworen, nie mehr eine Waffe zu berühren.</p> <p>An dieser Stelle pfiff Gunnar leise durch die Zähne und grinste hämisch, doch André ließ sich davon nicht beirren. Die Idee, nie wieder eine Waffe berühren zu wollen, erklärte er, sei nur sein erster kindlicher Reflex auf sein neu erwachtes Gewissen gewesen. Nachdem er jedoch jahrelang immer wieder darüber gebrütet habe, sei er zu der Überzeugung gelangt, dass er, anstatt den Waffen abzuschwören, lieber dafür sorgen wolle, dass mindestens ein Gewehr in diesem Land ein Gewissen besaß.</p> <p>Gunnar schnaubte. Ihm war die Geschichte entschieden zu rührselig. Außerdem ärgerte es ihn, dass die Speisekarte der Hütte bereits auf die Wintersaison umgestellt hatte und kaum Auswahl bot. Doch André ließ sich auch dieses Mal nicht von Gunnars Gemecker aus der Fassung bringen. Nach einer kurzen Gedankenpause fügte er an, dass eine Hummel seiner nach immer neuen Herausforderungen strebenden Natur sicherlich bald nicht mehr genügt hätte. Über kurz oder lang hätte er die Spatzen von den Dächern und die Eichhörnchen aus den Bäumen geholt. Doch sein schlechtes Zielen habe ihn glücklicherweise vor einer größeren moralischen Katastrophe bewahrt. Mit diesen Worten schloss er seine Erzählung.</p> <p>»Amen«, stöhnte Gunnar und winkte mürrisch nach dem Almwirt, während Jost das Bild wieder in seiner Geldbörse verschwinden ließ.</p> <p>Als Jost seine Anekdote vor dem versammelten Bataillonsstab erneut zum Besten gab, verzichtete er darauf, das Bild herumzureichen, und auch die Sache mit der blutigen Kriegsbemalung sparte er dieses Mal aus. Er schaute jedoch immer wieder nervös zu Gunnar hinüber, der die ganze Zeit über hämisch grinste. Vermutlich befürchtete Jost, dass Gunnar ihn mit einer bissigen Bemerkung in Verlegenheit bringen könnte. Gunnar hingegen genoss Josts Nervosität, indem er immer wieder die Lippen spreizte und seine Zähne zeigte.</p> <p>Jost beeilte sich mit seiner Geschichte. Als er schließlich damit zum Ende gekommen war und Gunnar ihm Applaus gespendet hatte, wurde mir auch wieder Pragens ungeteilte Aufmerksamkeit zuteil. Er sagte jedoch zunächst nichts, sondern schnitt nur eine Grimasse und blätterte in seinem schwarzen Notizbuch. Ich hoffte nur, dass er mir nicht auch noch die Schuld dafür geben wollte, dass Jost seine Feierabende auf dem Hochsitz zubrachte.</p> <p>Doch nach Josts Erzählung schien Pragen seine Angriffslust verloren zu haben: »Nur noch ein paar neugierige Fragen«, zwinkerte er mir unvermittelt zu. Ich zuckte nur ergeben mit den Schultern. Dieser relativ zwanglose Plausch war vermutlich behaglicher als eine offizielle Vernehmung in einem Murnauer oder Münchner Verhörraum.</p> <p>Die aktuellen Vorkommnisse waren jedoch plötzlich kein Thema mehr. Stattdessen wollte Pragen wissen, warum ich die Berufung nach Köln und die damit einhergehende Aussicht auf eine frühestmögliche Beförderung zum Major ausgeschlagen hatte und wieso die von mir bezogene Wohnung auf dem Kasernengelände nicht in den Listen der Anliegerwohnungen für Offiziere auftauchte. Außerdem interessierte er sich für die von mir aufgestellte Skimannschaft aus Mittenwalder Soldaten, die bei den kommenden Berchtesgadener Wintersportwettbewerben antreten würde. Ob die Bundeswehr nicht über eine eigens für derlei Anlässe eingerichtete Sportfördergruppe verfüge.</p> <p>Ich bemühte mich, ihm alles zu erklären, und erzählte lieber ein bisschen zu viel, als dass er mich wegen eines ausgelassenen Details doch noch in seine Münchner Dienststelle einbestellte. Dennoch hatte ich ständig das Gefühl, mit dem Rechtfertigen nicht hinterherzukommen. Zu guter Letzt wärmte er noch ein paar Geschichten aus meiner Rekrutenzeit auf, die ihm über mich zu Ohren gekommen waren. Unser Gespräch schien kein Ende nehmen zu wollen.</p> <p>»Warum sind Sie immer so anders, warum machen Sie immer alles so kompliziert?«, fragte er schließlich, doch ich war mir keiner Schuld bewusst. Pragen nickte: »Das dachte ich mir.«</p> <p>Meine Neigung, mich zum Idioten zu machen, war schon immer rein unfreiwilliger Natur gewesen und oftmals stellten sich gerade die Situationen, in denen ich glaubte, das Richtige zu tun, nachträglich als meine idiotischsten Momente heraus. Wie sehr ich auch darum bemüht war, mein Bestes zu geben und selbst wenn es nur um Kleinigkeiten wie Betten machen, Berichte schreiben, Lieder singen oder Staffel laufen ging. Während meiner Zeit im Dienstgrad eines Soldaten, also kurz nachdem ich in die Truppe gekommen war und noch lange, bevor ich mir das Recht erwerben sollte, Rangabzeichen und Silberkordel in meinen Schulterschlaufen zu tragen, war ich von dem Spiel ›Türen auf!‹ fasziniert gewesen. Dieses Spiel ging so: Jemand schrie auf dem Gang ›Türen auf!‹ und alle Stuben hatten innerhalb kürzester Zeit vollzählig vor der Zimmertür anzutreten und mit ›Stube steht!‹ zu antworten.</p> <p>Die Regeln waren also denkbar einfach und von daher schnell kapiert. Da bei dieser Übung jede Sekunde zählte, überlegte ich, wie man durch die Optimierung der Laufrouten zur Tür einen leichten Geschwindigkeitsvorteil erzielen konnte. Man musste dazu lediglich die sture Viererreihe, in der unsere Betten aufgestellt waren, zu einer U-Formation umordnen, indem man die beiden mittleren Bettgestelle um neunzig Grad verdrehte und mit der Längsseite statt der Kopfkante gegen die Wand stellte. So musste niemand mehr um sein Bett herum gehen, um die Tür zu erreichen. Meine Kameraden für die Idee zu begeistern, gelang mir erstaunlicherweise ohne große Überredungskünste. Wir setzten den Plan in die Tat um und waren fortan tatsächlich die schnellste Stube. Unser Ältester rief bei jedem Flurappell als Erster aus: »Stube steht!« Der Stolz und die Freude über unsere anhaltenden Erfolge verliehen seiner Stimme Volumen und Schneid.</p> <p>Unsere Freude währte allerdings nur bis zur nächsten Zimmerkontrolle. Die Gruppenführer machten wegen der verschobenen Betten einen Höllengezeter und befahlen uns, umgehend wieder Ordnung herzustellen. Trotz des warnenden Blicks, den mir der Stubenälteste zuwarf, fing ich an, mich mit den Gruppenführern zu streiten.</p> <p>Am nächsten Morgen hatte ich meine erste Privataudienz bei unserem Kompaniechef. Wenngleich ich über die Maßen aufgeregt war, fühlte ich mich geehrt. Ich rechnete fest damit, dass er den Sinn hinter meinem Umräumkommando verstehen würde. Immerhin war er Hauptmann und ich dachte damals noch, je höher, desto besser.</p> <p>Als ich Heidts Büro betrat hatte ich eine handgefertigte Skizze von meiner Stube unterm Arm. Ich hatte auch die Bestzeiten unserer Stube im Vergleich zu den anderen aufgeschrieben und einen Satz mathematischer Formeln aufgestellt, mit denen man die Strecken und die dafür benötigten Zeiten grob berechnen konnte. Ich war fest entschlossen, meine Idee zu verteidigen.</p> <p>Heidts Körper war damals noch nicht ganz so füllig wie heute, aber die Haltung war bereits dieselbe, übersättigt und ohne Spannung. Er blätterte gerade in einer Mappe und übertönte meine artig aufgesagte Meldung mit schallendem Gelächter. Ich brach mitten im Satz ab und starrte wie gebannt auf die Mappe in seinen Händen. Sie kam mir bekannt vor. Es war dieselbe Art, die in Meissmanns Institut für Messwerte, Projektberichte und andere Labornotizen verwendet wurde.</p> <p>Ich versuchte mir jedoch einzureden, dass es sich lediglich um eine ähnliche Mappe handelte, da ich nicht wollte, dass mir das Institut in meine neue Welt folgte. Dem Schmerz über Tomos Verlust überließ ich mich ohne Gegenwehr. Er war die gerechte Strafe für meinen Eidbruch. Aber alles andere, die Bibliothek, den Dachboden, die Laborgeräte und die Berichtsmappen wollte ich hinter mir zurücklassen. Denn mich daran zu erinnern, machte mich schwach.</p> <p>»Setz Dich, mein Fürst«, sagte Heidt und legte die Mappe beiseite: »Professor Meissmann hat mir bereits viel über Dich erzählt. Deinen vorlauten Sturkopf hat er jedoch unerwähnt gelassen. Ich finde, er hätte mich warnen sollen.« Ich wusste nicht, worüber ich mehr erstaunt sein sollte. Darüber, wie schnell ihm mein neuer Rufname zu Ohren gekommen war, oder darüber, dass er den Professor kannte und mit ihm über mich geredet hatte?</p> <p>Ich ließ mich von diesen Überlegungen jedoch nicht von meinem Plan abbringen. Anstatt mich zu setzen, fasste ich all meinen Mut zusammen und legte meine Skizze vor Heidt auf den Tisch. Er wippte in seinem Stuhl nach vorne, griff nach meiner Bleistiftzeichnung und lehnte sich wieder zurück. Während er das Bild betrachtete, murmelte er: »Jetzt setz Dich doch endlich, mein junger Myschkin. Du stehst so groß.«</p> <p>Da ich auf keinen Fall seine Reaktion auf meine Zeichnung verpassen wollte, tastete ich rückwärts nach dem Stuhl und setzte mich. Heidt starrte eine ganze Weile auf meine Skizze und stellte sie sogar kurz auf den Kopf, sagte jedoch nichts dazu. Er legte sie kommentarlos zur Seite und faltete seine Hände über seinem Bauch: »Ich habe gehört, Du bist mit den Gruppenführern Deines Zugs ein wenig in Clinch geraten«, legte er schließlich los: »So etwas sollte nicht passieren. Dafür gibt es Regeln und Befehlsketten.« Er zeigte auf eine alte Pinselzeichnung der Militärhierarchie hinter mir an der Wand. Ich verdrehte den Kopf, um sie ohne von meinem Stuhl aufzustehen, sehen zu können. Die Leinwand war nicht gerahmt, aber der Rand war mit einer gemalten Borte aus Gold und Silber verziert. Unten rechts sah man die Mannschaften beim Reinigen ihrer Waffen, in der Mitte führten die Feldwebel zahme Hunde an der Leine, oben links saßen fein herausgeputzte Generäle zu Pferde. Auch Sanitäter, Musikanten und Priester waren auf dem Bild zu sehen. »Und das ist nur ein Teil der Wahrheit«, erklärte Heidt: »Der Kern, mit dem wir es tagaus tagein zu tun haben, wenn man so will. Aber über den Generälen thronen der Verteidigungsminister und der Bundeskanzler und ganz über allem schweben die Engel, der Teufel und Gott.«</p> <p>Obwohl es in meiner Welt keinen Gott gab – ich hatte ihn probehalber immer mal wieder, aber stets vergebens um einen kleinen Gefallen gebeten – nickte ich, denn die Hardthöhe und das Bundeskanzleramt waren selbst in meiner damals noch sehr beschränkten Welt bereits sehr reale Größen. Ich wandte mich von dem Bild ab und deutete auf meine Skizze, um Heidt den Grund für die Auseinandersetzung zu erklären. Er hörte mir zwar interessiert, aber auch ein wenig belustigt zu, was mich sehr störte.</p> <p>Als ich mit meiner Ausführung am Ende war, wies er meine Idee kurz und schmerzlos ab. Ich hätte zwar in den meisten, aber eben nicht in allen Punkten recht: Der Stubenappell sei kein Wettkampf, sondern ein Befehl, dem unverzüglich, flink und ordentlich Folge zu leisten sei. Es stehe mir nicht frei, die Möbel in meiner Stube auf den Türenappell auszurichten, sondern ich müsse mich imstande zeigen, mit den Gegebenheiten bestmöglich klarzukommen. Im offenen Gelände stehe es mir auch nicht frei, Berge und Flüsse zu versetzen, um schneller ans Ziel zu gelangen. Ich müsse eben lernen, um Hindernisse herum zu planen. Er war sich sicher, dass es mir und meinen Stubenkameraden auch mit der alten Raumplanung gelingen würde, die erste Stube beim Türenappell zu sein.</p> <p>Ich wollte widersprechen, doch er verbat mir mit einer herrischen Handbewegung den Mund und schickte mich zu meiner Truppe zurück. Einfach so, ohne lange Diskussion und ohne eine abschließende Bestrafung. Seine herablassende Art machte mich rasend. Als ich mich nicht vom Fleck bewegte, fragte er, ob noch etwas sei. Ich funkelte ihn zornig an und fragte, ob er mich nicht bestrafen wolle, wenn er meine Idee so geringschätze und mein Verhalten gegenüber den Gruppenführern als ungebührlich erachte.</p> <p>Ich wünschte mir förmlich, dass er sich irgendeine Gemeinheit für mich ausdachte, damit ich ihn beim Abbüßen der mir auferlegten Strafe aus tiefstem Herzen für seine Selbstgerechtigkeit hassen konnte. Doch er lachte nur und deutete mit dem Finger auf mich. Ich sei schon gestraft genug, sagte er vergnügt. Das sehe er an meinem Trotz.</p> <p>Geknickt, aber auch voller Ehrgeiz verließ ich sein Büro. Meine Kameraden und ich schafften es allerdings tatsächlich auch weiterhin die schnellte Stube zu bleiben. Im Kampf um Platz Eins ließen wir alles stehen und liegen und stürmten Hals über Kopf auf den Flur hinaus. Es gab kein Lob dafür, nur das Augenzwinkern, das wir uns heimlich untereinander beim Strammstehen zuwarfen, wenn wir es geschafft hatten und unser Ältester wieder einmal als Erster rief: »Stube steht!«</p> <p>Für sich allein genommen bietet eine Geschichte wie diese nur wenig Grund zum Anstoß. Aber da seit meiner Aufnahme in die Bundeswehr kaum eine Woche verging, in der ich nicht mit meiner Meinung irgendwo aneckte oder mich einfach durch meine Art in die Brennnesseln setzte, war im Lauf der Jahre ein etwas schräges Bild von mir entstanden. Ich hatte jedoch das Gefühl, dass sich Pragens Stimmung mit jeder weiteren Frage, die er mir stellte, ein wenig aufhellte. Hatten die ersten Fragen noch skeptisch geklungen, mischte sich nach und nach immer mehr Neugierde als Misstrauen in seinen Ton, bis sich das anfängliche Verhör schließlich in eine versöhnliche Aussprache verwandelte. So als wäre es mir gelungen, das schräge Bild, das Pragen von mir gehabt hatte, ein wenig gerade zu rücken.</p> <p>»Danke für Ihre bereitwilligen Antworten auf meine zugegebenermaßen nicht immer ganz unvoreingenommenen Fragen«, seufzte Pragen am Ende seines Exkurses durch die verschiedenen Stationen meiner Karriere. Es klang wie eine Entschuldigung. Als sein Blick jedoch auf das zwischen uns liegende Notizbuch mit der Namensliste fiel, runzelte er die Stirn und dachte einen kurzen Moment nach.</p> <p>»Nun gut«, sagte er schließlich und klopfte auf den schwarzen Einband: »Diese Sache müssen wir nicht unbedingt hier und heute klären. Jetzt stehen erst einmal Heilig Abend und Neujahr ins Haus und die Festlichkeiten, die dafür vorbereitet werden müssen.« Er ließ das Notizbuch in der Innentasche seiner Jacke verschwinden und schaute mich erwartungsvoll an. Als ich nichts erwiderte, lachte er: »Es mag Ihnen vorhin so vorgekommen sein, als hätte ich Ihre Furchtlosigkeit gerügt, aber dem war nicht so. Im Gegenteil: Ihre trotzige Art gefällt mir. Nachdem ich Sie ein wenig kennenlernen durfte, bedauere ich fast, dass wir uns nicht bereits früher über den Weg gelaufen sind. Wären wir bei meinem Amtsantritt bereits miteinander bekannt gewesen, hätte ich versucht, Sie für meine Münchner Einheit zu rekrutieren.«</p> <p>»Mich?«, fragte ich überrascht und schaute hinter mich, um zu überprüfen, wen er vielleicht sonst gemeint haben könnte. Doch hinter mir war nur ein leerer Tisch und das Ende des Tresens mit einer Schwingtür zur Küche. Als ich mich wieder zu Pragen umwandte, war seine Miene wieder ernst geworden. Er wirkte sogar ein wenig enttäuscht: »Nein«, sagte er mit einem bedauernden Tonfall mehr zu sich selbst als zu mir: »Ich hätte doch nicht versucht, Sie für meinen Stab zu gewinnen. Sie hätten abgelehnt. Das spüre ich. Diese Schlappe hätte ich mir doch lieber erspart.«</p> <p>Ich schüttelte verwundert den Kopf. Die Vorstellung, zusammen mit Eliot in derselben Einheit zu dienen, klang verlockend. Doch Pragen hatte recht. Meine Abscheu davor, als Lakai des Ministeriums Kameraden verdächtigen und darüber Meldung machen zu müssen, hätte vermutlich überwogen. Und Büroarbeit lag mir auch nicht besonders.</p> <p>Obwohl ich meine Gedanken nicht laut geäußert hatte, seufzte Pragen plötzlich: »Sie sind so erschreckend ehrlich, Hauptmann Fenner.« Ich kniff die Augen zusammen, da ich nicht verstand, was er damit meinte, doch Pragen sah meinen fragenden Blick nicht, sondern schaute auf seine Uhr und spitzte die Lippen: »Ich bedauere es, unser Gespräch unterbrechen zu müssen, aber ich habe heute noch einen Besichtigungstermin«, erklärte er entschuldigend: »Ich erzählte Ihnen ja bereits von der Jahresabschlussfeier, die ich zwischen den Jahren geplant habe. Da ich die Bestuhlung des Festsaals nur ungern ausschließlich am Reißbrett vornehmen möchte, habe ich mich für heute zu einer Begehung der Räumlichkeiten angemeldet. Sie wissen ja vielleicht, wie das ist, wenn man die Dinge am Schreibtisch plant. Schnell hat man das Klavier in einem schalltoten Winkel aufgestellt, bei der Tanzfläche eine platzraubende Dachschräge übersehen, das Büffet neben dem Zugang zu den Toiletten aufgebaut und die Generäle an einem zugigen Fenster Platz nehmen lassen.«</p> <p>Als ich merkte, wie erleichtert ich mich bei dem Gedanken fühlte, dass sich Pragen vermutlich gleich verabschieden würde, entschied ich mich, davon abzusehen, ihn um eine Einladung zu seiner Jahresabschlussfeier zu bitten. Mir würde sicherlich etwas anderes, Unkomplizierteres einfallen, um Eliot wiederzusehen. Zur Not würde ich eben Stufen schlagen. Doch Pragen schien, sein Bedauern über die Unterbrechung unseres Gesprächs ernst gemeint zu haben: »Wie sieht Ihr Terminkalender zwischen den Jahren aus?«, fragte er plötzlich: »Ich würde Sie gerne zu dem Fest einladen, wenn es sich mit Ihrer Planung verträgt.«</p> <p>Ich schaute ihn erstaunt an, dachte jedoch sofort wieder an Eliot und rechnete mir aus, dass ich ihn, wenn ich zusagte, in weniger als zwei Wochen wiedersehen würde. Zugleich scheute ich mich vor einer überstürzten Zusage. Immerhin würde ich Pragen damit zu einer weiteren Gelegenheit verhelfen, mich in die Mangel zu nehmen.</p> <p>»Entschuldigen Sie«, wehrte er auf mein Zögern hin ab, »dass ich Sie mit einer so kurzfristigen Einladung überfalle. Sie sollen sich durch meine fixe Idee zu nichts verpflichtet fühlen, aber wenn Sie erlauben, werde ich einen Tisch für meine Mittenwalder Gäste aufstellen lassen und Ihnen einen Satz Einladungskarten für die Veranstaltung zusenden. Ob Sie kommen möchten oder nicht, können Sie sich dann bis zum letzten Augenblick überlegen.«</p> <p>Ich machte eine unentschlossene Geste. Er sollte mir die Einladungskarten ruhig schicken, wenn er im Gegenzug dafür nicht meine Seele forderte. Pragen nickte zufrieden. Die Sache war für ihn gebongt. Er erhob sich von seinem Stuhl und reichte mir seine Hand. Ich rappelte mich ebenfalls hoch.</p> <p>Pragens Aufbruchstimmung brachte die Gespräche an den anderen Tischen abrupt zum Erliegen und Heidt sprang eilig von seinem Stuhl auf, um seinen Münchner Gast wenigstens gebührend zu verabschieden. Pragen entschuldigte sich nun auch bei Heidt für seinen frühen Aufbruch und bedankte sich für die Gastfreundschaft. Er habe das gesellige Beisammensein genossen und ein paar lustige Bergsteigergeschichten zu hören bekommen.</p> <p>»Ja, für Geselligkeit und ein paar würzige Späßchen sind Sie bei uns immer an der richtigen Adresse, Oberstleutnant Pragen. Wir schicken niemanden hungrig nach Hause, oder ohne einmal kräftig gelacht zu haben«, schäkerte Heidt und machte eine weit ausholende Geste, als wollte er uns alle umarmen: »Nicht wahr?« Alle nickten artig. Gunnar pfiff sogar durch seine Zähne und wippte dabei mit den Augenbrauen. Jost hingegen deutete eine untertänige Verbeugung an.</p> <p>Heidts einerseits wohldressierte, andererseits ungezähmte Schar brachte Pragen zum Schmunzeln. Während er in seinen Mantel schlüpfte, wandte sich nochmals an mich und versicherte mir, dass es ihn gefreut habe, meine Bekanntschaft zu machen, und dass er hoffe, mich noch dieses Jahr im Flachland des Starnberger Sees begrüßen zu dürfen. Ich nickte unschlüssig. Die eben noch unverbindliche Einladung klang plötzlich wie eine Pflicht. Der Tonfall ließ jedenfalls keinen Zweifel daran, wer hier wen an der Angel hatte.</p> <p>Pragen schien mein Zögern nicht zu bemerken. Er lächelte mir zu, stellte den Kragen seines Mantels und warf einen letzten Gruß in die Runde.</p> <p>»Uff, das ist ja noch einmal gut gegangen, oder was meinst Du? Jedenfalls war es kurz und schmerzlos.« Kaum war die Tür hinter Pragen zugefallen, hakte sich ein kurzer, dicker Arm bei mir unter und zog mich zur Seite: »Aber was hat er gewollt? Gibt es etwas, worüber ich Bescheid wissen sollte?« Heidt schaute mich streng an.</p> <p>»Im neuen Jahr werden wir weiter sehen«, vertröstete ich ihn. Er nickte beschwörend und sah eine Weile nachdenklich in die noch immer schweigsame Runde: »Ich würde sagen: Dienstschluss für heute. Jetzt müssen ein paar kopfstarke Getränke auf den Tisch. Macht unter Euch aus, wer fährt und wer zecht. Ich werde mir auf jeden Fall ein paar genehmigen!« Er streifte seine Jacke ab und lockerte seinen Hemdkragen. Seine Stimme klang unvermittelt ausgelassen und heiter, als wäre ihm ein Stein vom Herzen gefallen.</p> <p>Ich suchte nach einer Ausrede, die meine dringende Anwesenheit am Standort erforderte, um mich mit dem nächsten Zug wieder nach Mittenwald abzusetzen. Doch Heidt kam mir zuvor: »Du fährst doch nachher meine Karosse zurück, nicht wahr, mein lieber Mysch?«</p> <p>Ich nickte ergeben und tätschelte dem alten Mann die Schulter. Als die Kellnerin jedoch die Bestellungen aufnotierte, schlich ich mich nach draußen in die tröstliche Gegenwart von Schnee, Eis und fernen Gebirgszügen. Mein Gespräch mit Pragen hallte wie eine tosende Steinlawine in meinem Kopf nach. Ich hatte keine Lust mehr, unter Menschen zu sein, sondern wollte nur noch Ruhe.</p> <p>Obwohl die Tür bereits hinter mir zugefallen war, holten mich noch die lautstarken Trinksprüche meiner Kameraden ein: »Es lebe der Teufel und die Bergsteigerei!«, bebte Gunnars Stimme bis zu mir hinaus. Darauf folgte ein dreifaches ›Horrido – Joho‹ der gesamten Truppe. Ich streckte und schüttelte mich und wollte gerade zu einem kurzen Spaziergang in die nahe Bergwelt aufbrechen, als mir eine schlanke schwarze Figur auffiel, die gedankenversunken in die Ferne starrte. Als sie mich bemerkte, lächelte sie mir mitfühlend zu. Sie musste meine Flucht vor dem feuchtfröhlichen Dienstkehraus durchschaut haben.</p> <p>Ich trat neben Pragen und fragte ihn, ob er es nicht gerade eben noch eilig gehabt hätte.</p> <p>»Jetzt nicht mehr«, erwiderte er mit einem tiefen, ehrlichen Seufzer, der kurz als weiße Nebelwolke zu sehen war, bevor er sich mit der kalten Luft vermischte.</p> <p>Ich lachte, da ich das Gefühl kannte, dass in dem Moment, in dem man hinaus ins Freie trat, die Zeit aufhörte, einen auf Schritt und Tritt zu verfolgen.</p> <p>»Man fühlt sich entschleunigt, nicht wahr?«, fragte Pragen und lachte auf mein Kopfnicken hin ebenfalls: »Wenn Sie mich nach einem triftigen Grund fragen würden, könnte ich Ihnen vermutlich keinen zufriedenstellenden liefern, aber ich glaube inzwischen, dass wir beide uns gar nicht so unähnlich sind, wie es auf den ersten Blick erschien. Warum wollen wir uns nicht vertragen?« Er reichte mir seine Hand mit einem einladenden Lächeln. Als ich zögerte, fügte er hinzu: »Nennen Sie mich Marcus.«</p> <p>Ich blieb jedoch skeptisch: »Ich möchte nicht Ihr Spitzel sein«, sagte ich vorsichtig und bemerkte wie ein grauer Schatten, über Pragens Gesicht glitt. Es war, als hätte sich eine schmerzliche Erinnerung in sein Gedächtnis gestohlen und nach einem kurzen, aber bitteren Aufstoßen wieder in ihre dunkle Ecke verkrochen. Er lächelte jedoch noch immer und auch seine Hand wartete noch immer darauf, dass ich sie ergriff: »Ich möchte Sie nicht als Spitzel haben«, sagte er, »sondern als Freund.«</p> <p>Ich runzelte die Stirn, nahm dann aber doch seine Hand: »Wilhelm«, sagte ich. Er nickte und schaute wieder in die Berge. Nach einer Weile des Schweigens, zeigte er auf die über uns thronenden Gipfel: »Der Anblick der Berge erschüttert mich«, sagte er: »Ihre Größe macht mich klein und verlegen. Wissen Sie, wie man dieses Gefühl nennt, Wilhelm?«</p> <p>Seine Frage schien, ernst gemeint zu sein. Deswegen gab ich mir Mühe und schlug schließlich ›Demut‹ vor, aber Pragen schüttelte energisch den Kopf: »Nein, das ist es nicht, wonach ich suche. Ich meine etwas viel Einfacheres und Bodenständigeres.« Er stützte das Kinn auf seine Hand und dachte angestrengt nach. Er kam jedoch nicht drauf: »Vielleicht erinnert mich der Anblick einfach nur daran, dass ich die letzten Monate zu viel Zeit hinter den tristen Papierbergen auf dem Schreibtisch meines Münchner Büros verbracht habe.«</p> <p>Ich pflichtete ihm bei, dass es mir oft nicht anders ergehe. Auf sein erstauntes Stirnrunzeln hin fügte ich hinzu, dass mich die Stabsarbeit an kurzer Leine halte.</p> <p>Wieder hörte man Gunnars Stimme durch die geschlossenen Fenster der Gaststätte: »Was waren des Bergsteigers letzte Worte?«, rief er beschwingt. »Der Haken hält!«, schallte es daraufhin unison aus aller Munde. Schmetterndes Gelächter und eine weitere Salve ›Horrido – Joho‹ zogen für Kanzler, Volk und Vaterland über unsere Köpfe hinweg.</p> <p>Pragen schüttelte lachend den Kopf und musterte mich anschließend mit einem verkniffenen Blick: »Solche Späße bringen Sie nicht zum Lachen?« Ich gestand, dass ich bereits oft genug darüber gelacht hätte.</p> <p>»Oft genug?« Er schien, mir nicht zu glauben: »Wilhelm, wissen Sie, was diese Welt in ihrer Umlaufbahn hält? Ich will Ihnen verraten, was meine jahrelangen Stammtischobservationen ergeben haben: Liebe und Schadenfreude! Das große Ewige auf der einen Seite und der kleine, vergängliche, schnelle Seelenbalsam auf der anderen.«</p> <p>»Ich dachte, Hoffnung wäre das Allheilmittel.« So war ich jedenfalls mit Eliot verblieben.</p> <p>»Nur für Pessimisten, Fatalisten und andere Extremmelancholiker,« korrigierte mich Pragen. Ich schmunzelte. Vielleicht passten diese Attribute gar nicht so schlecht auf Eliot. Aus irgendeinem Grund musste ich mich ja so sehr zu ihm hingezogen fühlen.</p> <p>»Schauen Sie sich um und hören Sie gut zu«, fuhr Pragen fort: »Man besingt die Liebe und lacht über die Pleiten der anderen.«</p> <p>»Nur weil diese Themen am lautesten über den Stammtisch schallen, bilden sie noch lange nicht den Kern des Weltgefüges«, wandte ich ein.</p> <p>»Sie plädieren also auf Hoffnung vor Liebe? Und worauf hoffen Sie dann? Auf besser Wetter?«</p> <p>In genau dieselbe Sackgasse war ich auch mit Eliot geraten. Da ich schwieg, entschied Pragen, dass der Punkt an ihn ging: »Sehen Sie?«, fragte er und nickte zufrieden: »Liebe und Schadenfreude: Beide belegen die Hauptsendezeiten des Rundfunkprogramms und beide werden von der Werbeindustrie dazu verwendet, um die Verkaufstrommel zu rühren. Wussten Sie, dass mehr Verbrechen aus Liebe als aus Hass begangen werden? Und nimmt man die Motivation der Verbrechen genauer unter die Lupe, findet man oftmals sogar heraus, dass der vermeintliche Hass doch nur eine Sonderform der Liebe war. Das gleiche gilt für die Schadenfreude. Schon so manche Anteilnahme oder scheinbar selbstlose Tat hat sich am Ende als verkappte Gier nach dem Leid der anderen herausgestellt. Ich möchte es manchmal selbst nicht glauben, aber der Leiter für Fallanalyse meiner Münchner Abteilung erinnert mich immer wieder daran und er muss es ja wissen. Er versteht die Menschen besser als ich.« Er unterbrach sich und entschuldigte sich für seine Geschwätzigkeit.</p> <p>»Schon gut«, sagte ich und machte eine abwiegelnde Geste. Pragen fand meine Bemerkung offenbar lustig: »Wilhelm«, lachte er, wurde aber schnell wieder ernst. Er dachte einen Augenblick angestrengt nach, als müsste er sich zu einer schweren Entscheidung durchringen, und fragte schließlich: »Wissen Sie, dass ich Dostojewskis Roman ›Der Idiot‹ drei Mal gelesen habe?«</p> <p>Das wusste ich natürlich nicht, aber anstatt zu antworten, schaute ich ihn nur überrascht an.</p> <p>»Beim zweiten und dritten Mal brach ich das Buch jedoch nach der Hälfte ab«, erzählte er weiter: »Und wissen Sie, wieso?«</p> <p>Ich wusste es wieder nicht und schüttelte den Kopf.</p> <p>»Weil es mich zu sehr mitnahm, wie grausam das Schicksal und die Menschen dem Helden, den ich bereits ab der ersten Seite in mein Herz geschlossen hatte, zusetzten. Ich konnte Fürst Myschkin nicht leiden sehen, ohne selbst zu leiden. Deswegen, Wilhelm: Hören Sie nicht auf mich.« Er machte eine kurze Pause und zeigte anschließend Richtung Berge: »Aber denken Sie bei Gelegenheit darüber nach, welches Gefühl der Demut vorausgeht, und wenn Sie es herausgefunden haben, lassen Sie es mich wissen.« Mit diesen Worten stieg er in seinen Wagen.</p> <p>Ich sah ihm noch nach, bis er am Ende des Parkplatzes den Blinker setzte und sich von dem fließenden Verkehr Richtung München mitnehmen ließ. Obwohl wir am Ende Freundschaft geschlossen hatten, war ich mir nicht sicher, wer Pragen überhaupt war. Seine Fragen über den alten Professor, seine Kritik an meiner Führungskraft, sein Interesse für Josts Jägergeschichten und seine Hartnäckigkeit bei der Suche nach einem Schuldigen, dem man die Dummenjungenstreiche anhängen konnte – das passte alles nicht zusammen. Aber vielleicht hatte er sich ja auch einfach nur mit jemandem über das Wesen der Liebe, der Hoffnung und der Schadenfreude unterhalten wollen.</p> <p>Als Pragen schon längst davon war und ich noch immer gedankenverloren auf die Berge starrte, die ihn so beeindruckt hatten, glaubte ich mit einem Mal, die Antwort auf seine Frage gefunden zu haben. Ich notierte sie auf einem kleinen Zettel, den ich in meiner Hosentasche fand, damit ich sie nicht vergaß.</p> <p>Mit Falk habe ich bisher trotz meiner erhöhten Wachsamkeit bezüglich seiner außerdienstlichen Aktivitäten noch nicht gesprochen. Pragens Moratorium lässt mir Zeit bis nächstes Jahr. Es besteht also kein Grund zur Eile und morgen ist erst einmal das heiligste aller Feste. Ich hoffe, die Züge fahren trotzdem nach Plan, denn ich habe vor, das Königreich des Winters zurückzuerobern. So, wie es in meinen Adern geschrieben steht.</p> <p>~ Wilhelm Fenner</p> </div> <div class="field field--name-field-ort field--type-link field--label-hidden field__item"><a href="https://www.openstreetmap.org/relation/939341">Mittenwald</a></div> <div class="field field--name-field-datum field--type-datetime field--label-hidden field__item">Montag, 23. Dez.. 1991</div> <div class="field field--name-field-bezugsort field--type-link field--label-inline"> <div class="field__label">Bezugsort</div> <div class="field__item"><a href="https://www.openstreetmap.org/relation/939341">Mittenwald</a></div> </div> <div class="field field--name-field-bezugsdatum field--type-datetime field--label-inline"> <div class="field__label">Bezugsdatum</div> <div class="field__item">Mittwoch, 18. Dez.. 1991</div> </div> <div class="field field--name-field-kapitel field--type-integer field--label-above"> <div class="field__label">Kapitel</div> <div class="field__item">6</div> </div> <div class="field field--name-field-dateinummer field--type-integer field--label-inline"> <div class="field__label">Dateinummer</div> <div class="field__item">602</div> </div> Thu, 16 Mar 2023 17:06:54 +0000 eloroke 31 at https://www.adamsakte.de Wiedersehen https://www.adamsakte.de/Tagebuch/Wiedersehen <span class="field field--name-title field--type-string field--label-hidden">Wiedersehen</span> <span class="field field--name-uid field--type-entity-reference field--label-hidden"><span>eloroke</span></span> <span class="field field--name-created field--type-created field--label-hidden">Do., 16.03.2023 - 21:01</span> <div class="clearfix text-formatted field field--name-body field--type-text-with-summary field--label-hidden field__item"><p>Wieso bin ich nicht eher darauf gekommen? Luv! Ein so seltener Name und dennoch gestattete er mir bereits zwei Mal die Ehre. Um jedweden Irrtum ausschließen zu können, zog ich gleich bei meiner Rückkehr die bis zum Rand mit mehr oder minder unwichtigem Papierkram gefüllte Apfelkiste hinter meiner Wohnzimmercouch hervor und wühlte mich durch die feinen Sedimentschichten aus Formularen, Urkunden, Verträgen, Bescheinigungen und Amtsbriefen bis zu den ältesten Fossilien meiner Lebensgeschichte durch. Neben einem abgelaufenen Leseausweis der Caldener Jugendbibliothek, einem mit Gold bestickten, zerschlissenen Sporthosenaufnäher, einem Schülerzeugnis der dreizehnten Klasse und einem Einberufungsbescheid an den Mittenwalder Gebirgsjägerstandort fand ich auf dem Grund meines privaten Aktenarchivs auch eine Kopie des ärztlichen Attestes, das mir damals vor etwa zehn Jahren am Ende meiner Eignungsprüfung zum Offizier ausgestellt worden war. Obwohl die Unterschrift am Fuße des Dokuments mehr dem Auswurf eines Seismografen gleicht, räumt der schräg nach rechts geneigte, feine Schriftzug, wenn man weiß, wonach man sucht, jeden Zweifel aus: Lysander Josef Luv, Eliots Vater. Oheim hatte recht. Die Welt ist klein und sind die Schicksalsstränge zweier Seelen erst einmal miteinander verdrillt, finden sie immer wieder zusammen.</p> <p>Da zum Zeitpunkt meiner Aufnahme in die Bundeswehr als Offiziersanwärter bereits alle Fristen verstrichen und alle Rekruten an ihre jeweiligen Standorte zur Grundausbildung befohlen waren, sahen meine Musterung und Einberufung etwas anders aus, als es die Dienstregularien offiziell vorschreiben. Alles passierte während einer heimlichen Nacht-und-Nebel-Aktion unter der Regie von Professor Meissmann in einem riesigen, dunklen und bis auf die wenigen beteiligten Geheimniskrämer menschenleeren Verwaltungsblock des Koblenzer Zentrallazaretts und ging recht schnell und zügig vonstatten: Ein paar Formulare ausfüllen, ein paar Tropfen Blut spenden, ein paar Untersuchungen über mich ergehen lassen und auf ein paar einfache Fragen Rede und Antwort stehen.</p> <p>Doch als ich schon glaubte, der Spuk sei vorbei, wurde ich von der nervös zischenden Stimme des Professors eines Besseren belehrt und in ein kleines Behandlungszimmer bugsiert, wo ein abschließendes kurzes Gespräch mit einem Oberstarzt stattfinden sollte. Professor Meissmann legte ein Formular auf den Tisch und ließ mich allein in dem kleinen Raum zurück. Das nachfolgende Gespräch, wenn man es überhaupt als solches bezeichnen konnte, sollte tatsächlich kurz werden. Kurz und äußerst merkwürdig. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum mir diese Szene bis zum heutigen Tag so deutlich im Gedächtnis geblieben ist.</p> <p>Nachdem man mich bestimmt zehn, zwanzig oder vielleicht sogar dreißig Minuten hatte warten lassen, hörte ich plötzlich in der Ferne das große Eingangstor des Gebäudes aufschwingen und geräuschvoll wieder ins Schloss fallen. Kurz darauf brannte ein flüsterndes Knistern durch den Korridor, als sich die Neonröhren erwärmten und den Flur in grelles Licht tauchten. Unter das Neonflackern mischten sich schnelle Schritte, die immer lauter durch den Treppenaufgang und den langen Korridor hallten. Der von Meissmann mit einer gehörigen Portion Respekt angekündigte Oberstarzt schien sich nichts aus des Professors Geheimniskrämerei zu machen, sondern ging so leichtfertig und spendabel mit Licht und Lärm um, dass mir Meissmanns heimliches Getue nachträglich wie eine alberne Kinderei erschien. Als der mysteriöse Ankömmling endlich das kleine Behandlungszimmer betrat und mich dort im schwachen Schein der Schreibtischlampe auf einem Patientenstuhl vorfand, schaltete er auch hier ohne Begrüßung und ohne jeglichen Kommentar das große Deckenlicht an und setzte sich mir gegenüber auf einen großen bequemen Sessel.</p> <p>Verunsichert wartete ich darauf, dass er irgendetwas sagen würde. Doch er blieb still und schaute mich eindringend über die Finger seiner vors Gesicht gefalteten Hände hinweg an. Ich fühlte mich zunehmend unwohl, blickte ziellos im Zimmer umher, verfing mich wieder im starren Blick meines Gegenübers, versank ein Stück in mir selbst und presste mir zu guter Letzt eine in Anbetracht der merkwürdigen Situation nicht ganz unberechtigte Frage heraus: »Ist das ein Test?«</p> <p>»Nein.« Er schüttelte irritiert den Kopf, als hätte ich ihn aus seinen Gedanken geschreckt, und erklärte in einem fast entschuldigenden Ton, der nicht so recht zu seinem ansonsten sehr souveränen Auftritt passen wollte, dass ich nichts zu befürchten hätte. Er wolle sich nur mit mir unterhalten.</p> <p>Ich nickte angestrengt und schwieg, bis sich der Oberstarzt nach einer endlos langen Runde in sich selbst vertiefter Nachdenklichkeit mit einem unvermittelten Ruck erhob, einen Pappbecher mit Leitungswasser füllte, ihn mir vor die Nase hielt und fragte, ob ich etwas trinken wolle. Ich wagte nicht abzulehnen, sondern nahm den Becher dankend an und trank einen Schluck.</p> <p>Gedankenvoll schlich er um mich herum, begutachtete mich von allen Seiten und murmelte schließlich mehr zu sich selbst: »Was für blaue Augen. Anderswo sieht man das als Zeichen für zu viel Wasser im Blut. Wusstest Du das?« Ohne meine Antwort abzuwarten, fuhr er fast aufbrausend fort: »Albern ist das! Einfach nur albern! Albern, hörst Du!« Das letzte ›Albern‹ presste er geradezu wütend zwischen seinen Zähnen hervor, lehnte sich mit einem entmutigten Seufzer gegen die Kante der großen schwarzen Patientenpritsche, die hinter mir an der Wand stand, und fragte mich, ob es mein freier Wunsch sei, als Offizier in der Armee zu dienen.</p> <p>Ich hielt es für klüger, ja zu sagen. Meine Stimme klang jedoch so zaghaft und unsicher, dass ich schnell einen weiteren Schluck aus dem Pappbecher nahm, mich umdrehte und mein Ja mit etwas mehr Volumen als beim ersten kläglichen Versuch wiederholte. Er nickte, ging um mich herum, setzte sich wieder mit verschränkten Händen auf den Arbeitssessel und schwieg.</p> <p>Die bedrückende Stille schien kein Ende nehmen zu wollen, als er mich plötzlich mit einem entschlossenen Blick anschaute und sagte: »Die Zeiten, in denen das Wünschen noch geholfen hat, sind vorüber. Früher konnte man sich noch mit einem Lächeln davonstehlen, doch heute sind Träume, Wünsche und Sehnsüchte nur bösartige Gewebeneubildungen in den für das chirurgische Messer unzugänglichen Eingeweiden der menschlichen Seele. Aber Du bist sehr tapfer, Junge.«</p> <p>Da ich nicht wusste, was ich darauf antworten sollte, nippte ich schweigend an meinem Wasser und beobachtete die Wellen in meinem Becher, woraufhin der Oberstarzt einen weiteren Seufzer entließ, einen Füllfederhalter aus seiner Brusttasche angelte und seine Unterschrift auf das vor ihm auf dem Schreibtisch liegende Formular setzte.</p> <p>»Wilhelm!« Er war aufgestanden und hielt mir seine Hand hin. Ich rappelte mich auf und streckte auch ihm meine Hand entgegen. Doch anstatt sie zum Abschied zu schütteln, griff er nach meinem Handgelenk, drehte meinen Handteller nach oben und legte eine kleine, milchsilberne Perle hinein. Ich starrte ihn verwundert an.</p> <p>»Weißt Du, wie man ein Geheimnis bewahrt?«, fragte er mich eindringlich.</p> <p>Ich nickte starr und biss mir verlegen auf die Lippen.</p> <p>»Verwahre sie geheim«, fuhr er in gebieterischem Ton fort: »Doch wenn Du jemals in Bedrängnis geraten solltest, Wilhelm, dann benutze sie und nenne meinen Namen.«</p> <p>Ich schloss meine Faust um die kleine Silberperle und nickte wieder, dieses Mal mit betont ernster Miene. Da ich noch immer nicht wusste, was ich sagen sollte, stammelte ich ein verlegenes Dankeschön vor mich hin, bevor ich meine versteinerte Faust tief in meiner Hosentasche vergrub.</p> <p>»Wilhelm Fenner, ich wünsche Dir viel Erfolg auf Deinem weiterem Lebensweg und hoffe, dass Du Dein Glück finden wirst.« Er wandte sich zur Tür und murmelte, ohne sich nochmals zu mir umzudrehen: »Dann ist vielleicht doch nicht alles umsonst gewesen und das Wunder der Sühne auch ohne Gottesglauben möglich.« Seine Stimme klang deprimiert. Mit diesen Worten ließ er mich allein und verwirrt in dem kleinen Behandlungszimmer zurück.</p> <p>Vorsichtig befühlte ich die Perle in meiner Tasche und überprüfte meine Hose auf Löcher, als mir siedend heiß einfiel, dass ich den Namen des fremden Oberstarztes gar nicht wusste. Panisch stürzte ich zur Zimmertür und spähte in den inzwischen wieder ausschließlich durch das schwache Licht der Notausgangsschilder beleuchteten Flur, wo zwei gespenstige Schattengestalten aufeinandertrafen. Ich hörte Meissmanns Stimme in der Dunkelheit. Doch der schnurstracks Richtung Treppenaufgang eilende Schatten schnitt dem Professor mit einer abwehrenden Geste das Wort ab und ging seines Weges. Ich lief zum Schreibtisch und warf einen Blick auf die Unterschrift, doch sie war so undeutlich, dass ich nur die jeweils ersten Buchstaben sicher entziffern konnte.</p> <p>Obwohl ich mit der Perle nichts anzufangen wusste, trug ich sie fortan stets in meiner rechten Hosentasche und machte nur wenige Wochen später während einer einsamen Wanderung durch die Berge eine erstaunliche Entdeckung. Ich befand mich auf einem Gipfel von nur etwas mehr als zweitausend Metern Höhe. Dennoch brannte die Sonne so unerbittlich auf mich herab, dass ich das Gefühl hatte, ihr zu nahe gekommen zu sein. In diesem Licht betrachtete ich die kleine Perle, die zu meiner Überraschung die Sonnenstrahlen in Form von feinen Linien, Häkchen und Querstrichen auf meiner Handoberfläche reflektierte. Das seltsame Liniennetz war von der gleichen Farbe wie meine Haare – nur ein wenig heller, eher wie das schillernde Gefieder männlicher Schwäne, das Reifeflimmern von weißen Blütenständen oder das Lodern des Himmels kurz vor einem heftigen Gewitter. Einer vagen Intuition folgend stellte ich mich zwischen Sonne und Gipfelkreuz und tauchte die Milchsilberperle in das Licht des sengenden Vormittags. Mit halb zugekniffenen Augen drehte ich die glitzernde Silberkugel hin und her, bis der Querholm des Gipfelkreuzes schließlich einen leicht verzerrten lateinischen Schriftzug in Großbuchstaben und einen Namen reflektierte: Lysander Josef Luv. Da die Schrift nicht spiegelverkehrt erschien, ging ich davon aus, dass sie von Anfang an zur Projektion gedacht gewesen war und dass es irgendwo spezielle Lesegeräte dafür geben musste.</p> <p>Ich habe diese Perle jedoch schon vor Jahren verloren und hätte sie vielleicht irgendwann ganz vergessen, wenn Elli meinem vielleicht manchmal ein wenig trägen, jedoch im Grunde sehr verlässlichen Gedächtnis nicht durch die Erwähnung des Namens seines Vaters auf die Sprünge geholfen hätte: Lysander Josef Luv. Luv! Die ganze Sache erscheint mir rückbetrachtet fast noch befremdlicher als damals. Zu wissen, dass jener seltsame Offizier Eliots Vater gewesen sein muss, bringt auch kein Licht ins Dunkel. Auf keinen Fall sollte ich diese Begegnung Elli gegenüber erwähnen. Er reagiert abweisend trotzig, niedergeschlagen oder gespielt gleichgültig, jedoch immer äußerst sensibel und leicht irrational, wenn es um seinen Vater geht. Soll die Vergangenheit getrost zusammen mit der Milchsilberperle zwischen den Ritzen der Bodendielen unter dem Spülstein ruhen. Viel spannender ist die Gegenwart. Der heutige Tag war ein Rausch und ich habe noch immer das Gefühl zu brennen.</p> <p>Ich war zwar in meiner Jugend nie auf einem Kindergeburtstag gewesen, habe mir jedoch bereits während meiner frühen Kadettenzeit von meinem damaligen Kompaniefeldwebel Oheim glaubhaft versichern lassen, dass sich diese ohnehin nur geringfügig von Offiziersbällen und anderen Militärfeierlichkeiten dieser Art unterschieden und ich somit noch genügend Gelegenheit haben würde, meine verlorene Kindheit nachzuholen. Wenn man das Geplapper der Gäste durch wildes, deswegen aber nicht minder gehaltvolles Kindergeschrei ersetzte, und das Taktieren und Tanzen durch Kräftemessen und Toben, erhalte man eine solide Vorstellung von einem gut organisierten Kindergeburtstag.</p> <p>Noch zwei weitere Unterschiede gab es laut Oheim. Erstens war die Torte auf Offiziersbällen nicht mit bunten Bonbons verziert, sondern mit zwei gekreuzten Degen aus Zuckerguss, und zweitens wurden Vergehen gegen die Kostümierungspflicht auf Militärveranstaltungen strenger geahndet. Kunstvoll bestickte Ehrenabzeichen, bunte Bandschnallen, silberpaspelierte Kragennähte und goldene Schulterepauletten waren für die Männer ebenso ein Muss wie der kostbare Schmuck für die Frauen. Ich hatte großes Glück, dass Oheim mich damals unter seine Fittiche genommen und mir alles beigebracht hat. Als lediger Offizier hatte ich es auf solchen Bällen und Festen nie besonders leicht, weil jeder glaubte, mich verkuppeln oder anderweitig unterhalten zu müssen. Diese Plagen blieben mir dieses Mal jedoch glücklicherweise erspart.</p> <p>Die Münchner Abschirmherren trugen bei ihren Feierlichkeiten allerdings ziemlich dick auf. Es genügte ihnen nicht, sich einen Abend lang im Namen Christi zu betrinken, wie es das herkömmliche Soldatenvolk zu tun pflegt, sondern sie taten dies an gleich drei Abenden hintereinander. Sie hatten zu diesem Zweck ein Schloss gemietet. Das über hundert Jahre alte Gemäuer war zwar nicht besonders groß, dafür aber vollständig restauriert und mit allen erdenklichen Annehmlichkeiten ausgestattet. Alle Räume waren beheizt und neben den Konferenzsälen, in denen sie tagsüber ihre Seminare abhielten, gab es ein Kasino für den Abend und eine Sporthalle für die wohl dringend notwendige morgendliche Auskaterungsgymnastik. Das Ganze nannte sich offiziell auch nicht Silvesterparty, sondern Jahresabschluss, damit es als Überstunden angerechnet werden konnte, und am letzten Tag gab es einen vermutlich ebenfalls als Mehrarbeit deklarierten Ball, zu dem der komplette Münchner Dienstapparat eingeladen war. Für Prominenz sorgten einige Ehrengäste aus Bonn und Köln, für Skurrilität die Mittenwalder Gebirgsjäger.</p> <p>Mit drei winterfesten Autos krochen wir über die vereisten Straßen des Alpenvorlands in das kleine Dörfchen Berg am Ostufer des Starnberger Sees, wo das Treffen stattfinden sollte. Ich fuhr mit Heidts Dienstwagen an der Spitze unseres Trosses und hatte Falk, Anna und Strefler mit an Bord. Anstatt die Karte zu lesen oder auf die Umleitungsschilder zu achten, machten sie nur Blödsinn. Sie tranken und sangen und zogen mich wegen meiner Ernsthaftigkeit auf. Im Geheimen machte mich ihre Anwesenheit jedoch froh und ich bemerkte zum ersten Mal, dass Falk gar kein so schlechter Sänger war. Gunnar war bei André eingestiegen und die geräumige Familienkutsche der Josts bildete den Abschluss unserer Karawane.</p> <p>In dieser Formation erreichten wir Pragens Schloss. Der Gastgeber tingelte mit einem zierlichen Kristallgläschen von einem Tisch und Stehkränzchen zum nächsten, schäkerte mit den Soldaten, politisierte mit den Stabsoffizieren, unterhielt die Generäle und flirtete mit ihren Frauen. Ganz, wie es sich gehörte. Auch seine Garderobe war tadellos. Er trug ein schwarzes Jackett, das von hinten an einen Schwalbenschwanz erinnerte und auf dem je nach Lichteinfall ein verschlungenes Muster zu erkennen war. Anstatt der üblichen Krawatte oder Schleife, wehte ein lockerer Schal um seinen Hals und seine Schuhe klapperten leise auf den Holzdielen, während er sich um seine Gäste kümmerte. Auch ich wurde sein Opfer. Aber erst später. Zunächst beließ er es bei einer überschwänglichen Begrüßung und der nachdrücklichen Aufforderung, es uns gut gehen zu lassen. Das ließen sich Falk und die anderen nicht zwei Mal sagen, sondern planten einen Sturm auf die reich bestückten Silberplatten, Glasschalen und Zapfhähne des Buffets. Ich nutzte das allgemeine Durcheinander und seilte mich ab, um mich in dem weitläufigen Festsaal auf die Suche nach Elli zu machen. Ich schob mich zwischen den zahlreichen Gästen hindurch, spähte auf die Bühne am fernen Ende der Halle, musterte jedes Gesicht und erkannte sogar etliche davon wieder, aber keines davon gehörte Elli. Nach der ersten Hälfte wurde ich nervös und drehte mich immer wieder um meine eigene Achse, damit ich auch ja niemanden übersah.</p> <p>Als ich nach einem erfolglosen Rundgang durch die Halle wieder an meinem Ausgangspunkt angelangt war, hielt ich deprimiert inne und ließ meinen Blick über die Köpfe der Menschen schweifen. Doch mein Auge fand keinen Halt in dem Gewühl aus lachenden, essenden, trinkenden, debattierenden, gestikulierenden und tanzenden Partygästen, bis sich plötzlich die große Eingangstür öffnete und zwei vor Kälte prustende Gestalten den Saal betraten: Eliot und noch ein Jemand mit auffällig unnatürlich rotem Haar. Die beiden stellten zwei halb volle Wasserkisten vor sich auf dem Boden ab und klopften sich den Schnee aus ihren windzerzausten Haaren und dünnen Kleidern.</p> <p>Allein ihn zu sehen, machte die Reise bezahlt. Ich bahnte mir schnurstracks meinen Weg zwischen Tischen, Gästen, Säulen, Kellnern, Stühlen und Blumenkübeln hindurch zur Eingangstür und stolperte Elli freudenstrahlend entgegen: »Elli, Eliot«, rief ich aufgeregt, als ich schließlich vor ihm stand: »Was eine Freude, Dich wiederzusehen!«</p> <p>Elli schaute mich einen Moment lang irritiert an, bevor er sich erinnerte und mir seine Hand reichte: »Du, hier?«, fragte er überrascht. Ich nahm seine Hand, hielt sie fest und nickte.</p> <p>Sein rothaariger Begleiter hatte jedoch seine Getränkekiste wieder aufgenommen und gab Elli einen ungeduldigen Schubs: »<span><span><span lang="fr-FR" xml:lang="fr-FR"><em>Henri</em></span></span></span>, trödle nicht rum«, meckerte er und ging voraus Richtung Bühne.</p> <p>»Henri?« Ein wenig belustigt imitierte ich den nasalierten Tonfall, den ich gerade gehört hatte, und blickte Elli fragend an. Doch er schien mich nicht gehört zu haben, sondern blickte seinem Kameraden hinterher: »Schön, Dich hier getroffen zu haben, Wilhelm. Vielleicht sehen wir uns ja später noch einmal«, sagte er mit einem flüchtigen Lächeln und wand seine Hand aus meiner. Vielleicht ließ ich sie auch freiwillig los. Ich erinnere mich nicht mehr so genau an diesen Moment. Ich weiß nur, dass ich plötzlich alleine dastand. Auch die Getränkekiste, die Elliot auf dem Boden abgestellt hatte, war verschwunden. Nur eine kleine Lache kennzeichnete die Stelle, wo er sich den Schnee aus den Kleidern geklopft hatte.</p> <p>›Vielleicht‹ und ›später‹ hatte er gesagt. Ich fühlte eine seltsame Mischung aus Enttäuschung und Wut. Ich hätte mich dagegen wehren können, aber ich überließ mich meinen Gefühlen und verfluchte alles um mich herum, alles und jeden. Als schließlich alles um mich herum in Flammen stand, trat ich einen Schritt zurück, weil ein Gruppe fröhlich plaudernder Gäste den Saal betrat. Dem Geruch nach zu urteilen, waren sie draußen gewesen, um zu rauchen. Allen voran schritt ein junger Leutnant, der einer älteren Dame mit vom Alkohol geröteten Wangen und einem dazu passenden roten Abendkleid – vermutlich war sie seine Mutter, für eine Freundin war sie zu alt – seine Jacke umgehängt hatte. Als die Frau jedoch in die Lache auf dem Boden trat, kam sie ins Rutschen und wäre fast gefallen, wenn ich sie nicht aufgefangen hätte.</p> <p>Ich packte ihr Handgelenk jedoch fester, als es nötig gewesen wäre, sodass sie vor Schmerzen aufstöhnte. Mit einem kräftigen Ruck zog ich sie schließlich auf die Füße, lächelte ihr zu und ließ sie los. Für die meisten hatte es so ausgesehen, als ob ich der Frau lediglich aufgeholfen hätte. Sie gingen lachend an uns vorüber. Nur der Leutnant blickte mich verwirrt an. Er schien, nicht ganz zu verstehen, was gerade passiert war. Ich erwiderte seinen Blick mit einer ausdruckslosen Miene, die ihn an seinen Rang erinnern sollte. Obwohl ich keine Rangabzeichen trug, nahm der junge Leutnant plötzlich Haltung an. Er entschuldigte sich für das Missgeschick seiner Mutter und bedankte sich überschwänglich für meine Hilfe. Ich nickte und machte kehrt.</p> <p>Die Welt hatte nach dem kurzen Zwischenspiel zwar aufgehört zu brennen, aber die unbestimmte Wut war nur einem konkreten Entsetzen gewichen. Ich spürte plötzlich einen leichten Schwindel und ließ mich auf einem nahestehenden Stuhl sinken. Alles, was sich während der letzten Monate ereignet hatte, war auf diesen Augenblick ausgerichtet gewesen. Ich hatte meine Seele an Pragen verkauft, einen kompletten Monatssold in eine ordentliche Ausgehgarnitur investiert und mich nächtelang in Alpträumen gewälzt. Doch alles, was er für mich übrig hatte, war ein unverbindliches ›Vielleicht und später‹.</p> <p>Ich bemerkte kaum, wie jemand ein Glas Wasser vor mir abstellte. Ich nickte nur stumm und überlegte, während ich mit meinen Fingern die Linien der an der kalten Glaswand kondensierenden Wassertropfen nachzeichnete, wie es mir gelingen konnte, ihm mit ebenso großer Gleichgültigkeit entgegenzutreten, wie er mir. Damals bei Tomo war es mir gelungen, wenngleich nur für einen kurzen Augenblick. Nach Jahren der Freundschaft und tiefsten Verbundenheit hatte ich mich in einer einzigen Nacht von ihm losgesagt und ein neues Kapitel in meiner Geschichte aufgeschlagen. Und seine Geschichte damit beendet.</p> <p>Eine freundliche, körperlose Stimme redete mir plötzlich gut zu, doch erst als ich feststellte, dass diese Stimme nicht nur in meinem Kopf existierte, erwachte ich aus meiner Trance und kehrte in die Welt der Lebenden zurück, wo ich für einen kurzen Moment in dem Meer aus Licht und Lärm zu ertrinken drohte. Überall flackerten Kerzenflammen und das warme Licht der Deckenfluter sorgte zusammen mit den grellen Kunststofflampen über den Buffetständen und dem grünen Leuchten der Notausgangsschilder für eine diffuse Beleuchtung. Ein heilloses Gewirr aus rasselnden Geräuschen, herrenlosen Gesprächsfetzen und fernem Gesang fiel über mich her, darunter auch die aufgeregt plappernden Stimmen der Tischgesellschaft, der ich mich aufgedrängt hatte: »Ich dachte schon, er setzt sich auf meinen Schoß! Was hat er denn?«, sagte eine vorwurfsvolle Stimme. Ich schaute mich nach ihr um und sah eine Frau in, was mir wie Trauerkleidung erschien: schwarzer Hut, schwarzes Halsband, schwarzes Kleid und schwarze Handschuhe. Nur die leichenblasse Haut und die Perlengehänge an Ohren, Hals und Handgelenken sorgten für ein wenig Kontrast.</p> <p>»Ach, kein Grund zur Besorgnis. Wir sind Leid gewohnt und halten schon einiges aus«, raunte eine andere Stimme. Sie klang dunkel und gesetzt und gehörte einem älteren Offiziersjahrgang in einem einfachen Gesellschaftsanzug. Er nickte mir aufmunternd zu: »Geht’s wieder?«</p> <p>»Vielleicht hat er zu viel getrunken. Dann sollte er sich besser hinlegen«, meldete sich die vorwurfsvolle Stimme der Frau im Trauergewand wieder zu Wort.</p> <p>»Das Letzte, was er jetzt braucht, sind Deine gut gemeinten Ratschläge. Es geht ja schon wieder«, stellte ein junger Unteroffizier mit einer silbernen Schützenschnur vielleicht ein wenig vorlaut, aber vollkommen richtig fest.</p> <p>Die Befürchtung, dass sich meine kurzfristige Unpässlichkeit in den Köpfen meiner besorgten Tischgenossen zu einem Ungeheuer auswachsen könnte, ließ mich augenblicklich wieder zu Kräften und Verstand kommen. Ich entschuldigte mich hastig für die Umstände und wollte gehen. Doch als ich auf meinem Stuhl herumwirbelte, war da noch jemand. Eine zierliche Person mit einem freundlichen und offenherzigen Lächeln. Obwohl ich während meiner Selbstversunkenheit die Welt um mich herum kaum wahrgenommen hatte, glaubte ich, die Person wiederzuerkennen, die mir das Wasser gebracht hatte.</p> <p>»Ich bin froh, dass Sie wohlauf sind«, lachte sie erleichtert und nun bestand kein Zweifel mehr. Es war die gleiche Stimme, die mir zuvor Mut zugesprochen hatte. Ich bedankte mich und versuchte erneut, zu fliehen, doch ihr Rollstuhl versperrte mir den Weg. Bevor ich mich durch meine unvermittelte Reue über meine zwei gesunden Beine zum Idioten machen konnte, übertölpelte mich meine unbekannte Wohltäterin mit der neugierigen Frage, ob ich der Besuch aus den Bergen sei. Oberstleutnant Pragen habe ihr erzählt, dass Ehrengäste aus einem Mittenwalder Gebirgsjägerkommando erwartet würden. Ich nickte.</p> <p>»Sehr erfreut Sie kennenzulernen«, sagte sie schließlich. Dem warmherzigen Tonfall ihrer Stimme nach zu urteilen, meinte sie es ernst. Sie reichte mir ihre Hand: »Ich heiße Cecilia.«</p> <p>Ich stellte mich ebenfalls vor und beschränkte mich dabei, wie sie es zuvor getan hatte, auf das Nötigste: »Wilhelm.« Mehr schien sie auch nicht von mir zu erwarten. Ohne meinen Rang, meine Stabsabteilung, meine Bataillonsnummer oder meinen Nachnamen zu kennen, lächelte sie mich an und lotste mich zu einer einsamen Sitzgruppe am Rande der Tanzfläche. Da meine eigentliche Verabredung für den Abend ohnehin geplatzt war, trottete ich artig hinter ihr her und nahm auf ihren Befehl hin auf einem knirschenden Korbsessel Platz. Sie fragte, ob ich etwas trinken wolle und bestellte, nachdem sie unsere gemeinsame Vorliebe für Milch festgestellt hatte, zwei Gläser schaumig geschlagene Joghurtmilch mit süßen Früchten. Anschließend schaffte sie es tatsächlich, mich mit unzähligen Fragen über meine Arbeit als Bergführer und belanglosem Gerede über das Glück der Welt in ein Gespräch zu verwickeln.</p> <p>Während ich mich durch Cecilias Fragen und Erzählungen von meinen Gedanken an ›Vielleicht und später‹ ablenken ließ, blickte ich mich in dem großen Festsaal um. Die meisten Gäste saßen an den Tischen, wo debattiert, gegessen und getrunken wurde. Andere standen in kleinen Grüppchen umher, die sich immer wieder auflösten und in veränderten Konstellationen neu formierten. Einige wenige tanzten sogar. Es wurde viel geredet, gelacht und gekichert, ein tosendes Summen aus tausend Stimmen. Hier wurden Schultern geklopft, da Köpfe geschüttelt und dort Augenbrauen hochgezogen. Ein Tête-à-tête an der Fensterbank, Gedrängel an den goldenen Zapfhähnen der großen Fässer, ein gewagter Balance-Akt mit einem Tablett voller Kristallgläser, flüchtige Berührungen, große Ehrenwörter und das Gefühl eines wahrhaft heiligen Friedens. Niemand war allein und dank Cecilia hatte auch ich ein wenig Gesellschaft.</p> <p>Jedenfalls bis Pragen sie entführte. Er entschuldigte sich bei mir, bevor er Cecilia hastig erklärte, dass der Befehlshaber des Münchner Wehrbereichskommandos trotz arger Verspätung doch noch eingetroffen sei. Der General habe seine Familie mitgebracht und müsse nun gebührend empfangen werden. Cecilia machte ein bedauerndes Gesicht und bat mich, ihre Verpflichtungen als Gastgeberin zu entschuldigen, bevor sie Pragen durch das Menschengewühl Richtung Eingangstür folgte. Unversehens war ich wieder allein – mit mir selbst, einem leer getrunkenen Glas Joghurtmilch und dem bitteren Nachgeschmack eines beiläufigen ›Vielleicht und später‹.</p> <p>Ich zog eine weitere Runde durch den Saal, sah bei meinen Leuten nach dem Rechten, holte mir noch eine Portion von dem Joghurtgetränk und verschanzte mich in einer unauffälligen Stellung zwischen einer mit Tannenzweigen getarnten Säule und einem Reservekontingent aus ineinander und aufeinander gestapelten Stühlen. Während ich die Dinge zählte und das wilde Farbspiel der im Raum umherschwirrenden Töne und Stimmen beobachtete, wärmte ich das Glas mit der Joghurtmilch zwischen meinen Händen. Ich mag zwar keine warme Milch, aber auch keine ganz kalte.</p> <p>Ich suhlte mich förmlich in meinen gescheiterten Hoffnungen, als ich in der Menschenmenge plötzlich denselben Rotschopf entdeckte, dem ich noch kurz zuvor an Eliots Seite begegnet war. Er lud einen Teller voller Speisen vom kalten Buffet, schlängelte sich flink zwischen den Tischen und Stühlen hindurch und verschwand am fernen Ende des Saals durch einen Seiteneingang, der wohl zur Bühne führte. Nervös schaute ich zu dem großen schwarzen Vorhang, als wie aus dem Nichts Pragen neben mir auftauchte: »Wie ich sehe, warten Sie bereits voller Ungeduld auf unser Bühnenprogramm«, sagte er: »Es sollte gleich beginnen.« Ich zuckte nur mit den Schultern.</p> <p>»Aber unser Kinderkefir schmeckt Ihnen?« Er meinte anscheinend mein Getränk. Skeptisch beäugte ich den Milchschaum in meinem Glas, machte jedoch weiterhin von meinem Recht zu schweigen Gebrauch.</p> <p>»Es ist alkoholfrei und bis auf den vielleicht etwas zu reichlich untergemengten Sirup sogar gesund. Ein Festtagspunsch für die Jugend, die es im Schlepptau ihrer Eltern und Großeltern hierher verschlagen hat, und für die Autofahrer sowie alle anderen, die an ihrem klaren Verstand hängen«, klärte mich Pragen weiter auf. Ich nickte und trank einen feierlichen Schluck auf die Jugend, die Autofahrer und alle anderen, obgleich die Milch noch nicht die ideale Trinktemperatur erreicht hatte.</p> <p>»Haben Sie leicht hergefunden?«, fragte Pragen nun. Ich nickte wieder und hoffte, dass die von ihm erwähnte Vorstellung bald beginnen würde, damit unser einseitiges Gespräch ein möglichst schnelles Ende fand. Einen anderen Ausweg gab es nicht, denn es ist nun einmal das Vorrecht des höheren Dienstgrades den niedrigeren auf jedwede Weise tyrannisieren zu dürfen. Als Gefreiter muss man für die höheren Mannschaftsdienstgrade den Lakaien spielen und als Hauptmann muss man das langweilige Geschwätz der Stabsoffiziere und Generäle klaglos ertragen. Eine seit Urzeiten etablierte Spirale gepflegter Gängelei und Schikane.</p> <p>Pragen erzählte wieder einmal vom Wetter, von der winterlichen Verkehrslage, von den zurückliegenden Weihnachtsfeierlichkeiten und dem nun kurz bevorstehenden neuen Jahr sowie von den politischen Umwälzungen im Osten und Deutschlands Rolle in einem neuen Europa. Ich nickte ab und zu aus Höflichkeit und schaute immer wieder unruhig Richtung Bühne, bis ich seinen Redeschwall schließlich unterbrach, indem ich ihm ein zusammengefaltetes Stück Papier unter die Nase hielt. Eine antrainierte Zurückhaltung zähmte Pragens natürlichen Reflex, danach zu greifen: »Was ist das?«, fragte er jedoch neugierig.</p> <p>»Die Antwort, die ich Ihnen bei unserem letzten Treffen schuldig geblieben bin.«</p> <p>Pragen war perplex: »Darf ich?«, fragte er und streckte seine Hand nun doch danach aus.</p> <p>Ich nickte und überließ ihm den Zettel. Pragen faltete ihn vorsichtig auf und las. Obwohl ich nur ein paar Worte darauf gekritzelt hatte, verharrte sein Blick lange auf dem Stück Papier, bis er schließlich schmunzelte: »Danke«, sagte er und gab sich Mühe, seinen Dank nicht beiläufig klingen zu lassen. Ich zuckte jedoch nur mit den Schultern: »Keine Ursache.« Pragen faltete den Zettel wieder zusammen und ließ ihn in seinem schwarzen Notizbuch verschwinden, das er offenbar stets bei sich trug. Danach schaute er mich erwartungsvoll an: »Dann habe ich gleich die nächste Frage für Sie, wenn Sie erlauben.«</p> <p>»Nur zu«, forderte ich ihn auf.</p> <p>»Aus welcher moralischen Direktive oder Sozialdoktrin lässt sich ein Herrschaftsanspruch über die Berge begründen?« Ich schüttelte verwundert den Kopf und bat Pragen, mir seine Frage genauer zu erläutern.</p> <p>»Nun, wenn ich von Herrschaft spreche«, erklärte er, »meine ich damit nicht etwa die Länder- und Staatsgrenzen, die man in jedem Schüleratlas verzeichnet findet, sondern eine abstrakte und allumfassende Idee von Eigentum und Besitz. Wer darf die Berge sein eigen nennen? Die Touristen und Bergsteiger, die Gämsen und Adler oder doch nur Gott allein?«</p> <p>»Soweit ich weiß, gibt es keinen Gott«, erklärte ich vorsichtig: »Und Gämsen und Adler? Ich weiß nicht recht. Ich glaube, ich habe die Frage noch immer nicht richtig verstanden.«</p> <p>Pragen lachte: »Gut, dass Sie mich daran erinnern. Fast hätte ich vergessen, dass Gott das vergangene Jahrhundert nicht überlebt hat und sich die Tierwelt wohl kaum um einen abstrakten Eigentumsbegriff schert. Bleiben uns also nur die Menschen. Aber welche Menschen? Die einheimischen Pächter und Senner? Oder die Abenteuerurlauber und Kurgäste?«</p> <p>»Das Problem ist«, warf ich ein und schaute kurz Richtung Bühne, »dass man nicht wirklich von Besitz und Eigentum sprechen kann, wo es nichts zu haben gibt.«</p> <p>»Kein Haben bedeutet was?«, hakte Pragen nach: »Reines Sein?« Ich überlegte kurz und nickte.</p> <p>»Dennoch erobern Sie einen Berggipfel nach dem anderen.« Er stellte die Augen, als ob er mich bei etwas ertappt hätte. Ich hatte jedoch das Gefühl, dass er mich mit seiner Wortwahl nur provozieren wollte: »Ich erobere sie nicht«, korrigierte ich ihn deswegen: »Ich besteige sie.«</p> <p>»Und was ist dieses Besteigen, wenn kein Erobern, Besiegen und Bezwingen?«</p> <p>»Ein Besuch?«, schlug ich versöhnlich vor, doch Pragen blieb skeptisch: »Ist das die Antwort eines Gebirgsjägers?«, fragte er.</p> <p>»Es ist meine Antwort«, erklärte ich und schaute mich nach einem erneuten Blick Richtung Bühne nach meiner Truppe um. Gunnar und Anna hatten die Ordonnanz inzwischen dazu überreden können, ihr Bier aus Flaschen trinken zu dürfen. Falk hatte das Büffet furagiert und labte sich an seiner fetten Beute, während André unserer wankelmütigen Moral die Stange und die Launen der anderen im Zaum hielt. Strefler verhielt sich unauffällig und Jost und seine Frau hatten sich unter die Prominenz gemischt, um Präsenz zu zeigen und Kontakte zu knüpfen.</p> <p>Ich nippte an meiner Milch – sie war noch immer zu kühl – und lauschte Pragens Hörsaalübung über das Haben und das Sein, während ich den dunklen Bühnenvorhang im Auge behielt. Meine Antworten wurden jedoch immer zerstreuter, sodass ich kaum bemerkte, wie ich Pragen mein Jawort gab, als er mich auf eine Tasse Tee in sein Münchner Büro einlud.</p> <p>Ich wollte meine vorschnelle Zusage sofort wieder zurückziehen, aber in diesem Moment platzte eine schwarze Igelfrisur in unser Gespräch und stellte sich vor: »Oberfeldwebel Falk Kastl zu Diensten. Ich bin Hauptmann Fenners Erster Feldwebel in der Stabsabteilung für Sicherheit in Fels, Eis und Schnee des Mittenwalder Gebirgsjägerbataillons. Ich bin sozusagen derjenige, der den ganzen Laden schmeißt. Wenn Sie mit meinem Zugführer Tee trinken möchten, regle ich das.« Falk war zwar nicht betrunken, aber sein Gefahreninstinkt und sein Benehmen waren nicht unbedingt in Bestform. Pragen gab sich jedoch jovial. Vermutlich hatte er nur auf eine Gelegenheit gewartet, die Wehrzersetzer auf seiner Liste genauer unter die Lupe nehmen zu können.</p> <p>In Anbetracht der Umstände war es seltsam, dass wir drei beieinander standen, als wären wir alte Bekannte oder gute Freunde. Pragens Verdächtigungen gegen Falk, meine bevorstehende Aussprache mit dem ›Ersten Feldwebel‹ meiner Stabsabteilung – diese Bezeichnung war selbst mir neu – und das gespannte Verhältnis zwischen Pragen und mir schwelten wie Elmsfeuer in der Luft. Ich traute dem Chef des Münchner Abschirm­amtes noch immer nicht über den Weg, wie sehr er auch vorgab, mein Freund und Geistesgefährte zu sein.</p> <p>»Sie brauchen also einen Termin mit meinem Hauptmann?«, fragte Falk und kramte in seinen Taschen.</p> <p>»Eigentlich wollte ich mich nur mit Ihrem Hauptmann zum Tee verabreden«, wandte Pragen auf Falks Frage ein und beobachtete interessiert, wie dieser eine seiner selbstgebastelten Visitenkarten aus seiner Tasche hervorholte. Die auf grünweißes Endlospapier gedruckten und mit krummen Kanten ausgeschnittenen Visitenkarten unserer Stabsabteilung haben diesen Namen streng genommen nicht verdient, denn sie besitzen die imposante Größe von Waffenausgabescheinen und müssen zwei Mal gefaltet werden, um in eine normale Geldbörse zu passen.</p> <p>»Dienstlich?«, fragte Falk und klappte die grünweiße Visitenkarte auf.</p> <p>»Was sonst?«, lautete Pragens verblüffte Gegenfrage. Seine Stimme klang jedoch freundlich und geduldig, vielleicht sogar ein wenig amüsiert.</p> <p>»Dann ist es ein Termin und Termine sind bei uns derzeit schwer zu bekommen. Frühestens Ende Januar, Anfang Februar. Jetzt sind erst mal Feiertage und dann fahren wir nach Zermatt.« Falk strich die zerknitterten Ecken der Visitenkarte gerade und reichte sie Pragen.</p> <p>»Was macht die Bundeswehr in Zermatt?« Pragen nahm den Zettel entgegen und las ihn aufmerksam durch.</p> <p>»Unser Standort nimmt dort kommenden Frühling an einem Gebirgswettkampf teil, aber unsere eidgenössischen Kameraden haben uns bereits diesen Winter zu einer gemeinsamen Gletschertour eingeladen, um Erfahrungen auszutauschen und für die kommende Patrouille zu trainieren. Rufen Sie mich einfach nach den Neujahrsfeiertagen an, dann werde ich sehen, was sich terminlich für Sie einrichten lässt.«</p> <p>»Bitte, keine Umstände«, wehrte Pragen ab: »Ende Januar, Anfang Februar reicht vollkommen. Man möchte es nicht glauben, aber ich bin selbst beschäftigt.« Nach einem schnellen Griff in die Innentasche seines Jacketts reichte er Falk ebenfalls eine Visitenkarte.</p> <p>Pragens Visitenkarte war seltsam, einerseits wirkte sie elegant, andererseits schlicht. Das Papier war dünn, aber dennoch fest und griffig und die auf den ersten Blick scheinbar farblose Oberfläche war, wenn man genauer hinsah, honigfarben meliert. Viel Informationen enthielt sie nicht. In der Mitte prangte Pragens Name als brauner Schriftzug, der aussah wie von Hand geschrieben, und am Fuß standen in leicht nach rechts geneigter Maschinenschrift eine Münchner Postfachadresse und die Telefonnummer, vermutlich die seines Sekretariats. Die Rückseite war leer. Falk nahm das kleine Kärtchen entgegen und stellte, nachdem er es gründlich in Augenschein genommen hatte, fest, dass es zu klein war, um in einem Aktenordner abgeheftet werden zu können.</p> <p>Man traut es ihm vielleicht nicht zu, aber Falks zweite große Leidenschaft, gleich nach der Bergsteigerei, ist das Ordnunghalten im Büro. Nachdem er seinen Posten unter meinem Kommando bezogen hatte, entfaltete sich diese Leidenschaft zu ihrer vollen Größe. Während die anderen Soldaten meiner Abteilung nach einem kräftezehrenden Marsch durch die Berge gemütlich draußen in der Sonne saßen, aßen und tranken und dabei ihr Material versorgten, leistete mir Falk lieber im Büro Gesellschaft. Er hatte ständig etwas zu tippen, zu sortieren, abzuheften oder zu stempeln. Und wenn er mit dem Papierkram fertig war, hängte er sich ans Telefon. Dieser Übereifer vertrug sich nicht mit meinem Bedürfnis nach Abgeschiedenheit, Ruhe und Privatsphäre, weswegen ich dafür sorgte, dass Falk sein eigenes Büro und seinen eigenen Telefonanschluss bekam.</p> <p>Falk war selig, als er seinen Schreibtisch in das leere Zimmer gegenüber von meinem Büro schob und die Schreibmaschine darauf stellte. Das erste, was er auf dieser Schreibmaschine schrieb, war das Türschild für seine neue Dienststube: »Geschäftszimmer und Sekretariat der Sonderstabsabteilung für Sicherheit in Fels, Eis und Schnee, Leitender Feldwebel Falk Theodor Kastl.« Darunter standen die offiziellen Dienstzeiten, die Telefonnummer und das Truppenmotto. In jeder Zeile war mindestens einmal das Korrekturband bemüht worden. Die Regale stellte Falk mit hundert vorerst noch leeren Aktenordnern aus Pappe voll. Einen Aktenvernichter hielt er ebenfalls bereit, falls die zu archivierenden Daten irgendwann nicht mehr in die Ordner passen sollten und ältere Dokumente ausgemustert werden mussten.</p> <p>Nachdem alles fertig eingerichtet war, erklärte er mir die neuen Regeln. Sie waren denkbar einfach, aller lästiger Papierkram würde fortan über seinen Schreibtisch laufen und auch unliebsame Telefonate wollte er für mich übernehmen, damit ich mich auf das Wesentliche konzentrieren konnte. Auf meine Frage, was denn das Wesentliche genau sei, antwortete er lediglich mit: »Keine Ahnung, Du bist der Hauptmann.« Seither kümmere ich mich um die wesentlichen Dinge, Falk um alles andere, zum Beispiel um Termine.</p> <p>Nachdem er Pragen die Visitenkarte überreicht hatte und den Oberstleutnant auf Ende Januar, Anfang Februar hatte vertrösten können, räumte Falk das Feld, um nach einem kurzen, aber nicht unergiebigen Schlenker am Buffet vorbei zu dem Tisch zurückzukehren, den man eigens für die Mittenwalder Ehrengäste reserviert hatte. Pragen schaute ihm verwundert nach und wollte gerade etwas sagen, als plötzlich die Musik aussetzte. Ich wirbelte herum und starrte zur Bühne, wo sich gerade in diesem Augenblick der schwere Vorhang in der Mitte teilte.</p> <p>Als Eliots rotschöpfiger Freund an das auf der Mitte der Bühne platzierte Mikrophon herantrat, um nach einem kurzen Räuspern das Abendprogramm anzusagen, eilten alle zu ihren Plätzen, als gäbe es nicht genügend Stühle. Ich rührte mich jedoch nicht vom Fleck, sondern schaute über die Köpfe der anderen Gäste hinweg Richtung Bühne. Hinter dem sich langsamen öffnenden Vorhang kamen nach und nach fast zwei Dutzend Soldaten in feiner Abendgarderobe zum Vorschein, die in zwei Reihen aufgestellt waren und offenbar nervös auf ihren Einsatz warteten. Eliot war überraschenderweise nicht darunter, was jedoch bei genauerer Überlegung die Vermutung nahelegte, dass er derjenige sein musste, der den Vorhang aufgezogen hatte. Bezüglich der auf einer langen Tischreihe aufgestellten Wasserflaschen und Weingläser hatte ich allerdings keine Vermutung. Die Gefäße waren mit Wasser gefüllt, wobei der Füllstand der Gläser und Flaschen von rechts nach links abnahm. Das Glas ganz rechts war sehr klein und etwa zur Hälfte mit Wasser gefüllt. Ganz links stand fast leere Flasche. Vor den Tischen lagen lange, dünne Holzscheite auf dem Boden wie man sie zum Heizen von Holzöfen verwendete. Als das Publikum lachte, schreckte ich auf. Ich hatte nicht zugehört und wusste nicht, worum es ging.</p> <p>Der Rotschopf hatte seine Ansage jedoch offenbar beendet und das Ensemble machte sich bereit. Einige nahmen hinter den Weingläsern Platz, andere blieben stehen und nahmen eine Wasserflasche zur Hand, während sich wieder andere, eine kleine Gruppe von nur vier Leuten, vor den Tischen zu den Holzscheiten auf den Boden setzten. Der Rotschopf war einer von ihnen. Als Pragen mein Erstaunen bemerkte, weihte er mich in die Hintergründe ein. Die Feldwebel und Offiziere des Münchner Geheimdienststabs hatten die letzten zwei Abende und Nächte damit verbracht, ein Musikstück von irgendeinem bedeutenden klassischen Künstler auf einer improvisierten Glasflaschenorgel einzustudieren. Die Töne wurden durch das Blasen einer Flasche oder durch eine leichte Berührung am oberen Rand eines Weinglases erzeugt. Da jeder dabei nur einen einzigen Ton spielte, mussten die Musikanten ihre Einsätze präzise beherrschen, und da sie keinen Dirigenten hatten, spielte sich die Orgel quasi von selbst.</p> <p>Die Ankündigung des Experiments hatte die Gäste bereits in ein erwartungsvolles Fieber versetzt, das sich, nachdem die Musikanten Aufstellung genommen hatten, in einem spontanen Applaus entlud. Als sich jedoch die Lichter in der Festhalle verdunkelten und die Bühne in einem mystischen blauen Licht erstrahlte, wurde es still im Saal. Ich vermutete, dass es wieder Eliot gewesen sein musste, der hinter den Kulissen den Lichtschalter betätigt hatte. Für ein paar Sekunden hörte man nichts bis auf verhaltenes Räuspern und Husten, unter das sich jedoch plötzlich ein zunächst noch leises, aber langsam lauter werdendes monotones Klopfen mischte. Die Gäste an den hinteren Tischen reckten den Hals, um einen Blick auf die Vorgänge auf der Bühne zu erhaschen. Da ich stand, konnte ich gut sehen, wie die auf dem Boden sitzenden Musikanten die trockenen Holzscheite gegeneinander schlugen. Der Rotschopf gab dabei offenbar durch sein Kopfnicken die Taktgeschwindigkeit vor.</p> <p>Als das Schweigen des Publikums nach nur wenigen Takten in ein ungeduldiges Flüstern überging, hallten plötzlich wie zur Ermahnung ein dunkler, pfeifender Ton und ein helles, vibrierenes Zirpen über die Köpfe der Gäste hinweg. Das Flüstern erstarb im Nu, um einer auf Falschen geblasenen und aus Weingläsern beschworenen Melodie Platz zu machen. Als das Experiment, aus dunklen Pfeifentönen und hellem Gläserzirpen Musik zu formen, tatsächlich zu gelingen schien, ließ es sich das Publikum nicht nehmen, den Musikanten einen so heftigen Applaus zu zollen, dass die Melodie kurzzeitig von lautem Klatschen übertönt wurde. Die Melodie folgte zwar einem einfachen Muster, das sich nach nur wenigen Takten wiederholte, aber das originelle Orchester spielte sich in einen Rausch, der sich auf den ganzen Saal übertrug. Auch ich war von den aus den Flaschen und Gläsern aufsteigenden Farben beeindruckt, die durch das Klappern der Holzscheite wie Konfetti in die Luft gewirbelt wurden.</p> <p>Ich hatte das Gefühl, die Arme um den Kopf schlingen zu müssen, um die auf mich einprasselnden Farbfunken abzuwehren, da ich jedoch nichts von dem Spektakel verpassen wollte, riss ich die Augen noch weiter auf, anstatt sie zu schließen, und starrte wie gebannt ins Licht. Meine Neugierde wurde belohnt, als sich plötzlich hinter den Holzscheitklopfern, Glasbeschwörern und Flaschenbläsern eine geisterhafte Erscheinung erhob. Ein überraschtes Stöhnen ging durch den Saal und von überall her zeigten nun Finger auf die Bühne, wo sich ein bleicher Mond in einem dunklen Bergsee zu spiegeln schien. Selbst ich war einen kurzen Moment irritiert und erkannte erst beim zweiten Hinsehen, dass es sich bei dem seltsamen Mond nicht um einen Geist, sondern um eine Person handelte. Es war Eliot, dessen dunkler Anzug mit dem noch dunkleren Hintergrund zu einer unscharfen Kontur verschmolz, wodurch sein durch die diffuse Bühnenbeleuchtung ätherisch schimmerndes Gesicht scheinbar körperlos in der Luft schwebte. Als ich ihn sah, verwandelte sich mein gesunder Pessimismus schlagartig, und ohne dass ich etwas hätte dagegen unternehmen können, in einen ebenso irrationalen wie wohltuenden Optimismus. Aus Wut wurde Hoffnung und mit einem Mal war ich der festen Überzeugung, dass ›vielleicht und später‹ niemals als Zurückweisung gemeint gewesen war, sondern als Versprechen.</p> <p>Voller Zuversicht und Erwarten beobachtete ich, wie Eliot eine silberne Flöte gegen seine Lippen presste und einen sanften, aber klaren Ton anstimmte. Der Klang der Flöte war so kraftvoll, dass er die anderen Instrumente in den Hintergrund schob. Die Flaschen, Gläser und Holzscheite setzten ihr sich ständig wiederholendes Muster tapfer fort, während die Flöte dem bunten Klangteppich einen neuen Farbton hinzufügte. Wie flüssiges Silber wob er sich zwischen die anderen Fäden. Wo zuvor nur ein chaotischer Strudel aus ineinander fließenden Farben geherrscht hatte, entstand plötzlich eine greifbare Struktur, eine plastische Gestalt, ein lebendiges Wesen, das sich mit breiten Schwingen aus seiner Wiege erhob und mit majestätischen Flügelschlägen durch den Raum flog. Je weiter sich das Wesen jedoch von seinem Schöpfer entfernte, desto mehr verlor es an Kraft, bis es schließlich wie prickelnder Nieselregen zur Erde fiel, um Platz für die nächste Welle aus gleißendem Silber zu schaffen. Man hätte mir Befangenheit unterstellen können, aber die Reaktion des unvoreingenommenen Publikums bestätigte mein Empfinden. Mit den ersten Flötentönen erhob sich verhaltener Beifall, der jedoch sogleich wieder erstarb, um das Kunstwerk nicht zu stören.</p> <p>Eliot selbst war von einer solchen Seelenruhe, dass es schien, als genüge der bloße Gedanke an einen Ton, um ihn wie einen Flaschengeist aus dem metallenen Körper der Flöte heraufzubeschwören und in die Freiheit zu entlassen. Die anderen Instrumente verblassten immer mehr, während sich Eliots Spiel wie das Schmelzwasser der Höhengletscher im Frühling zu einem wilden Gebirgsbach entwickelte. Es wurde voluminöser, intensiver und vor allen Dingen schneller. Die Hölzer legten ein sich stetig steigerndes Marschtempo vor und Eliots Finger glitten bald so flink auf und ab, dass sie nur noch als verschwommene Spur aus Luft und aufgewirbelten Lichtatomen zu erkennen waren – wie ein Schneesturm oder die Vibration eines Sicherungsseils nach einem Fangstoß.</p> <p>Eine erneute Woge aus Beifall und erstauntem Rumoren brauste auf, doch Eliot schien, den Trubel nicht zu bemerken. Seine Augen waren geschlossen und sein Körper wiegte im Rhythmus der Melodie, um die Töne zu formen, zu beflügeln und mit einem zärtlichen Impuls in ihr kurzes Leben zwischen den Tonlöchern seiner Flöte und den Herzen der Zuhörer zu verabschieden. Kaum hatte er einen Ton auf die Reise geschickt, entstand aus seinem Atem und dem Klangkörper seiner Flöte auch schon der nächste. Es war ein permanentes Entstehen und Vergehen. Hier gab es kein Haben, sondern nur das Sein und der Augenblick, wie ein Blick durch ein Kaleidoskop.</p> <p>Die anderen Instrumente hatte Eliot längst abgehängt. Nachdem sie sich immer öfter verhaspelt hatten, waren sie dazu übergegangen, den Taktschlag der Holzscheittrommler zu unterstützen und das Spiel der Flöte mit einem leisen Stakkato aus klirrendem Glas zu untermalen. Die hölzernen Taktschläge zogen noch immer an, doch Eliot hielt das Tempo mit. Nicht nur das, sein Spiel schien mit zunehmender Geschwindigkeit sogar an Klarheit und Volumen zu gewinnen. Ich wünschte mir, dass es niemals enden würde, spürte aber, dass die Melodie einem Höhepunkt entgegenstrebte. Wie beim Klettern erreicht man auch bei der Musik irgendwann einen Punkt, ab dem jeder Schritt Umkehr bedeutet: den Gipfel. Man steht dort oben selig, dehydriert und hat das Beste hinter sich. Man kann seinen Rucksack ablegen, seine blutleeren Hände kneten, in den Himmel starren, das Gipfelkreuz berühren, seine Gedanken im Gästebuch verewigen oder die juckende Mütze absetzen, um sich am Kopf zu kratzen, aber dort oben ist der Weg zu Ende und Weitergehen heißt Umkehren und Zurückgehen.</p> <p>Auch Eliots Flötenspiel erreichte schließlich diesen unausweichlichen Punkt. Nachdem der letzte Ton auf die andächtig lauschenden Gäste herabgeregnet war, stampfte das gesamte Orchester mit den Füßen auf die harten Bühnenbretter, um das Musikstück mit einem donnernden Schlag zu beenden. Die Gäste erhoben sich applaudierend von ihren Stühlen und baten um Zugabe, als die Musikanten sich an den Händen fassten und gemeinsam nach vorne traten, um sich vor ihrem Publikum zu verneigen. Ich schaute zu Pragen. Er schien zutiefst gerührt und klatschte mit über den Kopf erhobenen Händen Beifall. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich vergessen hatte, mich an dem Applaus zu beteiligen. Schnell kramte ich meine Hände aus den Taschen und stimmte ein wenig verspätet in den allgemeinen Jubel ein.</p> <p>Der Applaus hätte vielleicht nie geendet, wenn nicht der Rotschopf ans Mikrofon getreten wäre, um den Lärm der Zuschauer zu bändigen und eine Ansage zu machen. Die Münchner Truppe habe sich nämlich in diesem Jahr, tönte er, eine besondere Überraschung für ihren Dienststellenleiter überlegt. Unter erneutem Beifall, der dieses Mal von der Bühne her erscholl, wurden nun Pragen und Cecilia ins Rampenlicht gerufen.</p> <p>Als hätten sie es tausendfach einstudiert, sprangen zwei Offiziere herbei, um Cecilias Rollstuhl mit einem einzigen, kräftigen Hauruck auf die Bühne zu hieven. Auch Pragen verzichtete auf den Treppenaufgang und kletterte behände hinterher, wo man ihn und Cecilia sogleich mit theatralischen Danksagungen, herzlichen Umarmungen und Geschenken überhäufte. Cecilia erhielt ein Blumengesteck und eine in Holz gerahmte Urkunde, die sie als Mutter der Münchner Dienststelle auszeichnete, Pragen überreichte man hingegen ein geheimnisvolles Päckchen.</p> <p>Sowohl der Saal als auch die Truppe auf der Bühne warteten nervös auf die Reaktion des Oberstleutnants, während dieser vorsichtig an den Schleifenbändern zog, um schließlich eine unscheinbare, schmale Pappschachtel zum Vorschein zu bringen. Die losen Schleifen und das Geschenkpapier wurden umgehend von einem Unteroffizier aus dem Bild geräumt, damit Pragen die Hände freihatte, um sein Geschenk in Augenschein zu nehmen. Pragen lüpfte den Deckel der Schachtel und spähte hinein. Doch anstatt seine Freude über das Geschenk zum Ausdruck zu bringen oder diese wenigstens anstandshalber vorzutäuschen, machte er nur ein entgeistertes Gesicht. Auch Cecilia schlug, nachdem sie einen Blick in das Kästchen geworfen hatte, zunächst nur entsetzt ihre Hand vors Gesicht, bevor sie schließlich mit einem zutiefst gerührten Lächeln aufblickte. Auch der Oberstleutnant rang sich daraufhin zu einem Lächeln durch. Wie zum Trost legte seine Hand auf Cecilias Schulter und nickte bestimmt in die Runde, bevor er jeden Einzelnen kurz, aber beherzt in die Arme schloss, um seinen Dank auszudrücken. Cecilia tat es ihm gleich und schenkte jedem eine sanfte Umarmung. Mir wurde das langsam zu viel. Ich begab mich zu unserem Tisch und trank nun endlich meine Milch. Sie hatte inzwischen die perfekte Trinktemperatur, auch wenn alles andere alles andere als perfekt war.</p> <p>Als endlich alle Hände geschüttelt, alle Schultern geklopft und alle Wangen geküsst waren und sich bereits ein ungeduldiges Raunen im Zuschauerraum breitzumachen drohte, hielt Pragen ein schmales, längliches Glasprisma mit einer silbernen Gravur in die Höhe. Wie eine Welle brauste die stille Post von den vorderen Tischreihen, die den Schriftzug noch ohne Feldstecher entziffern konnten, bis zu den hinteren Tischreihen und bald war der ganze Saal ein einziges Raunen aus ›Wie, was steht auf dem Schild?‹, ›Marcus Pragen!‹, ›Marcus Pragen?‹ und ›Ja, Marcus Pragen!‹</p> <p>Als mir klar wurde, dass es sich um nichts weiter als ein Namensschild handelte, wurde ich ärgerlich. Diese ernüchternde Enthüllung unterbot sämtlich Erwartungen, die die zuvor übertrieben zur Schau gestellte Rührseligkeit in mir geschürt hatte. Aus allen Richtungen wurden zwar Ohs und Ahs laut, aber mir blieb der tiefere Sinn verschlossen. Auch in Andrés Augen standen Fragezeichen und Falk schüttelte ratlos den Kopf. Als ich jedoch wieder zu Eliot emporsah, spürte ich plötzlich, dass ihn eine innigliche Vertrautheit mit den Menschen um ihn herum verband, mit Pragen, Cecilia und all den anderen Kameraden und Kollegen. Sie alle wussten das Mysterium hinter dem Namensschild zu deuten – wie eine Geheimsprache oder die wortlose Kommunikation zwischen zwei gut eingespielten Seilgefährten.</p> <p>Eliots Welt lag zum Greifen nah, aber dennoch konnte ich ihn nicht erreichen. Er schien mir plötzlich ferner, als er es die vergangenen drei Monate über gewesen war, während deren die Strecke von Mittenwald bis München wie eine kilometerdicke Mauer zwischen uns gelegen hatte. Ich wurde von einer unbändigen Eifersucht ergriffen und reagierte ziemlich ruppig, als sich Falk in seiner angeheiterten Laune zu mir herbeugte und mich vertrauensvoll am Ärmel zupfte: »Möchtest Du auch so ein Namensschild? Du kannst es mir ruhig sagen!« Gunnar brach in ein irres Kichern aus, aber es war keine Kunst, ihn zum Lachen zu bringen. Er war beschwipst.</p> <p>»Lass gut sein.« Mit einer mürrischen Bewegung schob ich Falks Hand beiseite und konzentrierte mich auf die Bühne und den kleinen Seitenaufgang. Ich durfte Elli nicht wieder aus den Augen verlieren. Als Pragen ans Mikrofon trat, machte ich mich schon auf eine lange Rede gefasst, aber er sprach ohne langes Räuspern und ohne große Vorrede nur ein paar wenige Worte und blieb auf diese Weise auch eine Erklärung für den Zirkus um das Namensschild schuldig: »Danke«, sagte er kurz und knapp, ohne sich damit an eine bestimmte Person zu wenden, sodass man meinte, er spräche zu uns allen: »Eine exzellente Truppe und ein großartiges Jahr! Ich freue mich schon auf ein gemeinsames 1992. Aber nun lasst uns feiern!« Das war seine ganze Rede.</p> <p>Das Publikum klatschte höflich Applaus und das Ensemble stampfte zusätzlich mit den Füßen dröhnend auf die Bühnenbretter. Pragen sprang vom Podest herab und reichte Cecilia die Hand, die von eilfertigen helfenden Armen heruntergehoben wurde. Als das Rampenlicht erlosch und der Vorhang zugezogen wurde, kam wieder Leben in den Saal: Eine Heerschar an Kellnern wuselte um die Tische herum, um leere Teller und Gläser einzusammeln. Das Musikensemble kämpfte sich unter dem schweren Vorhang hervor und sprang von der Bühne oder quoll durch die kleine Seitentür in den Festsaal. Wer sich nicht um Pragen und Cecilia drängte, stürmte nach draußen, zu den Toiletten oder zum Buffet. Auch meine Leute stieben jeder nach seinen Nöten auseinander und zerstreuten sich in alle Himmelsrichtungen.</p> <p>Meine Not war jedoch eine andere. Eliot war nirgends zu sehen. Ich wühlte mich durch die sich zwischen Stühlen und Tischen stauenden Leiber bis zum Seitenaufgang vor und betrat den düsteren Bereich hinter der Bühne. Nur ein grünlich leuchtendes Notausgangsschild sorgte für ein wenig Licht. Loses Kabelgewirr hing von der Decke. Ein Sicherungskasten summte leise. Leere Getränkekisten standen Spalier. Aufeinandergeschichtete Klapptische und Bänke versperrten den Weg. An der Wand lehnten gespenstige Papprequisiten. Alle Farben waren erloschen und mit ihnen scheinbar auch alles Leben. Vorsichtig trat ich auf die knarrenden Holzdielen der Bühne, wo ich inmitten der sich ins Unendliche ausdehnenden Dunkelheit einen einsamen Schatten fand. Er saß zusammengekauert auf einem kleinen Schemel an der hinteren Wand und balancierte seine Flöte auf seinen Knien. Aus dem ›vielleicht und später‹ war ein ›hier und jetzt‹ geworden, Eliots geknickte Haltung drosselte jedoch meine Euphorie. Ich tappte vorsichtig durch die Dunkelheit, setzte mich neben ihn und fragte besorgt nach seinem Befinden.</p> <p>»Gleich geht es mir wieder gut«, sagte er zäh, aber seine Stimme klang matt. Er schaute mich mit glasigen Augen an und zeigte mir zwei Fiebertabletten: »Jan, holt mir eben etwas zu trinken.«</p> <p>»Jan? Der Franzose von vorhin?«, fragte ich und befühlte Eliots Stirn und Nacken. Sein Körper glühte. Trotz seiner schlechten Verfassung lachte er: »Ja, der Franzose von vorhin.«</p> <p>Ich riet ihm, sich auszuruhen, und fragte ihn, ob er heute noch nach München zurückfahren würde. Es stellte sich jedoch heraus, dass Pragen das gesamte Stabspersonal in einem bewirtschafteten Nebengebäude des Schlosses einquartiert hatte, wo sich Elli ein Doppelzimmer mit seinem Freund und Kameraden Jan teilte. Elli wollte das Fest allerdings noch nicht verlassen, da er einer nicht unbeträchtlichen Anzahl an Damen einen Tanz auf dem Jahresball versprochen hatte. Ich hielt es für keine besonders gute Idee, sich angeschlagen und fiebrig in den Festsaal hinauszuquälen, nur um dort für die Frauen der Generäle den Kavalier zu spielen und deren Töchter mit seiner Grippe anzustecken. Ihm wegen einer heißen Stirn gleich eine Grippe andichten zu wollen, hielt er für übertrieben. Er fühle sich nur ein wenig abgeschlagen, kraftlos und müde. Auf mein skeptisches Stirnrunzeln hin, erklärte er, dass es ihm nicht ums Tanzen gehe, sondern darum, sein gesellschaftliches Soll zu erfüllen. Ich hatte noch nie getanzt und hatte dazu auch keine Meinung, und da wir uns offenbar nicht darauf einigen konnten, was nun das Beste für ihn war, schwiegen wir.</p> <p>Die Minuten verstrichen, Jan kam nicht bei und Eliot und ich saßen im Halbdunkel und hatten uns nichts zu sagen. Auf der anderen Seite des Vorhangs wurde unterdessen munter getratscht und gelacht.</p> <p>»Du spielst gut«, sagte ich schließlich und deutete auf die Flöte.</p> <p>»Das sagst Du nur, weil Du nichts davon verstehst«, erwiderte er ruppig.</p> <p>»Das stimmt«, gab ich zu: »Ich stehe vor Deiner Musik wie ein Blinder vor einem Gemälde. Aber vielleicht kann der Blinde die Texturen der aufgetragenen Farben fühlen oder die getrockneten Öle riechen und hat daran seine Freude. Meinst Du, Du könntest dem Blinden sein bescheidenes Glück erlauben?«</p> <p>Mit einem erschöpften Seufzen lehnte sich Eliot gegen die Wand und lockerte den Knoten seiner seltsamen Krawatte, ein in mehreren Schichten gefälteltes weißes Spitzentuch. Ich dachte schon, wir würden den Rest der Zeit, bis sein Freund das Wasser geholt hatte, mit Schweigen zubringen, als er sich plötzlich bei mir entschuldigte: »War nicht so gemeint«, sagte er knapp und schaute mich an, als wartete er auf meine Absolution, die ich ihm mit einem schlichten Schulterzucken schließlich auch erteilte. »Danke«, sagte er und lehnte sich wieder zurück: »Es ist nur …« Ellis Stimme klang plötzlich verlegen: »Ich finde, Du hast Recht. Ich war wirklich nicht schlecht.«</p> <p>»Ja?«, fragte ich erstaunt über dieses unvermittelte Bekenntnis.</p> <p>»Schon irgendwie«, bestätigte er: »Wenn man bedenkt, wie elend ich mich heute schon den ganzen Tag über fühle. Die Flaschenorgel war übrigens meine Idee. Eine geschlagene Stunde habe ich hier hinten im Dunkeln mit dem Stimmen der Flaschen und Gläser zugebracht. Mit einer Pipette und einem Holzstäbchen habe ich den Wasserstand reguliert und die Tonhöhe überprüft.« Eine Mischung aus berechtigtem Selbstbewusstsein und Verlegenheit über das unverhohlene Eigenlob schlich über seine erschöpften Gesichtszüge. Wenn sein Blut nicht Wichtigeres zu tun gehabt hätte, als sich um seine Eitelkeit zu kümmern, wäre er vielleicht sogar rot geworden. Ich lachte und nahm ihm vorsichtig die Flöte ab. Seine kraftlosen Finger gaben das Instrument widerstandslos frei. Als hätte ich eine Last von ihm genommen, schlang er beide Arme um seine Schultern und schloss die Augen.</p> <p>Während Jan noch immer auf sich warten ließ, untersuchte ich das bizarre Instrument, so gut es die bescheidenen Lichtverhältnisse zuließen. Auf dem Mundstück war Ellis Lippenabdruck zu sehen, ein kristallartiges Muster aus getrocknetem Speichel und Talg – das Fossil einer erinnerten Berührung. Der eigentliche Flötenrumpf war mit so vielen Hebeln, Scharnieren und Klappen versehen, dass man gar nicht wusste, wie man ihn halten sollte, ohne etwas kaputt zu machen. Die Mechanik wirkte auf den ersten Blick unheimlich kompliziert. Es gab Hebel, um Tonlöcher zu schließen, und welche, um sie zu öffnen. Manche der großen, kleinen, runden, länglichen oder tropfenförmigen Schalter betätigten gleich mehrere Klappen auf einmal, andere zeigten ihre Wirkung an ganz unerwarteter Stelle und wieder andere taten scheinbar gar nichts. Ich drehte das Instrument vorsichtig in meinen Händen hin und her, probierte die verschiedenen Schalter aus und beobachtete gespannt, was passierte. Das Gerät war so sensibel, dass bei jeder Berührung der Klappen ein leiser Ton entwich. Genauer gesagt zwei: einer beim Schließen der Klappen und ein zweiter beim Öffnen. Ein kaum wahrnehmbares, geisterhaftes Hauchen in verschiedenen Farbnuancen und Tonhöhen.</p> <p>»Du hörst es also auch? Es ist, als ob die Flöte flüstern würde, nicht wahr?« Eliots Augen waren geöffnet und musterten mich mit einem erwartungsvollen Blick. Ich unterbrach meine Inspektion und nickte. Ich hatte nicht bemerkt, dass er mich beobachtet hatte.</p> <p>»Als ich während meiner Grundausbildung in der Kaserne wohnen musste«, begann Eliot plötzlich zu erzählen, »habe ich eine Zeit lang nur Flüstertöne spielen können. Jan behauptet zwar immer, ich würde lediglich mit den Tasten klappern, aber das stimmt nicht. Die Töne sind da. Sie sind nur leise und heimlich.« Zu der krankheitsbedingten Hitze gesellte sich ein zweites Fieber, die Leidenschaft für sein Instrument. Trotz seiner Abgeschlagenheit kam plötzlich Leben in ihn. Er hielt seine Hand auf und fragte mich, ob er mir etwas vorspielen solle, leise und heimlich. Ich nickte und gab ihm sein Instrument wieder.</p> <p>»Und was möchtest Du hören?«, fragte er mich und wirkte mit einem Mal geradezu quicklebendig. Die Aufgabe, ein Musikstück auszuwählen überforderte mich jedoch, weshalb ich nur mit den Schultern zuckte.</p> <p>»Magst Du Bach?«, fragte er daraufhin.</p> <p>Ich hatte das Gefühl, dass er nur auf meine Zustimmung wartete, aber da ich es nicht genau wusste, zuckte ich wieder nur ahnungslos mit den Schultern. Elli lächelte, nahm die Flöte auf seinen Schoß und spielte die Melodie von zuvor, nur dass er dieses Mal von Anfang an ein etwas schnelleres Tempo vorlegte, da die Töne ohne den tragenden Luftstrom eine so kurze Lebensdauer hatten, dass Geburt und Tod in einem Zeitpunkt zusammenfielen. Klang und Stille wechselten einander unermüdlich ab, bis plötzlich die Tür aufgerissen wurde. Ein dunkler Schatten polterte die Treppen zur Bühne herauf und blieb mit in die Hüften gestemmten Armen vor uns stehen: »<span lang="fr-FR" xml:lang="fr-FR"><span>Aïe</span></span>! Klapperst Du wieder auf Deinen Tasten herum?«</p> <p>»Jan«, seufzte Eliot. Jan schnitt eine Grimasse und reichte Eliot ein Glas Wasser. Anschließend wandte er sich an mich – an dieser Stelle erfuhr ich nun auch ganz offiziell seinen Namen und er meinen, das Du verstand sich von selbst – und klagte mir sein Leid, als wären wir alte Bekannte: »Ich muss dieses Klappern schon seit Jahren ertragen. Kannst Du Dir das vorstellen? Auf der Stube, im Schützengraben, auf der Wache, im Zelt. Seit Jahren! Kannst Du Dir das vorstellen?«</p> <p>»Du übertreibst, Jan.« Eliot hatte das Glas Wasser mit einem ausgetrunken und atmete tief durch.</p> <p>»Ich übertreibe nicht«, entrüstete sich Jan. »Ich höre das Klappern der Tasten noch immer in meinem Kopf. Es verfolgt mich!«, flüsterte er mir zu und mimte dabei einen verzweifelten Schrei.</p> <p>»Übertreib nicht Jan«, wiederholte Elli: »Ich fühle mich fiebrig und matt, aber ich weiß nicht, wie ich mich aus der Verantwortung stehlen soll.« Er nestelte ein kleines Stück Papier aus der Innentasche seiner Jacke. Jan schnappte sich den Zettel und versuchte, die Schrift im Dunkeln zu entziffern: »<span lang="fr-FR" xml:lang="fr-FR"><span>Mon Dieu</span></span><span lang="fr-FR" xml:lang="fr-FR">, </span><span lang="fr-FR" xml:lang="fr-FR"><span>mon bon Dieu</span></span><span>, </span>wie viele Mädchen hast Du denn auf Deiner Tanzkarte?« Diese sogenannten Tanzkarten waren – wie sich gleich herausstellen sollte – nichts weiter als Handnotizen über versprochene Tänze. Diese Versprechungen waren auf die unterschiedlichste Art und Weise zustande gekommen. Manche waren von Pragen eingefädelt worden, andere hatten sich durch die Pflicht gegenüber höhergestellten militärischen Rängen ergeben und wieder andere waren ihnen von ihren Kolleginen aus der Verwaltungsetage ihrer Dienststelle abgenötigt worden.</p> <p>»Acht«, antwortete Eliot.</p> <p>»Sportlich, <span lang="fr-FR" xml:lang="fr-FR"><span>mon ami</span></span>, aber wenn Du willst, kann ich Deine Tanzkarte für Dich abarbeiten. Zusammen mit meinen drei wird das ein abendfüllendes Programm. Aber keine Sorge, ich werde Dich würdig vertreten. Das lenkt vielleicht auch Aurelies Aufmerksamkeit auf mich und dann … « Jan stellte die Augen: »… bitte ich sie zum Tanz: <span lang="fr-FR" xml:lang="fr-FR"><span>M</span></span><span lang="fr-FR" xml:lang="fr-FR"><span>’accordez-</span></span><span lang="fr-FR" xml:lang="fr-FR"><span>v</span></span><span lang="fr-FR" xml:lang="fr-FR"><span>ous la danse</span></span><span lang="fr-FR" xml:lang="fr-FR"><span> – suivante</span></span>?«, sagte er stockend: »Was meint Ihr? Hört sich das gut an?« Doch Eliot lachte nur und ich hatte keine Meinung. Jan zückte ein gelbes Taschenwörterbuch und suchte angestrengt nach einem Eintrag: »Oder lieber <span lang="fr-FR" xml:lang="fr-FR"><span>prochaine</span></span>?«</p> <p>»Kann sie denn kein Deutsch?«, fragte ich irritiert.</p> <p>Jan verdrehte die Augen: »Natürlich kann sie Deutsch, aber als echter Gentleman …« Er sprach nicht weiter, sondern blätterte wieder in seinem Wörterbuch: »Also was jetzt: <span lang="fr-FR" xml:lang="fr-FR"><span>la suivante</span></span> oder <span lang="fr-FR" xml:lang="fr-FR"><span>la prochaine</span></span>?«</p> <p>Elli und ich antworteten gleichzeitig: »<span lang="fr-FR" xml:lang="fr-FR"><span>La suivante</span></span>«, sagte er, ich hingegen: »<span lang="fr-FR" xml:lang="fr-FR"><span>La</span></span><span lang="fr-FR" xml:lang="fr-FR"><span> prochaine.</span></span>« Jan verzog das Gesicht.</p> <p>»Und wie soll ich den Saal verlassen, ohne dass ich mich auf dem Weg nach draußen hundert Mal für meine Unpässlichkeit entschuldigen?«, fragte Elli. Jan dachte kurz nach und blätterte dann wieder in seinem schlauen Büchlein, als ob er darin die Antwort auf Ellis Frage finden könnte: »<span lang="fr-FR" xml:lang="fr-FR"><span>La fenêtre</span></span>!«, rief er schließlich und zeigte Richtung Bühnenaufgang: »Zwischen Treppe und Podium ist ein abgedunkeltes Fenster«, erklärte Jan auf unsere entgeisterten Blicke hin: »Auf diese Weise kommst Du zwar nicht an der Garderobe vorbei, aber die paar Schritte bis zum Gästehaus überlebst Du auch ohne Mantel.«</p> <p>So machten wir es. Wir, wohlgemerkt! Elli und ich sprangen durch das kleine Fenster nach draußen in den weichen Schnee und Jan reichte uns die Flöte, ein kleines Köfferchen, einen zusammenklappbaren Notenständer und ein paar Notenblätter heraus, die ich für Elli entgegennahm.</p> <p>»<span lang="fr-FR" xml:lang="fr-FR"><span>Allez vite, allez vite, mes amis</span></span>«, rief Jan uns nach, bevor er das Fenster hinter uns schloss.</p> <p>Ganz ungeschoren kamen wir jedoch nicht davon, denn als wir über den verlassen geglaubten Parkplatz eilten, stießen wir unversehens mit einem Offizier zusammen. Ein älterer Jahrgang aus dem Sanitätskommando. Schlohweiße Schläfen, tiefe Geheimratsecken, fahle Pergamenthaut, schmale Lippen und ein berechnender strenger Blick. Wir grüßten hastig und wollten gleich weiter, doch der Alte hielt uns mit einer gebieterischen Geste auf: »Sie sind also der junge Luv?« Mich schien er gar nicht wahrzunehmen, zeigte dafür aber umso mehr Interesse an Elli, dessen erstaunter Blick mir jedoch verriet, dass ihm der Offizier ebenso fremd war wie mir.</p> <p>Eliot wollte etwas erwidern, wurde jedoch unterbrochen, eher er auch nur ein Wort sagen konnte: »Oberstarzt Schwäher«, stellte sich der Fremde nun vor und nahm Ellis Hand. Den Lakaien, der den Flötenkoffer trug, würdigte er keines Blicks.</p> <p>»Der Sohn von Generalarzt Lysander Josef Luv«, stellte Schwäher mit einem zweifelnden Unterton in der Stimme fest. Er gab Eliot jedoch weder die Gelegenheit, diese Zweifel aus der Welt zu räumen, noch sie zu bestätigen: »Sehr erfreut, sehr erfreut Ihre Bekanntschaft zu machen«, fuhr er stattdessen fort: »Der werte Herr…?« Schwäher stockte, während seine Augen Eliots Ausgehgarnitur nach einem Rangabzeichen absuchten.</p> <p>»Oberfeldwebel«, kam Eliot ihm zuvor, doch ich spürte Trotz in seiner Stimme.</p> <p>»Der werte Herr Oberfeldwebel, jawohl, Oberfeldwebel Luv also«, fuhr der Alte fort: »Ihr Spiel war beeindruckend!« Trotz der schmeichelhaften Worte lag ein Vorwurf in Schwähers Stimme: »Ich kannte ihren Vater« erzählte er weiter: »In seinem Verlag erschienen 1981 und 1983 die ersten beiden Bände meines medizinischen Propädeutikums für die wehrmedizinische Forschung. Außerdem bin ich ein Kenner und Verehrer seiner Schriften – selbst seine Handnotizen habe ich allesamt gelesen. Als man mir während der Vorführung zuflüsterte, dass es sich bei dem Flötensolisten um Lysanders Kronprinzen handeln sollte, wollte ich es zuerst nicht glauben. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Es ist nur …« Er suchte nach den richtigen Worten: »Ich hätte mehr von Ihnen erwartet«, kam er schließlich zum Punkt. Ellis Gesichtszüge verhärteten sich, er erwiderte jedoch nichts. Deswegen trat ich vor und bat den Oberstarzt, uns zu entschuldigen. Nun erst schien er, Notiz von mir zu nehmen.</p> <p>»Moment«, sagte er und musterte mich eindringlich: »Sie kenne ich doch auch! Sie sind Hauptmann Wilhelm Fenner! Ich habe über Ihre Erfolge in Oslo gelesen!«</p> <p>»In Oslo gab es keine Erfolge«, korrigierte ich ihn.</p> <p>»Doch, doch«, meinte er nun wiederum, mich korrigieren zu müssen: »Man erzählt es sich überall. Der Sieg des eisernen Willens und treuer Kameradschaft. Außerdem, wenn man Ihre Erfolge in den Vorjahren betrachtet – Ihre Siege in der Schweiz, Österreich, Frankreich und in der Heimat, dann sind Sie doch ein wahrer Held.«</p> <p>Ich ging jedoch nicht darauf ein, sondern bestand auf meiner Eile und suchte nach einem förmlichen, aber nachdrücklichen Abschiedsgruß zusammen mit Elli das Weite. Wir rannten über den von Winterreifen, Schneeketten und Stiefeltritten weiß planierten Parkplatz und über die unter knietiefen Schneemassen begrabene Wiese zum Gästehaus, als Elli plötzlich prustend innehielt: »Es stimmt, was er sagt. Du bist ein Held. Jedenfalls macht die Presse einen aus Dir und ich spreche nicht nur vom bundeswehrinternen Wochenblatt, sondern von den Berichten der Sportmagazine und von den Kurzmeldungen in den großen deutschen Zeitungen.«</p> <p>Obwohl es mir gefiel, dass er sich anscheinend über mich informiert hatte oder zumindest im Zuge seiner Recherchen als Lakai des Ministeriums über meinen Namen gestolpert war, zuckte ich nur mit den Schultern. Ich hatte kein klares Bild von der Person Wilhelm Fenner, von der die Zeitungen so viel zu berichten wussten. Als ich vor fünfzehn Jahren auf diesen Namen getauft wurde, hatte er schon keinerlei Bedeutung für mich und auch die Titel und Auszeichnungen, die sich im Laufe der Jahre wie Krangel in einem Seil daran festhefteten, waren für mich nur leere Worthülsen: Gebirgsjäger, Hauptmann, Heeresbergführer oder irgendein anderer interessant klingender, letztlich aber bedeutungsloser Zusatz.</p> <p>Ich war bereits dreizehn Jahre alt, als ich auf meinen Namen getauft wurde. Es war mitten in der Nacht und ich kannte weder den Mann, der meinen Namen mit einer altmodischen Schreibmaschine auf meiner Abstammungsurkunde verewigte, noch die Frau, die mich in diese unwirkliche kleine Hütte inmitten der weitläufigen Rigaer Außenbezirke gebracht hatte.</p> <p>»Wie möchtest Du denn heißen, Kind?«, fragte mich der fremde Mann und schenkte mir ein freundliches Lächeln. Ich begriff zwar, dass er sich große Mühe gab, mich nicht weiter zu verstören, und es gut mit mir meinte, brachte aber dennoch kein Wort über meine Lippen. Tomos grausamer Todeskampf und seine Schreie saßen mir noch lähmend in Fleisch und Knochen.</p> <p>»Sag uns einfach einen Namen, den ich mit meiner Schreibmaschine für Dich aufschreiben kann«, fuhr der Mann in seinem mit einem starken russischen oder lettischen Akzent belegten Deutsch fort und streichelte mir mitfühlend über den Kopf, während die fremde Frau langsam nervös zu werden schien und unruhig in der Stube auf und ab lief. Ich hatte meine Sprache noch immer nicht wiedergefunden, sondern versuchte lediglich, die Situation zu begreifen.</p> <p>»Wilhelm wäre doch ein schöner Name«, schlug der Mann schließlich vor und lachte mir zu: »Möchtest Du Wilhelm heißen? Ich glaube, der Name würde gut zu Dir passen. So hießen schon viele Könige und Kaiser.« Ich wollte nicht Wilhelm heißen. Wer würde das schon wollen? Doch ich schaute nur unschlüssig zwischen den beiden Erwachsenen hin und her und schwieg. Alle meine Gefühle und Gedanken drehten sich um Tomo, den ich irgendwo draußen auf den Feldern zurückgelassen hatte. Als die Frau ungeduldig an den Vorhängen zupfte und ängstlich nach draußen spähte, legte der Mann, ohne länger auf meine Antwort zu warten, seine Finger auf die Tasten der Schreibmaschine und begann zu tippen. Klack, klack, klack hämmerten die kleinen Eisenstempel auf das weiße Blatt Papier und hinterließen dabei eine schwarze Spur aus zierlichen Buchstaben: Wilhelm.</p> <p>»Einen Nachnamen haben wir auch schon für Dich: Fenner. Ein schöner Name, nicht wahr? Und sehr selten«, raunte mir der Mann zu und hämmerte wieder in die Tasten. Mit einem letzen Klack, Klack, Klack tippte er noch Datum, Ort und die Namen meiner angeblichen leiblichen Eltern, bevor er das Amtsformular mit einem schnurrenden Geräusch von der Schreibmaschinenrolle riss: »Guten Abend, Wilhelm Fenner.« Die Frau brachte mir ein Glas Wasser, das ich dankbar annahm und gierig austrank. So wurde ich mit einem Schluck Leitungswasser auf den Namen Wilhelm Fenner getauft. Meine Erinnerung endet jedoch an dieser Stelle und setzt erst wieder ein, als plötzlich ich vor einem großen, schwarzen Eisentor stehe.</p> <p>Im Nachhinein verstehe ich, dass das Waisenhaus ein notwendiges Übel zu meiner Rettung gewesen war, und dass dieser Aktion Monate, wenn nicht gar Jahre der Planung vorausgegangen sein müssen. Vielleicht waren auch geistesgegenwärtiger Opportunismus und eine große Portion Glück mit im Spiel gewesen. Milada hatte jedenfalls alles so geschickt in die Wege geleitet, dass mein kindlicher Verstand überhaupt nicht begriff, was gerade mit mir passierte. Als ehemaliges Mitglied von Meissmanns Ärztestab hatte sie gewusst, dass es wenig Sinn haben würde, die <span>Policijas</span> zu verständigen oder mich einfach aus dem Institut zu entführen. Das Einzige, was sie für mich hatte tun können, war mir einen Namen zu geben, mich in ein Waisenhaus zu stecken und die in Lettland ansässigen deutschen Behörden auf mich aufmerksam zu machen.</p> <p>Laut meiner gefälschten Papiere war ich der Sohn eines Anfang der sechziger Jahre im Osten vermisst gegangenen Wissenschaftlerehepaars und die Leitung des Waisenhauses bestätigte, dass ich mein ganzes Leben in ihrer Obhut verbracht hatte. Die Zeit bis zu meiner Übersiedelung nach Deutschland, wo ich von Pflegeeltern aufgenommen wurde, waren für mich jedoch der reinste Alptraum. Im Waisenhaus war ich plötzlich einer von vielen anstatt der Prinz des Instituts und jeder meinte, mir Vorschriften machen zu müssen, nicht nur die Aufseher und Hauswirtschafter, sondern auch die älteren Kinder. Nur wenige sprachen Deutsch und es gab einen strikt durchgeplanten Tagesablauf.</p> <p>Als man mir damals gesagt hatte, man bringe mich zu den anderen Kindern, hatte ich gehofft, dass sie mich zu Tomo brächten. An den Ort, von dem Tomo jede Nacht zu mir gekommen war. Aber damals wusste ich noch nicht, wie viele Kinder es auf der Welt gab und dass es mehr als unwahrscheinlich war, Tomo jemals wiederzusehen. Erst Oheim mischte die Karten der Wahrscheinlichkeit für mich neu, als er mir erklärte, dass die Welt klein und die Wahrscheinlichkeit, einander wiederzubegegnen, groß sei.</p> <p>Inzwischen ist der Name Wilhelm Fenner erwachsen geworden und ein gefundenes Fressen für alle Redakteure, denen die undankbare Aufgabe zufällt, die Randspalten der Zeitungen mit Kurznachrichten zukleistern zu müssen. Es ist immer das Gleiche: mein Name mit ein paar Ziffern hintendran – Platzierungen, Rekordzeiten, Wegstrecken, Spitzengeschwindigkeiten, Höhenmeter, Alter, Bataillonsnummer und so weiter. Zuletzt war es Oslo, davor waren es andere Austragungsorte.</p> <p>»Ich habe auch von Eurem Oslo-Siegeszug gelesen und ein Bild von Dir in der Zeitung gesehen«, fuhr Elli fort. Ich wusste, von welchem Bild er sprach: das verfrühte Siegeswehen der deutschen Fahne vom ersten Wettbewerbstag. Es war anscheinend das einzige Bild, das der Presse zur Verfügung stand. Es wiederholte sich in jedem Artikel. Ich kenne sie alle, denn Falk hat sie gesammelt, um sie über unserem Stammtisch im Mannschaftsheim an die Wand zu pinnen, wo ein, zwei Mal die Woche das Plenum unserer Stabsabteilung tagt – beengt und stickig, aber immer sehr kreativ und ergiebig.</p> <p>»Du sahst auf dem Foto sehr unzufrieden aus«, fügte Elli hinzu, verbesserte sich jedoch sogleich: »Nein, nicht unzufrieden, eher betrübt. Ein trauriger Blick aus Einsamkeit, Verlorenheit und einer verstiegenen Uneinigkeit mit allem außer Dir selbst.«</p> <p>Ich konnte über Ellis tiefenpsychologische Analyse aufgrund eines unglücklich belichteten Augenaufschlags nur herzlich lachen und klärte ihn auf, dass ich einfach nicht fotogen sei. Er stieg jedoch nicht in mein Lachen mit ein, sondern nickte nur nachdenklich und stapfte weiter durch den Schnee Richtung Gästehaus. Ich war kurz unschlüssig, stiefelte ihm dann aber doch rasch hinterher.</p> <p>Als wir endlich den schmalen und dunklen Hausflur von Eliots Unterkunft betraten, klopfte er unverzüglich den Schnee aus seinen Hosenbeinen und zückte ein Taschentuch, um damit seine Schuhe trocken zu tupfen. Ich trampelte hingegen einfach mit meinen schweren Bergstiefeln ein wenig auf dem Schneegitter herum und schmirgelte das robuste Obermaterial an den rauen Borsten der Fußmatte sauber. Als Ellis Blick auf mein klobiges Schuhwerk fiel, runzelte er amüsiert die Stirn und schüttelte den Kopf. Ich hob verteidigend die Hände und schob dem Wetter die Schuld für meine Aufmachung in die Schuhe. Die Prognose für das Starnberger Seenland habe zu festem Schuhwerk geraten. Eliot nickte schmunzelnd und machte sich an den Vorstieg in den zweiten Stock. Seine halbhohen Schnürschuhe klapperten dabei leise auf den Holzdielen. Ich schlich auf meinen quietschenden Gummisohlen hinterher.</p> <p>Eliots Zimmer lag am Ende eines labyrinthartig verwinkelten Flurs und war mit einem störrischen Türriegel verschlossen. Er benötigte mehrere Versuche, bis der Schlüssel endlich griff und sich im Schloss drehen ließ. Als die Tür dann endlich aufsprang, schlüpfte ich schnell an ihm vorbei, machte Licht, durchmaß den Raum mit langen Schritten, legte den Flötenkoffer und die Notenblätter auf einen kleinen Beistelltisch ab und ließ mich in den daneben stehenden schweren Ohrensessel fallen. Ich bin durch Falks harte Schule gegangen und weiß, wie man sich aufdrängt.</p> <p>Eliot schaute mich verdutzt an: »Tut mir leid, dass ich Dich in die Sache mit reingezogen habe, aber ich möchte Dich nicht unnötig aufhalten.«</p> <p>Ich versicherte ihm, dass ich froh war, der Feier für eine Weile entkommen zu sein, und ließ mich ein wenig tiefer in den Sessel sinken. Auf sein Fieber konnte ich keine Rücksicht nehmen. Eliot ergab sich seinem Schicksal, schloss die Tür, zog einen Rucksack unter dem Bett hervor und reichte mir eine Dose Limonade: »Ich habe zum Glück immer eine eiserne Reserve an Flüssignahrung vorrätig.« Er bediente sich ebenfalls an seinem Getränkevorrat und zeigte auf das Etikett, auf dem der Hersteller mit einer Liste von Vitaminen für sich Werbung machte: »Damit bin ich bald wieder auf den Beinen.«</p> <p>Skeptisch beäugte ich den bunten Dosenaufdruck und bezweifelte, dass dieser Punsch aus künstlichen Farben und Aromen zu Ellis Genesung beitragen würde. Er könne bereits von Glück reden, wenn sie ihn nicht umbrächte.</p> <p>»Ach!« Elli machte eine abfällige Handbewegung: »Was bedeuten schon Worte wie ›künstlich‹ oder ›natürlich‹. Für mich ist ein künstliches Produkt lediglich eine verbesserte Version der Natur.«</p> <p>Ich zog meine Augenbrauen zusammen. Seine Logik leuchtete mir nicht recht ein.</p> <p>»Die Zeiten der Jäger und Sammler sind vorbei«, klärte mich Elli auf: »Glücklicherweise sind die Menschen bereits vor Urzeiten auf die Idee gekommen, die Natur nach ihren Nöten zu formen, indem sie zum Beispiel Land bestellten und aus den Erträgen Brot und Marmelade herstellten.«</p> <p>Er spreche von Landwirtschaft und Marmelade wie von einer Auflehnung gegen die Gesetze der Natur, wunderte ich mich.</p> <p>»Aber genau das ist es ja auch. Und das ist, wozu diese Weiterentwicklung am Ende geführt hat.« Er zeigte auf die Limonadendose: »Alles ist natürlich, selbst das scheinbar Unnatürliche oder Künstliche. Dies alles sind nur verschiedene Zustände der Natur und wir sind als Teil dieser Natur genauso wie alle anderen Lebewesen auf diesem Planeten dazu berufen, sie nach unseren Wünschen und Nöten zu formen.« Er öffnete die Dose und trank einen großen Schluck. Die unverwüstliche Selbstsicherheit, mit der er seinen Irrtum vertrat, imponierte mir. Ich fragte ihn, ob seine Theorie auch ökologischen Raubbau und nukleare Zerstörung miteinschließe.</p> <p>»Selbstverständlich«, antwortete er, ohne zu zögern: »Nur, nenn es nicht Raubbau und Zerstörung, sondern einfach Veränderung. Hat sich der Mensch erst einmal selbst vernichtet, wird eine andere Spezies an seine Stelle treten. Von einem übergeordneten Blickwinkel aus betrachtet spielt es keine Rolle, ob dieser Planet von Menschen, Bakterien, Dinosauriern oder freischwebenden Isotopen beherrscht wird.«</p> <p>Das hieße wiederum, dass Hungersnot, Ausbeutung und Krieg ebenfalls natürliche Zustände wären, gab ich zu bedenken.</p> <p>»Schon«, gab er zu, »aber es gibt andere, ebenfalls natürliche Zustände, die den von Dir genannten vorzuziehen sind.«</p> <p>Ich verlangte eine Erklärung für diese scheinbar willkürlichen Vorlieben.</p> <p>»Hunger, Ausbeutung und Krieg sind ungerecht und verursachen großes Leid«, argumentierte er: »Man muss bei der Bewertung von verschiedenen Zuständen immer die Summe des dabei entstehenden Leids in Betracht ziehen.«</p> <p>Die Kette seiner Argumentation schien mir nicht ganz schlüssig. Ich fragte, woraus sich diese moralische Ansicht ableiten lasse?</p> <p>»Das habe ich im Gespür«, war seine denkfaule Antwort. Ich lachte und warf ihm vor, zu sehr mit dem Herzen zu denken.</p> <p>»Pragen sagt, dies sei meine Stärke«, rechtfertigte er sich schließlich.</p> <p>Wenn Pragen das sagte, konnte ich schlecht widersprechen. Deswegen nickte ich nur und prostete ihm versöhnlich zu. Als ich jedoch die Dose an meine Lippen hielt, kniff ich reflexartig die Augen zusammen und zuckte erschrocken zurück. Die aus dem Getränk aufsteigenden Luftblasen prickelten auf meiner Haut, als ob mir jemand eine Handvoll Schnee ins Gesicht geworfen hätte.</p> <p>Eliot wartete ab, ob ich den Schluck überleben würde, und setzte sich, als ich außer Lebensgefahr war, zu mir und begann mit der Reinigung seiner Flöte. Aus sicherer Entfernung lauschte ich dem Gluckern und Zischen im Inneren meiner Getränkedose und beobachtete dabei, wie er das Instrument in drei Teile zerlegte und das Kondenswasser aus dem Kopfstück tropfen ließ, um anschließend alles mit einem langen Stab und einem Baumwolltuch sorgsam trocken zu reiben und zu polieren. Nachdem er die Einzelteile zum vollständigen Austrocknen auf das Innenfutter des Flötenkoffers gebettet hatte, hängte er den Baumwolllappen über den bis zum Anschlag aufgedrehten Heizkörper, kauerte sich wieder auf das gemütliche Polster seines Sessels und nippte an seiner Limonade: »Wie hat es Dich auf unsere Jahresabschlussfeier verschlagen?«</p> <p>Ich versuchte mich damit herauszureden, dass ich Pragens Einladung nicht habe ablehnen können. Elli lachte: »Ja, Pragen, er ist wundervoll, nicht wahr?« Eliot schien das ernst zu meinen, weswegen ich nicht gleich antwortete, sondern eine Weile herumdruckste, bis ich schließlich doch zugab, dass ich Pragen vor allen Dingen anstrengend fand.</p> <p>»Ich mag ihn und Cecilia sehr«, entgegnete Eliot, woraufhin ich mir die Frage nicht verkneifen konnte, wer diese Cecilia eigentlich sei.</p> <p>»Das weiß niemand so genau«, lachte Elli wieder: »Es gibt zwar etliche Spekulationen darüber, in welchem Verhältnis die beiden zueinander stehen, aber ich halte keine davon für wirklich glaubhaft. Sie sind jedenfalls weder miteinander verwandt noch ein Liebespaar, kennen sich aber anscheinend schon seit ihren frühesten Kindheitstagen. Ihre Beziehung ist ein ebenso geheimnisvoller Umstand wie die Tatsache, dass Pragens urkundlicher Vorname auf Kajetan-Lewin lautet, er sich aber stets als Marcus vorstellt. Auch Cecilia nennt ihn so. Ich habe inzwischen allerdings aufgehört, mir den Kopf darüber zu zerbrechen. Trotz dieser Ungereimtheiten ist Pragen in unserer Dienststelle sehr beliebt. In demselben Maße wie Bonn und Köln ihn mit Schikanen und militärbürokratischer Borniertheit triezen, wird er von seinem Münchner Stab geliebt und verehrt. Ich gestehe, ich neige dazu, ihn zu idealisieren und auch ein wenig einen Vater in ihm zu sehen.«</p> <p>Diese unvermittelte Ehrlichkeit erstaunte mich. Ich fragte ihn nach seinem leiblichen Vater.</p> <p>»Lange tot«, antwortete er. Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, doch noch ehe ich ihm meine Anteilnahme kundtun konnte, winkte Elli verächtlich ab: »Bitte kein Beileid, sein Tod hat mich nicht berührt, denn auch zu seinen Lebzeiten hatte es keine Berührungspunkte zwischen uns gegeben. Er war die meiste Zeit dienstlich unterwegs und gab mich in die Obhut meiner Großeltern oder verschiedener Internate und Hauslehrer. Das Einzige, was mich mit ihm verband, waren die Postkarten, die er mir aus allen Winkeln dieser Welt schickte und die neben ein paar unverbindlichen Grüßen bisweilen auch den einen oder anderen Lebensratschlag enthielten.«</p> <p>Ich nickte. Diese Art der Fernerziehung kam mir vertraut vor. Meissmann hatte auch jahrelang lediglich über Grußkarten und Briefe mit mir kommuniziert. Sie hatten jedoch nie mehr als dem jeweiligen Anlass entsprechend zurechtgebogene Standardfloskeln enthalten. Dennoch waren diese Schreiben während meines ersten Jahres in Deutschland das Einzige, woran ich mich hatte festhalten können. Ich war damals mit vierzehn Jahren in die neunte Klasse des Gymnasiums eingeschult worden, hatte viereinhalb Jahre Schulstoff aufzuholen und musste im Jahr darauf die mittlere Reifeprüfung bestehen, um in die Oberstufe aufgenommen werden zu können.</p> <p>Der Direktor der Schule stellte mir dazu die Lehrplanvorgaben des Kultusministeriums zur Verfügung. Vieles davon kannte ich bereits – enzyklopädisches, historisches Wissen und verschiedene sozialwissenschaftliche Themen hatte ich mir über die Jahre hinweg über die Institutsbibliothek, eine Hinterlassenschaft aus einer vorhergehenden Nutzung des Institutsgebäudes als deutsche Schule, angelesen. Milada hatte mir den Schlüssel für die Bibliothek gegeben und ich hatte quer durch den gesamten Buchbestand durchgelesen. Ethik, Deutsch und Sport waren ohnehin kein Problem und auch in den Fächern wie Geschichte, Biologie, Chemie oder Musik konnte ich dem Unterricht, wenn ich mich nicht gerade wegen der schleppenden Geschwindigkeit zu Tode langweilte und wie in Trance auf den Sekundenzeiger der Wanduhr starrte, aufgrund meiner Vorkenntnisse ebenfalls mühelos folgen.</p> <p>Mir fehlten jedoch zwei Fremdsprachen und mit Mathematik und Physik hatte ich bis dahin ebenfalls wenig zu tun gehabt. Meine spärlichen Sprach­kennt­nisse in Nepalesisch, Russisch und Lettisch halfen mir genauso wenig weiter wie mein kleines Einmaleins. Ich lernte Latein an der Kasseler Akademie für alte Sprachen, wo ich trotz der imposanten Klassenstärke von dreißig Schülern der einzige Minderjährige war, und an den Wochenenden besuchte ich die Intensivkurse der Volkshochschule für englische Sprache und Geschichte. Wegen meiner übrigen Bildungslücken – wie die Erwachsenen das unbedingt und ständig beim Namen nennen mussten – nahm mich mein damaliger Klassenlehrer unter seine Fittiche und erteilte mir jeden Tag nach Schulschluss eine private Nachhilfestunde. Kunst hingegen blieb bis zuletzt eine ungelöste Problematik für sich.</p> <p>Eigentlich war ich durch die ganze Lernerei viel zu beschäftigt, um mich unglücklich zu fühlen, aber dennoch plagte mich eine stete Sehnsucht nach dem Institut. Mein Sehnen hatte jedoch keine klare Kontur. Ich vermisste weder die Einsamkeit noch die inhaltsleeren Tage oder die anstrengenden Experimente. Ich denke, ich hatte einfach Heimweh und die unbestimmte und vage Hoffnung, dass eine Rückkehr ins Institut auch ein Wiedersehen mit Tomo bedeuten könnte.</p> <p>Meine Pflegeeltern hatten damals steif und fest behauptet, Professor Meissmann nicht zu kennen, um mich von ihm oder ihn von mir fernzuhalten. Doch ich kam ihnen eines Tages auf die Schliche, als ich zufällig ein Telefonat zwischen meinem Vater und dem Professor belauschen konnte. Es fielen während des Gesprächs zwar keine Namen, doch erkannte ich an der Art, wie sich die Gegenseite nach meinem Fortschritt und Wohlergehen erkundigte, dass es niemand anderes als Professor Meissmann sein konnte. Da unser damaliger Telefonapparat jedoch weder eine Rückruftaste noch eine Wahlwiederholungsfunktion, sondern nur eine einfache Wählscheibe besaß, machte ich mich zunächst auf die Suche nach Professor Meissmanns Telefonnummer. Auf die Idee, mich über das Sanitätskommando der Bundeswehr weiterverbinden zu lassen, kam ich damals nicht und so durchforstete ich heimlich sämtliche Adressbücher, Postschreiben, Ablagefächer und Notizzettel meiner Eltern, bis ich endlich auf einem Schreiben, in dem es um die monatliche Finanzierung meiner Lebenshaltungskosten ging, eine Nummer mit einer seltsamen Vorwahl entdeckte. Es stand kein Name dabei, aber wie sich später herausstellte, war es die Durchwahl von Meissmanns damaligem Sekretariat im Zentrallazarett der Bundeswehr in Koblenz.</p> <p>Ich wartete eine günstige Gelegenheit ab, um unbemerkt bei Professor Meissmann anrufen zu können. Mit zittrigen Fingern wählte ich die Nummer, lauschte ängstlich in die Hörmuschel und zählte das ferne Tuten, bis endlich jemand abnahm und mich mit einem endlosen Schwall aus unzusammenhängenden Phrasen begrüßte: »Bundeswehrzentralkrankenhaus – Koblenz – Zentrale Abteilung – Medizinisches Laboratorium – Neurochirurgie.« So etwas in der Art muss es gewesen sein. Außerdem stellte sich die Stimme am anderen Ende der Leitung mit Dienstgrad und Namen vor und fragte nach, was sie für mich tun könne. Ich war sehr erleichtert, als ich endlich meinen lang geübten Satz in den Hörer flüstern konnte – ich hatte ihn mir extra auf ein Blatt Papier geschrieben, damit ich mich nicht vor Aufregung verhaspelte: »Hier ist Wilhelm Fenner und ich muss dringend den Professor sprechen.«</p> <p>Nach einigem Hin und Her vernahm ich tatsächlich Meissmanns Stimme am anderen Ende der Leitung. Aufgeregt flüsterte ich mein Anliegen in die Sprechmuschel: Ich wollte keine Eltern, die mir morgens ein Schulbrot schmierten, nachmittags meine Hausaufgaben kontrollierten, pünktlich zur Sesamstraße ein Abendbrot mit allen erdenklichen Leckereien auftischten, mich mit warmem Schokopudding oder frisch gebackenen Salzbrezeln überraschten, Freunde zum Spielen einluden, mich zum Schwimmunterricht schickten, mir ein wöchentliches Taschengeld zusteckten und am Wochenende mit mir Ausflüge in den Zoo, in den Wald oder in den Vergnügungspark unternahmen. Das alles machte mir Angst und überforderte mich. Ich wollte einfach nur wieder nach Hause ins Institut, damit alles wieder so sein konnte, wie es immer gewesen war.</p> <p>Meissmann ließ mich geduldig ausreden und hörte aufmerksam zu, bevor er feierlich versprach, sich um mein Anliegen zu kümmern, wenn ich nur brav die Schule besuchen und meinen Abschluss ordentlich absolvieren würde. Zum Zeichen, dass er sein Versprechen halten würde, wollte er sich regelmäßig zu allen heiligen Festen bei mir melden. Ich hingegen musste ihm versprechen, ihn nicht mehr anzurufen.</p> <p>So geschah es. Ich rief ihn nicht wieder an und erhielt fortan zu jedem Weihnachts- und Osterfest sowie zu Mariä Himmelfahrt eine kleine Erinnerung an sein Versprechen. Meistens schickte er mir einfach eine Postkarte mit einem Gruß und seiner Unterschrift. Manchmal hatte er auch ein paar aufmunternde Worte und Ermahnungen parat. Er wünschte mir Erfolg bei den Prüfungen und erinnerte mich daran, dass ich versprochen hatte, mich zu benehmen und in der Schule gute Leistungen zu erbringen. Hin und wieder schickte er mir sogar ein Geschenk: ein Mikroskop mit einem Sammelkästchen verschiedener Gewebepräparate, warme Unterwäsche für die kalte Jahreszeit oder ein Jahresabonnement für die Kammerkonzerte der Musikhochschule.</p> <p>Je älter ich wurde, desto weniger bedeuteten mir Meissmanns Nachrichten, und seine Geschenke trafen ohnehin nie meinen Geschmack. Nachdem ich mich mit meiner neuen Welt arrangiert hatte und mich nicht mehr vor meiner Umgebung fürchtete, verließ mich die Sehnsucht nach einer Rückkehr ins Institut recht schnell. Ich glaubte auch längst nicht mehr daran, dass ich Tomo im Institut wiedersehen würde, sondern hatte inzwischen begriffen, was das Wort ›endgültig‹ bedeutet. Die Sache mit Tomo war endgültig vorbei. Auch das hatte ich inzwischen kapiert.</p> <p>Ich verdrängte Meissmann zunehmend aus meinen Gedanken und aus meinem Leben. Seine Grüße zu den heiligen Festen überflog ich wie die Schlagzeilen der Tageszeitung. Ich untersuchte die Briefumschläge nach Geldscheinen und gab den Rest in die Altpapiersammlung. Umso überraschter war ich, als mich Meissmann an meinem letzten Schultag wie versprochen vor dem Schulgebäude abholte.</p> <p>Sein autoritäres Auftreten duldete keine Widerworte, also stieg ich in seinen Wagen, wo er mir, nun da schon fast ein richtiger Mensch aus mir geworden sei und man sich mit mir endlich vernünftig unterhalten könne, seine Zukunftspläne für mich auseinandersetzte. Nachdem er sich mein Zeugnis durchgelesen und mich für meine guten Leistungen und Auszeichnungen gelobt hatte, redete er mir alles aus, was uns die Berater vom Arbeitsamt nahe gelegt hatten, und riet mir dazu, mich recht schnell in die Armee einzuschreiben. Militärischer Staatsdienst sei ohnehin Bürgerpflicht und mit etwas Geschick, Verstand und Disziplin könne man dort jeden seiner Träume verwirklichen. Da ich keine Träume hatte und ohnehin nichts Gescheites mit meinem Leben anzufangen wusste, Meissmanns Argumentation für den Soldatenberuf hingegen so pragmatisch war wie seine Geschenke zu den heiligen Festen, gab ich recht schnell nach und ließ mich sogar richtiggehend für eine Vereidigung als Offiziersanwärter begeistern.</p> <p>Da sich auch späterhin bei mir keine Träume einstellten, blieb ich in Ermangelung einer besseren Idee auf diesem Weg bis zum heutigen Tag. Das Leben ist so einfach, wenn man keine Träume hat.</p> <p>»Hast Du die Postkarten von Deinem Vater aufgehoben?«, fragte ich nachdenklich.</p> <p>»Ja, denn sie gaben mir das Gefühl, kein Waisenkind zu sein. Ich besitze noch immer die gesamte Sammlung, fast einhundert Stück: Bilder von Eishöhlen, Gletschern, Berggipfeln, Wäldern, Meeren, Küstenstreifen – immer wunderschöne Motive, manchmal sogar in Übergröße. Nur einige der allerfrühesten Exemplare habe ich irgendwann einmal verschlampt.« Nach einem kurzen Zögern ging er zu seinem Nachttisch, holte eine Ansichtskarte mit leicht abgestoßenen Ecken hervor und gab sie mir. Das Motiv auf der Vorderseite zeigte die Dorfgemeinden des Starnberger Sees in einer winterlich gekleideten Landschaft vor den fernen schneebedeckten und eisigen Alpen. Ich drehte die Karte um und las: ›Lieber Sohn, ich wünsche Dir ein beschauliches und friedliches Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr 1981. Bleib weiter brav. Wir sehen uns Ostern. Lys.‹</p> <p>»Mein Vater war, wenn es um Themen jenseits seines wissenschaftlichen Spezialgebiets ging, kein Mann großer Worte«, erklärte Eliot: »Ich verstehe bis heute noch nicht, wie dieser fantasielose Mensch meine Mutter vor den Traualtar komplimentiert haben soll. Womit hat er sie betört und umgarnt? Mit chemischen Formeln, seinen monatlichen Fachartikeln in der Lanzette oder einem deutschen Pass?« Als er bemerkte, wie er sich ereiferte, bändigte er seinen Zorn: »Dafür freuten mich die schönen Landschaftsbilder umso mehr. Als ich hörte, dass wir unsere Jahresfeier am Starnberger See abhalten würden, durchsuchte ich meine Sammlung nach einer Postkarte von der hiesigen Umgebung und nahm sie mit, um die Wirklichkeit mit der Fiktion zu vergleichen. Ich erkenne jedoch nichts wieder. Ich schätze, es hat sich zu viel verändert, seit mein Vater vor nun bald zwanzig Jahren hier gewesen war.«</p> <p>Ich legte die Postkarte auf dem kleinen Tisch zwischen uns ab und erklärte Eliot, dass sich die Zeiten so schnell doch nicht ändern würden und dass ich teilweise Routenbeschreibungen und Kletterführer verwendete, die vor mehr als zwanzig Jahren geschrieben wurden, deswegen aber noch lange nicht ausgedient hätten. Selbst hundert Jahre alte Tourenbücher von Bergsteigern und Naturwissenschaftlern beschrieben dieselben Formationen, die in unveränderter Würde auch heute noch über uns thronten. Es sei bisweilen sogar fast schon unheimlich, erzählte ich weiter, wenn man einen Mauerhaken finde, der hundert Jahre zuvor in die Wand geschlagen worden sei.</p> <p>Ich zeigte ihm auf der Postkarte das Karwendelgebirge, zu dessen Füßen die Garnisonsstadt meines Gebirgsjägerbataillons lag, und die Bayerischen Voralpen mit ihren schrulligen Namen: Rabenkopf, Herzogstand, Jocheralm, Heimgarten. Weiter westlich im Wettersteingebirge lagen die fast dreitausend Meter hohe Zugspitze mit ihren Nebengipfeln und der nur geringfügig niedrigere Hochwanner. Eliot nickte, ging nochmals das gesamte Alpenpanorama von links nach rechts durch und wiederholte dabei die Namen der Gipfel. Ich garantierte ihm, dass es sich bei den Bergen vor seinem Fenster um dieselben Höhenzüge handelte, die sein Vater 1980 hier vor Augen gehabt hatte. Er könne sich gleich am nächsten Morgen davon überzeugen. Er brauche dazu nur Richtung Süden zu schauen.</p> <p>Eliot lachte und warf die Postkarte wieder in die Schublade seines Nachttischs wie etwas, das nicht zu ihm gehörte. Die Geste war ebenso zynisch wie sein Lachen und ich war mir nicht sicher, ob er damit sich selbst meinte oder mich.</p> <p>»Ich hatte mir vorgenommen, einmal all die Orte zu bereisen, die ich nur von Postkarten her kannte. Vielleicht sogar gemeinsam mit meinem Vater. Lysander hielt das auch für eine gute Idee, verschob es aber immer auf später, bis es zu spät war und er mich durch seinen plötzlichen Tod zu einer Vollwaise machte.« Eliots Tonfall klang noch immer zynisch, aber sein Gesichtsausdruck war betrübt. Ich erlaubte mir die Frage, was zu dem verfrühten Tod seiner Eltern geführt habe.</p> <p>»Mein Vater hat immer behauptet, dass meine Mutter eines Tages ohne große Vorankündigung beschlossen habe, zu sterben. Man sollte von einem Mediziner eine wissenschaftlichere Erklärung erwarten, aber in diesem Fall hat er es sich ausnahmsweise sehr einfach gemacht. Ich glaube, sie starb an einer unglücklichen Mischung aus Heimweh und der Sehnsucht nach einem ihr ewig vorenthaltenen Europa. Dabei war sie trotz ihrer japanischen Abstammung europäischer als jeder Europäer. Leider hat sie Europa nie kennengelernt, nur Lettland.«</p> <p>Ich fand, dass man Lettland durchaus zu Europa rechnen könne.</p> <p>»Kann man nicht«, korrigierte mich Eliot, »wenn man neben seiner Muttersprache fließend Deutsch, Englisch und Französisch spricht. Ich bin mir sicher, dass meine Mutter ein anderes Europa im Sinn gehabt hatte, als sie ihre Heimat verließ, um meinem Vater in den Westen zu folgen.«</p> <p>Ich verstand seine Einwände und vermied, das Thema zu vertiefen. Wir hatten genug über Lettland geredet. Ich fragte ihn stattdessen, woran sei Vater gestorben sei.</p> <p>»An seinem Beruf. Ein Laborunfall. Vor ungefähr sechs Jahren. Es gab ein großes Feuer. Nicht einmal sein Leichnam konnte geborgen werden, aber er hat dennoch ein Staatsbegräbnis bekommen und wurde zudem posthum in den Rang eines Generalarztes gehoben«, antwortete Eliot knapp, aber wahrscheinlich gab es da auch nicht viel mehr zu erzählen. Auf meine Frage, ob sein Generalvater ihn zum Militärdienst genötigt habe, antwortete er mit einem belustigten Nein: »Er weiß überhaupt nichts von meiner Karriere als Lakai des Ministeriums, wie Du das gerne zu nennen pflegst, und hätte dies sicherlich nicht befürwortet. Er hat allerdings nie wirklich etwas zu meiner Erziehung beigetragen, außer grob die Richtlinien vorzugeben. Er wollte, dass ich ein naturwissenschaftliches Fach oder Medizin studiere. Um ihn zu ärgern, schrieb ich mich dann in die Fächer Germanistik und Soziologie ein.«</p> <p>Eine boshafte Entscheidung, wie ich fand. Obwohl ich seine Beweggründe verstand, kam ich nicht umhin, ein wenig Mitleid mit seinem Vater zu empfinden.</p> <p>»Ja«, pflichtete er mir sofort bei: »Ich war ein schlechter Sohn, aber da mein alter Herr ein mindestens ebenso schlechter Vater war, fällt mein Verstoß gegen das fünfte Gebot wohl nicht groß ins Gewicht.«</p> <p>Dieses simple Aufwiegen von Sünden klang selbst in den Ohren eines Atheisten nach einer Milchmädchenrechnung, aber viel mehr als Ellis Sündenregister interessierte mich, wie sein Vater die rebellische Studienwahl aufgenommen hatte.</p> <p>»Relativ gleichmütig«, antwortete er: »Sein distanzierter Umgang mit allem, was mich betraf, gehörten ohnehin zum Luvschen Standardprotokoll. Daran vermochte auch meine Studienwahl nichts zu ändern.« Ellis Stimme klang deprimiert. Vielleicht war es aber auch nur der Kampf seines Immunsystems gegen die feindlichen Invasoren, der seiner Stimme diesen schwermütigen Klang verlieh. Ich fragte ihn, wie es nach dem gescheiterten Putsch gegen die Gleichgültigkeit seines Vaters weitergegangen sei.</p> <p>Eliot lächelte: »Nach dem Tod meines Vaters war ich ziemlich orientierungslos und habe zeitweise sogar mit dem Gedanken gespielt, ernsthaft mit dem Trinken anzufangen. Ich ließ das Studium schleifen, um stattdessen jeden neuen Tag mit einer Flasche Rotwein zu feiern, Flöte zu spielen und Voltaire zu lesen. Nachdem ich für das Studentenwohnheim untragbar geworden war, suchte ich mir eine Einzimmerwohnung in einem ruhigen Wohnviertel am Rande der Stadt, wo ich mich abseits jeglichen gesellschaftlichen und akademischen Verpflichtungen in meiner Einsamkeit suhlen konnte. Ich richtete mich dort jedoch nie häuslich ein, sondern verzichtete auf Möbel und sonstigen Hausrat, damit sich der Klang meiner Flöte frei in den leeren Räumen entfalten konnte. Ich verkaufte sogar alle meine Bücher und riss den Teppichboden von den Holzdielen, alles für eine bessere Raumakustik. Neben der Totentafel meiner Mutter und der Postkartensammlung behielt ich nur eine Handvoll Kleider zum Wechseln und eine Matratze zum Schlafen. Bücher lieh ich bei der Stadtbibliothek, die Küche blieb meistens kalt. Ich gab mein Geld hauptsächlich für teure Weine und Notenbände aus. Die Notenbände kaufte ich jeweils doppelt, riss die Seiten heraus und tapezierte damit meine Wände. So musste ich beim Spielen niemals mehr eine Seite umblättern. Meine Flöte war mein bester Freund und mein einziger. Sie schlief nachts in einem mit schwarzem Samt ausgeschlagenen Sarg, den ich günstig über eine Kleinanzeige in der Sonntagszeitung erstanden hatte – eine ausgediente Bühnenrequisite von einer kleinen Theatergruppe, nichts Morbides also. Das unbehandelte Holz roch sogar noch nach frischem Harz. Ich hatte mir immer vorgenommen, ihn schwarz zu streichen, aber dazu kam es nie.« Eliot biss sich auf die Lippen und starrte auf das schwarze Fensterglas. Ich folgte seinem Blick und betrachtete unser verzerrtes Spiegelbild, das die nebligen Lichter der Winternacht überlagerte. Wir schwiegen eine Weile, bis ich ihn schließlich mit meiner Frage, wieso es am Ende nicht zu dem geplanten Farbanstrich gekommen sei, aus seinen Gedanken riss.</p> <p>»Ich verließ das Haus nur noch, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ. Anstatt die ausgeliehenen Bücher in die Bibliothek zurückzubringen, las ich sie einfach noch einmal von vorne und an manchen Tagen ging ich selbst dann nicht vor die Tür, wenn ich nichts mehr zu essen im Haus hatte. War das Brot alle, trank ich eben Wein. Erst wenn der ebenfalls leer war, wagte ich mich nach draußen, in die feindliche Welt. Die einzige Person, die mich außer dem Verkäufer vom Feinkostladen noch regelmäßig zu Gesicht bekam, war der Musikhändler ein Stück weiter die Straße hoch. Im Erdgeschoss verkaufte er alle möglichen Instrumente, von der Blockflöte bis zum Konzertflügel, aber im Keller hatte er ein riesiges Archiv aus gebrauchten Noten, wo man alles Mögliche finden konnte, ein Einzelstück aus der Kaiserzeit in bestem Zustand oder einen zerfledderten Klassensatz mit einem Schulstempel von nur einem Jahr zuvor. Die Partituren quollen aus den Regalen und stapelten sich auf dem Boden. Ich verbrachte dort viele Stunden. Zu jener Zeit entwickelte ich jedoch eine Licht- und Geräuschempfindlichkeit, die bald so schlimm wurde, dass ich nur noch bei Kerzenschein las und sogar meinen Kühlschrank verkaufte, weil ich das Summen des Motors nicht mehr ertragen konnte. Selbst im Zwielicht trug ich eine Sonnenbrille, und wenn ich schlafen wollte, stopfte ich mir Wachs in die Ohren, um nichts mehr außer meinem Herzschlag zu hören. Ich gewöhnte mir an, tagsüber zu schlafen und nachts zu Flöte zu spielen, Voltaire zu lesen und Wein zu trinken. Bald wurde die Nacht mein Tag und der Tag meine Nacht. Deswegen riss mich der Gerichtsvollzieher, der eines Tages in Begleitung zweier Polizisten in meiner Wohnung auftauchte und kräftig an meiner Schulter rüttelte, mitten aus dem Schlaf. Sie hatte meine Wohnung aufgebrochen, weil ich nicht auf das Läuten reagiert hatte. Man nahm mir meine Flöte ab und sperrte mich, obwohl ich relativ klar bei Verstand war, für den Rest des Tages und die Dauer der darauffolgenden Nacht in eine Ausnüchterungszelle. Der Sarg und die entlang der Fußbodenleiste meines Zimmer aufgereihten leeren Weinflaschen mussten die Polizei zu voreiligen Schlüssen verleitet haben. Als sie mich am nächsten Morgen auf freien Fuß setzten, stand ich auf der Straße. Die über Monate hinweg ungelesene Post hatte anscheinend mehrere Mahnungen wegen Ruhestörung und versäumter Hausordnung enthalten. Mein bescheidener Hausstand befand sich in einer Lagerhalle für Wohnungsauflösungen und konnte dort gegen die Entrichtung einer stattlichen Gebühr abgeholt werden. Ich begnügte mich mit der Postkartensammlung, der Holztafel mit dem Namen meiner Mutter, meinem Instrument und noch ein paar Kleinigkeiten.«</p> <p>Verblüfft schaute ich auf das Instrument, das noch immer zum Trocknen auf dem Koffer lag: »Dieses Instrument?«</p> <p>»Ja, dieses Instrument«, antwortete Elli: »Sie hat auch einen Namen: Amaterasu. Oder um genau zu sein: Kopfstück von Amaterasu, Mittelstück von Amaterasu und Fußstück von Amaterasu. Darf ich bekannt machen, Amaterasu?«, sagte er plötzlich zu seinem Instrument: »Wilhelm Fenner.«</p> <p>Ich grüßte verhalten und fragte Eliot, ob Pragen diesen turbulenten Teil seiner Biografie kannte.</p> <p>»Ja, natürlich«, sagte er zunächst beherzt, setzte dann jedoch abmindernd hinterher: »Vielleicht nicht alle Details, aber er weiß, dass ich mein Studium abgebrochen habe.«</p> <p>Nun musste ich doch über die ganze Geschichte lachen, wunderte mich aber, wieso er mit seinem musikalischen Talent nicht in das Musikkorps der Bundeswehr eingetreten war.</p> <p>»Militärmusikdienst?« Elli strafte mich mit einem strengen Blick: »Meine Flöte ist doch kein Orchesterinstrument. Außerdem besitze ich kein wirkliches Talent, sondern nur eine Art ungestüme Neigung. Ich verhasple mich ständig und versuche, meine Patzer mit Improvisation zu kaschieren. Mein Spiel ist viel zu chaotisch für die strengen Fesseln der Militärmusik. Amaterasu versteht sich auch nicht besonders gut mit Oboen, Klarinetten oder gar anderen Flöten. Nein, ich möchte auch die Stimmen spielen dürfen, die gemäß der klassischen Orchesterbesetzung anderen Instrumenten vorbehalten sind. Ich möchte allegro spielen, auch wenn die Partitur andante vorgibt, und umgekehrt. Morendo statt scherzando. Forte statt diminuendo al niente. Und manchmal möchte ich auch einfach gar nicht spielen.«</p> <p>Ich nickte. Obwohl ich noch immer wie ein Blinder vor seinem Gemälde stand, glaubte ich, das Wesen seines Spiels nun ein klein wenig besser zu verstehen. Ich fragte, was ihn zu seiner Berufswahl veranlasst habe wenn nicht die vorbildliche Karriere seines Vaters oder die Aussicht auf einen Platz in unserem Blasorchester.</p> <p>»Kornbluth, der Anwalt und Nachlassverwalter meines Vaters, hat mir damals ordentlich die Leviten gelesen und mich zur Armee geschickt«, erklärte Elli: »Er war damals mit der Regelung aller Erbschaftsangelegenheiten betraut und da war ich eben ein Teil davon. Mein Vater schürte mit unzähligen Eisen in mindestens ebenso vielen Feuern. In Berlin hatte er einen Verlag gegründet, um seine Werke kostengünstiger publizieren zu können, während er sich gleichzeitig Aktien eines medizinischen Monatsjournals sicherte, wo er gelegentlich auch eine Rolle als Autor oder Mitherausgeber spielte. Er besaß mehrere Wohnungen und unterhielt einen Sonderforschungsbereich an der damals noch sehr jungen Konstanzer Universität. Ich bat Kornbluth, alles aufzulösen, abzustoßen, zu verkaufen und mir den Erlös auf ein einfaches Sparbuch gutzuschreiben. Ich wollte mit dem ganzen Gerümpel nichts zu tun haben. Gesagt, getan. Das Einzige, was sich nicht so einfach in Bares umwandeln ließ, war Lysanders Dauerleihgabe an den Forschungsbetrieb der Konstanzer Akademie für Biochemie. Dieser Kredit wurde in einen Stiftungsfond umgewandelt, aus dem die zugehörigen Fakultäten nun Stipendien, Seminare und Kleinprojekte finanzieren können. Die zugehörige Stiftung trägt den unglücklichen Namen ›Luv und Söhne‹. Dabei bin ich sein einziger Sohn. Trotz Kornbluths väterlichen Rats, nur den Grundwehrdienst als Läuterung abzuleisten, um anschießend mein Studium wiederaufnehmen zu können, habe ich mir von meinem Wehrberater einen Zeitvertrag aufschwatzen lassen und ging zu den Fernspähern.« Elli machte eine wegwerfende Handbewegung, zuckte mit den Schultern und erzählte weiter, dass er sich bereits während seiner Zeit als Schütze mit Jan angefreundet und sein altes Leben bald weit hinter sich zurückgelassen habe. Der militärische Drill habe ihm den Rotwein ersetzt und Jan den Voltaire. Nur die Flöte habe ihn weiterhin und unverändert begleitet. Kornbluth hätte damals seine Entscheidung für die Armee zwar sehr bedauert, sei aber dennoch freundschaftlich mit ihm verblieben und kümmere sich noch heute sowohl um sein Wohlergehen als auch um seine Einkünfte und Barschaften sowie alle behördlichen, vertraglichen und rechtlichen Angelegenheiten.</p> <p>Als ich ihn fragte, wie es ihn letzten Endes zum Abschirmdienst verschlagen habe, war er allerdings um eine Antwort verlegen. Pragen habe ihm damals das Gefühl gegeben, sagte er nachdenklich und griff nach der kleinen Goldnadel an seinem Jackenkragen, dass es auf der Welt nichts Seligeres gäbe, als im Münchner Geheimstab dienen zu dürfen. Er habe damals sogar seine Kameraden aus der Hammelburger Scharfschützeneinheit versetzt, wo er bereits für die Besetzung eines begehrten Ausbilderpostens vorgesehen gewesen war. Seine damaligen Ausbilder und Vorgesetzten hätten diese Entscheidung zutiefst bedauert, doch er habe sich nicht umstimmen lassen.</p> <p>»Wenn man die verschiedenen Etappen meines Lebens betrachtet, muss man mich für einen Volltrottel halten.« Eliot schaute mich an, als ob er mir eine Frage gestellt hätte.</p> <p>»Ein wenig schon«, gab ich zu, behielt jedoch für mich, wie sehr ich ihn mochte und dass er mir durch sein Bekenntnis nur noch mehr ans Herz gewachsen war. Wir mussten beide lachen und ich nutzte die ausgelassene Stimmung, um die neugierige Frage nach seiner genauen Tätigkeit beim Abschirmdienst loszuwerden.</p> <p>»Laut der Tätigkeitsbeschreibung in meiner Personalakte: allgemeine Stabsarbeit. Laut unserer Broschüre, die ja in jeder ordentlich geführten Kommandoeinheit der Bundeswehr auszuliegen hat: personelle, organisatorische und materielle Absicherung, Zusammenarbeit mit anderen inländischen Nachrichtendiensten sowie mit ausländischen Sicherheitsbehörden, Observation, Spionageabwehr, Einsatzabschirmung–«</p> <p>Ich fiel ich ihm ins Wort, um die Wiedergabe des Broschürentexts ein wenig abzukürzen, und fragte, was das denn genau heiße, was er den lieben langen Tag so mache.</p> <p>»Du lässt mich ja nicht ausreden«, sagte Elli eingeschnappt und fuhr nach einem kurzen Zögern fort: »Ich gehöre erst seit etwas mehr als einem Jahr zu Pragens Stab und mein Dienstalltag besteht zum einen aus einer ewigen Blutfehde mit dem Getränkeautomaten im Keller unserer Dienststelle, der entweder Pappbecher oder Getränke – selten beides zusammen – ausspuckt, zum anderen aus der Lektüre von Verfassungsschutzberichten, dem Recherchieren von Personendaten, dem Erstellen von Fallakten und was mir Pragen sonst so auf den Tisch legt. Meine Hauptaufgabe besteht dabei aus dem Anfertigen von Randnotizen und Motivationsprofilen, weswegen ich des öfteren einfach nur Berge von Akten, Berichten und Protokollen sichte oder Vorladungen und Befragungen beisitze. Ein klassischer Lakaienjob eben. Du hast sicherlich nichts anderes erwartet.« Obwohl sich mir bei den Worten ›Vorladung‹ und ›Befragung‹ der Magen umdrehte, ging ich nicht weiter darauf ein, sondern fragte nur, was ich mir unter dem Anfertigen von Randnotizen und Motivationsprofilen vorzustellen habe.</p> <p>»Der Versuch, zu erklären, warum wir die Dinge tun, die wir tun.«</p> <p>Ich stellte die Augen. Ich wusste nicht, wovon er sprach, aber es hörte sich wenig berauschend an. Ich fragte, ob ihn das glücklich mache.</p> <p>»Glück?«, lachte Elli: »Wir reden von Glück? Ich dachte, wir reden von meinem Dienstalltag. Glück ist eines der großen Geheimnisse dieser Welt. Selbst Märchen über Kinderfresser, böse Hexen und verzauberte Kröten enden in dem Moment, in dem die Gefahr abgewendet wird und Glück einkehrt. ›Sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage‹, heißt es dann und das war<span><em>’</em></span>s. Ich habe nie behauptet, dass es ein Traumjob wäre, aber in meinem Traumberuf als Dichter waren damals keine Stellen frei.«</p> <p>»Dichter?«, wiederholte ich neugierig. Doch meine Frage machte ihn verlegen. Er schien sogar zu bereuen, überhaupt davon angefangen zu haben. Trotzdem fragte ich weiter: »Du dichtest?«</p> <p>»Eigentlich nicht. Nicht richtig jedenfalls. Nicht das, was man normalerweise unter Dichten versteht«, gab er umständlich zu.</p> <p>»Aber irgendwie doch?«, fragte ich weiter.</p> <p>»Nur kleine Textfetzen«, gestand er schließlich: »Meistens fehlt der Anfang. Oder das Ende. Oder beides.«</p> <p>»Und über was schreibst Du so?«</p> <p>»Über nichts Besonderes. Nur über die kleinen Dinge, die mich umgeben.« Eliot hantierte nervös mit seinen Händen herum und schaute zum Fenster, um mir auszuweichen. Als sich unsere Blicke jedoch in der spiegelnden Fensterscheibe trafen, lächelte er verlegen: »Der Dienst unter Pragens Kommando ist mit Sicherheit keine Poesie, aber im großen Ganzen in Ordnung«, kehrte er zum Thema zurück: »Ich schätze Pragen sehr und teile mir mein Büro mit meinem besten Freund Jan. Mit den richtigen Leuten könnte man zur Not sogar einen Tag im Geschäftszimmer einer Ausbildungskompanie aushalten, ohne vor Stumpfsinn wahnsinnig zu werden.«</p> <p>»Aber nur einen!«, merkte ich an.</p> <p>»Allerhöchstens!«, pflichtete mir Elli aufrichtig bei, bevor er mich mit einem durchdringenden Blick musterte und den Spieß umdrehte: »Jetzt bist Du dran«, sagte er streng. »Wie kam es zu Deinem Faible für Olivgrün? Was waren Deine Sünden? Und Deine Eltern, leben sie noch?« Er schaute mich erwartungsvoll an, während sich meine Gedanken überschlugen. Ich war hin- und hergerissen und wusste nicht, an welche Version meiner Lebensgeschichte ich mich nun halten sollte: An Miladas fantastische Märchenerzählungen über eine Schneeprinzessin, zwei Engel und einen roten Blütenregen inmitten einer ewigen Eislandschaft oder an die eigens für die Akten des Einwohnermeldeamtes lancierten Lügen über das im fernen Osten Europas verschollene Ehepaar Fenner? Eine echte Wahrheit gibt es nicht. Es sei denn tief unten in Meissmanns dunklen Kellern.</p> <p>»Nein«, presste ich nach einer angespannten Schweigeminute schließlich hervor.</p> <p>»Nein? Was nein?«, fragte Elli.</p> <p>»Nein, ich glaube nicht, dass meine Eltern noch am Leben sind«, erklärte ich stockend, fast stotternd, und dachte dabei an die Grabkammer meiner Mutter. Ich habe die Kammer nie betreten, sondern kenne nur die schwere, verriegelte Eisentür und das von innen abgeblendete Sichtfenster aus mit Stahlfäden durchwirktem Panzerglas. Eliot stutze und bat um Entschuldigung für seine Neugierde, doch ich schüttelte nur den Kopf. Zu gerne hätte ich ihm von meiner Mutter und ihrem fernen Königreich aus Eis und Schnee erzählt, da mir diese Geschichte selbst am gegenwärtigsten ist. Doch ich schwieg und Elli verzieh mir mein Schweigen.</p> <p>»Das Gute daran, keine oder nur tote Eltern zu haben«, sagte er plötzlich, »ist, dass man ihnen keinen Kummer mehr bereiten kann.« Er nickte mir auffordernd zu, als bedürfe seine Erkenntnis meiner feierlichen Zustimmung. Obwohl mich der hinter seinem zynischen Trotz versteckte Schmerz mit Bedauern erfüllte, nickte ich. Vielleicht hatte er trotz seiner eigenwilligen Protesthaltung gegen das Schicksal und das Leben am Ende doch ein klein wenig Recht.</p> <p>Elli wechselte das Thema und ging noch einmal im Geiste alle Berggipfel durch, die wir zuvor auf der Postkarte entdeckt hatten. Er zeichnete sie mit vagen Umrissen in die Luft und sagte ihre Namen auf, als wollte er sicherstellen, dass seinem Gedächtnis keiner davon abhandengekommen war. Nachdem er sie alle fehlerfrei aufgesagt und sich selbst Beifall gespendet hatte, fragte er mich, ob ich dort überall schon gewesen sei.</p> <p>Unzählige Male hatte ich die Berggipfel meines Standorts und der Umgebung bereits besucht – allein schon von Berufswegen, aber auch privat. Ich erzählte ihm ein wenig von meiner Mittenwalder Wahlheimat, von der Schönheit und Tücke der Jahreszeiten und davon, wie uns die Berge an ihrem geistigen und irdischen Busen nährten. Ich erzählte von Anna, die im Sommer den kargen Boden der Außenanlage ihres Gewächshauses zum Blühen bringt und im Winter Skikurse leitet. Von Andrés Eltern, die sich mit der Bewirtschaftung einer Hochalm gerade so über Wasser halten. Von Gunnars Engagement zur Erhaltung der letzten Refugien von wilder Flora und Fauna. Von den Hochweiden und Sennereien, wo ich mich einmal die Woche mit frischem Brot und Milch eindecke. Von den jungen Rekruten, die wir jedes Jahr zu Alpinisten ausbilden müssen. Von den ausländischen Touristen, die sich gerne mit einem waschechten Gebirgsjäger vor einem Panoramablick ins Tal oder auf die hoch aufragende Bergwelt fotografieren lassen. Von den Wanderern, von den Skifahrern, von den Extremkletterern und von den Unglücklichen, deren Leichname manchmal erst im nächsten Frühling geborgen werden können.</p> <p>Elli fragte, ob es viele derartig tragische Unfälle in den Bergen gebe. Ich überlegte kurz. Ein Großteil der Arbeit meiner Stabsabteilung besteht aus der Prüfung solcher Unglücksfälle sowie ihrer statistischen Auswertung und der Ausarbeitung praktikabler Vermeidungsstrategien. »Jeder ist einer zu viel«, sagte ich endlich: »Die Berge behalten jedes Jahr etwa fünfzig Seelen ein und geben sie nicht mehr heraus.«</p> <p>»Fünfzig?« Eliot war entsetzt.</p> <p>»Das sind weit weniger Todesopfer, als auf den schwarzen Listen der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft vermerkt sind. Das Wasser fordert jedes Jahr sechshundert Opfer. In den Bergen sind es immer wieder die gleichen Fehler: mangelhafte Ausrüstung, fehlende Kondition, Selbstüberschätzung. Dennoch gehen die meisten Bergrettungen glimpflich aus«, versicherte ich ihm und erzählte ihm eine kleine Geschichte. Sie ereignete sich vor mehr als zwei Jahren. Eine Frau mittleren Alters war von ihrer Mittenwalder Gastgeberin vermisst gemeldet worden und der Koordinator der alpinen Rettungstruppe schickte trotz Anbruch der Dunkelheit und trotz der nur vagen Vermutung über den Verbleib des verlorenen Kurgastes vier Bergretter auf unterschiedlichen Wegen durchs Dammkar, um nach der Vermissten zu suchen. Ich war einer jener Bergretter, und zwar derjenige, der nach einer geglückten Rettung den anderen Entwarnung und einen schönen Feierabend funken durfte.</p> <p>Sie war ganz kleinlaut und den Tränen nahe, als ich sie auf einem schmalen Wandsims fand – ohne Sicherung, ohne Wasservorräte, ohne ausreichende Kleidung für eine unbarmherzige Nacht auf zweitausend Metern Höhe, ohne Taschenlampe zur Sendung eines Notfallsignals, einfach ohne alles. Ich musste jedoch lachen, als ich sie da so sitzen sah. »Wie sind Sie denn da hingekommen?«, fragte ich sie, während ich meinen Abseilstand baute.</p> <p>»Nennen Sie mich Inja und hören Sie auf mich zu siezen!« Gespielte Empörung klang aus ihrer Stimme und vertrieb ein wenig ihre Angst. Das war gut. Sie fasste sich und erzählte mir, dass sie betört von der Freiheit und der Unendlichkeit der Natur immer weiter hinausgelaufen sei und gar nicht gemerkt habe, wie sich der Grat unter ihren Füßen stetig verjüngte. Erst als die Dämmerung kam, sei sie sich ihres Wagnisses bewusst geworden. Eine schreckliche Angst habe sich ihrer bemächtigt und sie in die Knie gezwungen. Das Übliche: Die Leute laufen blindlings, soweit sie ihre Füße tragen, ohne an den Rückweg zu denken. Und plötzlich wird es Nacht oder das Wetter schlägt um oder sie haben sich in eine unwegsame Situation manövriert, wo es weder vorwärts noch rückwärts geht. Alles, was Inja jedoch brauchte, war eine Portion Selbstvertrauen.</p> <p>»Ich bin Wilhelm«, rief ich ihr zu: »Versuche den Klettergurt aufzufangen, Inja!« Ich pendelte ihr ein an einem Seilende befestigten Brustgurt zu, der ihren erschöpften Kampfgeist wachrufen sollte, und stieg zu ihr hinab. Das Klirren von Karabinern, die Berührung einer Bandschlinge aus stabilem Nylon und das Wissen um die Anwesenheit eines Retters wirken manchmal Wunder und die Menschen retten sich plötzlich selbst. Nachdem Inja den Brustgurt angelegt hatte, wies ich sie an, sich sitzend zu einer etwas breiteren Stelle des schmalen Bergsimses vorzuarbeiten, um sich dort in die Höhe stemmen und vorsichtig zu mir kraxeln zu können. Sie leistete meinen Anweisungen strikt Folge und schien, all ihre Ängste überwunden zu haben.</p> <p>»Halt Dich an mir fest, Inja«, rief ich, als sie mich fast erreicht hatte. Sie ging noch drei vorsichtige Schritte und ergriff dann endlich meine Hand. Ihre Haut war durch die Dehydrierung, den schroffen Kalkfels und den kühlen Höhenwind rau, schrundig und steif gefroren, doch ihr Griff war fest wie von jemandem, der überleben möchte. Erleichtert seilte ich sie an mir fest – sie wog keine fünfzig Kilo – und kletterte mit ihr nach oben.</p> <p>Als das Gröbste überstanden war und wir wieder festen Boden unter den Füßen hatten, zündete sie sich eine Zigarette an. Ich blieb sprachlos stehen: Da rettete ich ihr das Leben und sie warf es auf dem Weg ins Tal gleich wieder weg, indem sie ihren Körper mit Nikotin vergiftete. Sie ließ sich durch meine Empörung jedoch nicht aus der Ruhe bringen, sondern hielt mir eine kurze Standpauke, was ihr aufgrund ihrer längeren Lebenserfahrung vielleicht sogar zustand: »Mein lieber junger Mann! Wilhelm, ich habe nur wenige Sehnsüchte und Wünsche. Manche davon sind so groß wie die Berge, andere so klein, dass sie in einer Zigarettenschachtel Platz finden. Ich danke Dir von Herzen, dass Du heute mein Leben gerettet hast. Denn jetzt kann ich weiterhin neben all den unzähligen Beschwernissen des Lebens auch die Dinge tun, die mich glücklich machen. Deswegen werde ich nun weiter meine Lieblingsmarke rauchen und nächstes Jahr wiederkommen, um mich an der Schönheit der Berge zu berauschen. Und dann wird mich wieder einer von Euch retten. Oder auch nicht, denn irgendwann werde ich die letzte Zigarette rauchen oder zu weit hinaus gehen. Dann wird mich niemand mehr retten können. Aber bis dahin …«</p> <p>Dieses Erlebnis liegt zwar inzwischen über zwei Jahre zurück, ist mir jedoch gegenwärtig, weil mich Gunnar, unser Truppenpoet und passionierter Gipfelbuchleser, vergangenen Sommer wie aus heiterem Himmel fragte, ob ich eine gewisse Inja kenne. Auf meinen erstaunten Blick hin fügte er hinzu, dass sie mir eine Nachricht auf dem Gipfel der Viererspitze hinterlassen habe. Ich machte mich noch am selben Tag auf, um der Sache auf den Grund zu gehen und tatsächlich: ›Lieber Wilhelm<span>‹, schrieb sie: ›S</span>iehst Du, ich bin zurückgekehrt! Weder die Berge noch ein geringeres Laster konnten mir etwas anhaben. Inja – 28. August 1991.‹</p> <p>Elli sagte nichts. Er nur legte den Kopf ein wenig schräg und lächelte teils fiebrig, teils versonnen vor sich hin.</p> <p>Auch ich schwieg, denn ganz unvermittelt erkannte ich die Antwort auf Pragens Frage. Sie stand mir so klar vor Augen geschrieben, dass ich mich wunderte, nicht eher darauf gekommen zu sein: Die Berge machen sich demjenigen zum Geschenk, der ihnen seinen Leben anvertraut und sogar bereit wäre, es dort zu verlieren – sowohl dem Hüttenwirt, dessen Familie sie ernähren, als auch dem Städter, der mit komplett falschem Schuhwerk, aber voller Sehnsucht seinen Pfad zum Gipfel sucht.</p> <p>Eliot streckte sich, rieb seine Augen und strich sich die Haare zurück. Erschöpfung und Müdigkeit zeichneten seine Gesichtszüge dunkel nach. Seine Wangen und Lippen und seine Nasenspitze waren hingegen blass. Ich merkte, dass es an der Zeit war, zu gehen, aber das konnte ich unmöglich tun.</p> <p>Als ich ihn fragte, ob die Wirkung des Fiebermittels nachlasse, zeigte mir Elli nach einem verschwörerischen Griff in seine rechte Hosentasche die beiden Tabletten vor. Er hatte sie nicht genommen und hatte es auch nicht vor. Er wollte lieber meinen Rat befolgen und ruhen. Ich nickte und entschuldigte mich dafür, dass ich ihn vom Schlafen abgehalten hatte, doch er schüttelte entschieden den Kopf und bedankte sich dafür, dass ich ihm Gesellschaft geleistet hatte. Ich war mir nicht sicher, ob er das aus reiner Höflichkeit sagte oder ob ihm meine Anwesenheit tatsächlich etwas, und sei es auch nur das Allergeringste, bedeutete. Der Rauswurf war jedoch unmissverständlich und ich spürte, wie wir auf ein weiteres ›Vielleicht und später‹ zusteuerten.</p> <p>Deswegen stellte ich mich vorerst taub und dachte nach, wie ich den bevorstehenden Abschied hinauszögern konnte. Mein nachdenkliches Schweigen machte die Sache jedoch nicht besser und das angestrengte Grübeln schien mir nicht besonders gut zu stehen, denn Eliot schaute mich plötzlich besorgt an. Ich lachte, um seine Sorge zu zerstreuen und um Zeit zu gewinnen, aber Eliot stimmte nicht in mein Lachen mit ein. Als er stattdessen seine Getränkedose schüttelte und der letzte Tropfen ein helles, rasselndes Geräusch machte, schob ich schnell mein unangerührtes Getränk zu ihm hinüber.</p> <p>»Du hast nicht davon getrunken?«, fragte er überrascht.</p> <p>Ich machte ein entschuldigende Geste.</p> <p>»Etwas anderes habe ich leider nicht anzubieten«, sagte er.</p> <p>Ich sagte, es sei nicht weiter tragisch, und bot ihm an, eine Tasse Tee zusammen zu trinken. Ich war mir sicher, dass ich in der Küche welchen bekommen konnte.</p> <p>»Ich habe seit meiner Kindheit keinen Tee mehr getrunken«, wandte er ein, musste sich jedoch von mir daran erinnern lassen, dass er nur drei Monate zuvor mit mir zusammen Tee getrunken hatte.</p> <p>»Das war eine Ausnahme«, sagte er und verzog das Gesicht: »Aber vielleicht hätte ich am nächsten Morgen sogar noch eine zweite Tasse getrunken.«</p> <p>Ich bot ihm, an die versäumte Tasse unverzüglich nachzuholen.</p> <p>»Ich fühle mich nicht besonders«, erklärte er.</p> <p>Ich bestand jedoch darauf, dass ihm der Tee gut tun würde, nahm seinen Zimmerschlüssel und machte mich, ohne weitere Widerworte abzuwarten, auf den Weg in die Küche. Ich versuchte, gelassen zu wirken, doch innerlich hatte ich das Gefühl zu schwimmen. Ich hielt den Schlüssel zu Eliots Zimmer so fest in der Hand, dass es weh tat.</p> <p>Schwimmen bedeutet für mich, mit aller Kraft um mich zu treten und zu schlagen, um nicht unterzugehen. Im Wasser denke ich an nichts anderes als an Wasser. Ein großer Fehler laut Admiral Witt. Seiner Meinung nach ist Schwimmen keine Frage der Kraft, sondern der inneren Ruhe, und um schwimmen zu lernen, braucht man nicht mehr als einen Liter Wasser, genug für eine gute Kanne Tee. Der Admiral hat mir damals nicht nur das Teetrinken beigebracht und mein erstes Teeset geschenkt, sondern war beständig darum bemüht, mich in seine kleine Idee von der großen Ruhe einzuweihen. Eine Ruhe, so groß, dass man sogar im Angesicht des Todes lächeln konnte. Der gebürtige Ostfriese hatte zu Zeiten Tee getrunken, als die Lebenden mit den Toten zusammengesessen und gelacht haben. Ich lernte ihn kennen, als ich im Rahmen eines Wasserkampf- und Überlebenslehrgangs für angehende Heeresoffiziere mit ungefähr zwanzig weiteren Landratten zu einem Marinestützpunkt an der äußersten Kante der Bundesrepublik geschickt wurde, wo ich mich um den unrühmlichen Beinamen Wasserleiche verdient machen sollte. Gleich am ersten Tag sorgte ich für Aufregung, als ich bei der Aufgabe, mich aus einem gesunkenen Schiff zu befreien, kläglich versagte. Das gesunkene Schiff wurde durch eine Kapsel simuliert, die mithilfe eines Krans in ein fünf Meter tiefes Wasserbecken gelassen wurde. Nachdem die Kapsel auf dem Grund des Beckens lag, begann die Kammer mit Wasser vollzulaufen. Wer aus dem gesunkenen Schiff entkam, ohne dabei verräterische Luftblasen an die Oberfläche steigen zu lassen, bekam Extrapunkte.</p> <p>Ich erhielt allerdings keine Extrapunkte. Denn als ich an der Reihe war und in der Kapsel auf den Grund des Wasserbeckens hinabgelassen wurde, bildete ich mir plötzlich ein, keine Luft mehr zu bekommen, und als der Innenraum schließlich mit Wasser vollgelaufen war, geriet ich durch den Druck auf meinen Augen, Ohren und Lungen in so sehr Panik, dass ich, anstatt die Luke zu öffnen, gegen die Wände der Kapsel zu treten begann. Kurz darauf ertrank ich. Ein scheussliches Gefühl.</p> <p>Ich wurde zwar sofort aus dem Becken gefischt, wiederbelebt und für den Rest des Tages von den überfürsorglichen Sanis ins Lazarett verlegt, aber der Ausbildungsleiter, ein herrischer Kapitänleutnant, war damals ziemlich sauer. Er dachte, ich wollte ihn auf den Arm nehmen, zumal sich dieses Szenario von nun an täglich wiederholen sollte: Wenn wir nicht gerade Theorieunterricht hatten oder Trockenübungen absolvierten, ertrank ich. Die Ausbilder, vier drahtige und kräftige Schwimmathleten im Rang eines Oberbootsmannes, lachten schon, wenn sie mich sahen. Sie retteten mir während der vier Wochen mehrfach das Leben und gaben mir am Ende den guten Rat, auf einen Eintrag in meiner Dienstakte über den Besuch des Lehrgangs zu verzichten, um das Bild meiner bisherigen Leistungen nicht zu ruinieren. Auch der Kapitänleutnant zeigte sich am Ende versöhnlich und überreichte mir eine Ehrenurkunde, auf der die gesamte Kompanie unterschrieben hatte. Die Urkunde verlieh mir die scherzhafte Auszeichnung, 100%ig wasseruntauglich zu sein.</p> <p>Wassertauglichkeit lernte ich in Eckernförde also nicht, dafür aber das Teetrinken. An den Trainingstagen war ich gut beschäftigt. Morgens stand ich noch vor allen anderen auf, um mich mit einem einsamen Morgenlauf durch die salzige Seeluft auf die bevorstehende Quälerei des Tages einzustimmen, und abends sank ich vollkommen erschöpft von der vielen Schwimmerei in einen tiefen und gierigen Erholungsschlaf, um nur vier Stunden später wieder aus dem Zimmer zu schleichen und zum Strand hinauszulaufen. So wiederholte sich das Tag für Tag.</p> <p>Doch wie fast nicht anders zu erwarten, folgte auch im hohen deutschen Norden auf fünf Tage Plackerei das unselige Wochenende. Da die Zugreise von Kiel nach Mittenwald zwischen zehn und vierzehn Stunden in Anspruch nahm, fuhr ich übers Wochenende nicht nach Hause, sondern blieb in Eckernförde. Ich hielt dies zunächst für eine gute Gelegenheit, um mir das Meer anzusehen und das Küstenland zu durchstreifen. Doch dort oben am Rande der Welt sehnte ich mich recht schnell nach dem tröstlichen und schützenden Schoß der Berge zurück. Denn anstatt mit der Isar, den Gämsen und Sonne und Mond um die Wette zu laufen, saß ich mit meinem Windanorak an einem unendlich weiten, unendlich flachen und unendlich sandigen Strand, zählte die Dinge und ließ mir von den Möwen meine mitgebrachten Brote klauen.</p> <p>In diesem desolaten Zustand stöberte mich eines Tages Admiral Witt auf und erbarmte sich meiner, indem er mich von da an jedes Wochenende zu sich nach Hause zum Essen einlud. Nach und nach lernte ich dabei seine gesamte Familie kennen und einmal nahm er mich sogar mit auf die Ostfriesischen Inseln, wo er mir seinen Geburtsort zeigte und beibrachte, wie man sein Vesper erfolgreich gegen aufdringliche Möwen verteidigte. Obwohl ich keinen Familiensinn besitze und alles, was damit zu tun hat, für gewöhnlich als unangenehm empfinde, fühlte ich mich im Schoß von Admiral Witts Familie wohl und wünschte mir fast, sie hätten mich adoptiert und dabehalten.</p> <p>Der Admiral hatte in seiner Jugend Zeiten erlebt, die ich nur aus Büchern und Gedenkreden kannte: das Ende des großen Krieges, ein böses Erwachen, ein Leben in Trümmern und einen neuen Kampfgeist. Er erzählte mir viel vom Leben, vom Krieg, vom Tee und vom Tod. Bei ihm lernte ich alles über die ostfriesische Teetradition, von der Auswahl des Geschirrs und der Sorte über das Geheimnis der Zubereitung bis zu hin zu den unterschiedlichsten Formen des Genießens. Im deutschen Norden macht der Tee die Menschen lebendiger als anderswo ein ganzes Festaufgebot an kopfstarken Getränken. Man trinkt den Tee nicht zu einer bestimmten Zeit oder nach strengen Ritualen, sondern einfach immer und überall: zu Hause wie im Büro, draußen bei Regen und Sturm wie in der Behaglichkeit einer warmen Stube, zum Einschlafen wie zum Frühstück.</p> <p>Admiral Witt erzählte mir, er habe besonders während der letzten beiden Kriegsjahre, in denen der Tee rationiert und teilweise sogar in Gold aufgewogen worden sei, mit vielen Menschen Tee getrunken, die danach ausgezogen waren, um zu sterben. Oder zu töten. Oder beides. In einer solch angespannten Lage, entfalte der Tee eine besondere Kraft. Er schweißt das bisschen Menschlichkeit, das in solch harten Zeiten noch übrig ist, zusammen, wappnet gegen Leid, tröstet über den Verlust hinweg und kultiviert den Witz. Man reagierte damals auch feinfühliger und hellhöriger auf die Zeichen des Tees. Denn dieser schien bisweilen die geheimen Gedanken, Ängste und verbotenen Wünsche der Menschen auszusprechen: Man horchte auf, wenn ein Kandisbrocken zerbrach, und beobachtete still, wie die Sahne auf den Grund der Tasse sank oder wie ein einsamer Tropfen die Tülle der Kanne hinabrann. Niemand wagte, diese Zeichen zu deuten oder zu kommentieren. Sie sprachen für sich selbst und vielleicht in jedem Kopf ein anderes Wort.</p> <p>Auf dem Weg in die Küche rief ich mir Admirals Witts Worte ins Gedächtnis: »Keine Sache ist so groß, dass sie sich nicht mit einer kleinen Tasse Tee in den Griff kriegen ließe. Merk Dir das.« Die Atemnot und Panik, die sich bei mir unter Wasser einstellten, erklärte er, seien nur die natürliche Reaktion eines überraschten Organismus auf übersäuertes Blut, auf die plötzliche Untätigkeit der Atemmuskeln und auf den ungewohnten Druck in den Nasennebenhöhlen und Gehörgängen. Damals schaffte ich es nicht, mich auf Witts Worte zu verlassen. Ich blieb ein hoffnungsloser Fall. Aber dieses Mal gelang es mir. Ich trank im Geiste eine Tasse Tee und wurde ganz ruhig. Anstatt zu schwimmen, flog ich plötzlich. Den Schlüssel hielt ich dabei locker in der Hand, denn mit einem Mal hatte ich keine Angst mehr, ihn zu verlieren. Endlich hatte ich das Prinzip hinter Admiral Witts Idee von der inneren Ruhe verstanden.</p> <p>Als ich zehn Minuten später mit einer Tasse heißem Wasser, einer halben Zitrone und vier Zuckerwürfeln zurückkehrte, hatte sich Eliot bereits umgezogen und unter seine Decke verkrochen. Es war kalt in dem Zimmer. Das Fenster stand auf kipp und die Heizung war heruntergedreht. Ich setzte mich auf die Bettkante, entließ den Saft der Zitrone in den aus der Teetasse aufsteigenden Nebel und genoss dabei Eliots Aufmerksamkeit. Die Krankheit stand ihm nun noch deutlicher ins Gesicht geschrieben als zuvor. Seine Stimme klang müde und schwach, als er sich für meine Mühe bedankte und sich erneut für seine Unpässlichkeit entschuldigte. Ich erwiderte nichts, sondern widmete mich voll und ganz der vor mir liegenden Aufgabe, die Gegensätze Feuer und Wasser, sauer und süß miteinander zu verbinden. Als ich Eliot das mit Zucker angereicherte Zitronenwasser reichte und ihn ermahnte, den Tee heiß zu sich zu nehmen, nickte er zwar artig, machte aber keine Anstalten, zu trinken, sondern stellte den Becher vor sich auf der Bettdecke ab.</p> <p>Wir schwiegen. Wie damals in Oberstdorf. Ein mystischer, wortloser Dialog. Jeder in sich selbst zurückgezogen und doch miteinander verbunden. Eliot sah seinem Tee im schwachen Schein der Nachtischlampe beim Abkühlen zu. Ich saß auf seiner Bettkante und beobachtete die Nacht draußen vor dem Fenster. So vergingen Minuten und ich befürchtete fast, dass Eliot bereits eingeschlafen sein könnte, als er mich plötzlich fragte, was ich zu Weihnachten bekommen hätte. Ich wandte mich zu ihm um und fing an, in meinen Gedanken zu kramen.</p> <p>André hat wie jedes Jahr sein Weihnachtspaket mit uns allen geteilt. Es war voller Plätzchen aus der großelterlichen Weihnachtsbäckerei und saftigen, aber extrem saueren Äpfeln aus der Klunkerwirtschaft seiner Eltern. Nachdem wir uns alle an den Leckereien gütlich getan hatten, blieben ihm selbst nur zwei Paar dicker, handgestrickter Wollsocken und ein Paar grober, mit Lammfell gefütterter Wildlederfäustlinge. Die Socken schenkte er, da er inzwischen angeblich genügend davon besaß, an mich weiter. Ich versuchte zwar, dankend abzulehnen, doch er bestand darauf, dass sich die Handarbeiten seiner Mutter bereits im schlimmsten Eis und Schnee bewährt hätten und mir gehören sollten. Zum Beweis krempelte er seine olivgrünen Kniestrümpfe so weit um, bis darunter die bunte Wolle aus der Strickstube seiner Mutter zum Vorschein kam. Die Fäustlinge verstaute er mit einer liebevollen, fast andächtigen Geste in der Innentasche seines Mantels. Ich habe ihn die Handschuhe bisher jedoch nie tragen sehen.</p> <p>Das nächste Weihnachtsgeschenk bekam ich von Heidt, als er mich nach unserer letzten Stabssitzung beiseite nahm, um, weil Weihnachten ist, meine für den nächsten Sommer geplante Hochgebirgsexpedition ins Ausland zu genehmigen. Er sei sogar bereit, fügte er augenzwinkernd hinzu, die Ausgaben für die fehlende Ausrüstung aus dem Etat der Stabskompanie für das auslaufende Jahr zu decken. Außerdem würde der Besoldungsplan im neuen Rechnungsjahr meinen Antrag auf eine Stellenzulage für die beiden Feldwebelposten meiner Stabsabteilung berücksichtigen und die Zulagen als Bergführer um eine finanzielle Anerkennung für besondere Ausbildertätigkeiten im Außendienst ergänzen. Und zwar mit Rückwirkung zum letzten Quartal. Er habe sich diesbezüglich bereits mit dem Personalstab und der Haushaltsmittelverwaltung auseinandergesetzt und die Nachzahlung erfolge bereits im Januar. Heidt ist unberechenbar. Sein Geiz hat schon manch einen zu der irrigen Annahme verleitet, dass er die Kosten des Standorts aus seiner eigenen Tasche bestreiten müsste. Doch hin und wieder ergreift ihn eine Welle der Großzügigkeit und er wirft mit Scheinen nur so um sich.</p> <p>Über die Bewilligung der Sonderzulagen freute ich mich am meisten, denn das bedeutet sozusagen eine kleine Gehaltserhöhung für meine beiden Feldwebel. Als Falk davon erfuhr, fiel er mir gleich um den Hals. Da er seine Familie in Freising unterstützt, kommt er selbst trotz geradezu asketischer Lebensweise auf keinen grünen Zweig und tatsächlich hatte ich den Antrag ursprünglich nur seinetwegen gestellt. Meine wahre Motivation braucht er jedoch nicht zu wissen. Deshalb befreite ich mich aus seinem Würgegriff und stellte nur fest, dass es keinen Grund zum Dank gebe, da es sich bei besagten Sonderzulagen keinesfalls um mildtätige Almosen handle. Ausnahmsweise verstand er meinen Wink, salutierte und machte sich an die Arbeit.</p> <p>Meissmanns Geschenke blieben mir glücklicherweise die letzten Jahre über erspart. Auch ansonsten meinten es die Leute gut mit mir und hielten sich mit Geschenken und dergleichen zurück. Bis auf die Werbegrußkarten der Hüttenwirte, die Weihnachtsangebote der Sporthäuser und die Süßigkeiten, die mir Gudrun gegen meinen Willen immer wieder zusteckte, hatte ich nichts weiter auszustehen. Da ich außer meinem einen Wunsch keine weiteren Sehnsüchte hege, kann man es mir ohnehin nicht recht machen. Ich fragte Eliot, ob er Wünsche hätte, doch auch er hatte, wie erwartet, keine.</p> <p>»Außer vielleicht …«, wandte er plötzlich ein und schaute mich nachdenklich an: »Weltfrieden.«</p> <p>»Weltfrieden?« Ich war erstaunt.</p> <p>»Ja, Weltfrieden«, sagte er nun bestimmt: »Eine Welt ohne Hunger, Elend und Krieg. Das wünschte ich mir schon als Kind.«</p> <p>Ich fragte ihn, ob ihm klar sei, dass wir in solch einer Welt auf der Straße stünden.</p> <p>»Nicht nur wir. Viele andere auch.« Er klang von der Vorstellung sichtlich angetan, griff meine Idee auf und spann sie auf seine Art und Weise weiter: »Wir müssten uns dann eben etwas anderes, etwas Vernünftiges überlegen. Ich würde zum Dichter umschulen und Du …« Eliot überlegte kurz: »Du könntest als Bergführer und Skilehrer arbeiten.« Ich befürchtete, dass sein Fieber gestiegen sei, und fühlte besorgt nach.</p> <p>»Ich weiß, ich rede Unsinn«, wehrte er sich gegen meine fürsorgliche Geste: »Aber die Grundidee ist doch nur vernünftig. Weißt Du, Wilhelm, eigentlich bin ich Pazifist.«</p> <p>Ich runzelte die Stirn und fragte ihn, ob er wisse, wer sein Arbeitsgeber ist.</p> <p>»Das Bundesministerium für Verteidigung«, gab er ein wenig trotzig zurück, woraufhin ich sofort weiterfragte, ob er dabei als Pazifist keinen Konflikt sehe, doch Eliot erzählte etwas von einem Verteidigungsauftrag und humanitären Einsätzen im Rahmen unserer Friedensbündnisse.</p> <p>Ich runzelte erneut die Stirn. Das konnte er nicht nichts ernstlich meinen. Ich verlangte von ihm eine klarer Abgrenzung zwischen den beiden Begriffen Verteidigung und Krieg. Für mich war es dasselbe. Es kam nur darauf an, welche der kriegsführenden Parteien man zum Sündenbock und welche man zum Unschuldslamm erkläre. Eliot nannte mich destruktiv und einen Pessimisten. Die Menschen hätten es geschafft, Sklaverei und Leibeigenschaft zu überwinden, ereiferte er sich plötzlich. Es sei von daher nicht abwegig, zu glauben, dass Krieg und Gewalt ebenso überwunden werden könnten. Das deutsche Militär existierte in Eliots Gedankenwelt nur der Form halber. Ein romantischer Volksglaube und ein politisches Hobby. Wie das britische Königshaus oder die Mona Lisa im Louvre. Ich fand seinen Vergleich an den Haaren herbeigezogen, doch Eliot ließ nicht locker und verstieg sich so sehr in seine Traumwelt aus humanitären Einsätzen und Friedensbündnissen, dass er sich zu der mit seinem Diensteid unvereinbaren Aussage hinreißen ließ, niemals eine Waffe gegen ein lebendiges Wesen führen zu wollen, und mich damit zu der Frage nötigte, ob er bei seiner Eignungsprüfung als Unteroffizier der Bundeswehr nicht seine Bereitschaft zu töten habe zu Protokoll geben müssen.</p> <p>»Nein«, sagte er: »Sie stellten mir nur ein paar allgemeine Fragen zur aktuellen politischen Lage in Deutschland, ließen mich die Mitgliedsstaaten der NATO auf einer Karte zeigen, quälten mich mit langweiligen Schulaufgaben aus den Fächern Mathe, Deutsch und Geschichte und gaben mir sinnlose Rätsel auf: Wenn heute Dienstag sein soll, welcher Tag wäre dann drei Tage nach vorgestern? Oder: Apfel, Birne, Pflaume, Kirsche, Taschenmesser – welches Wort passt nicht zu der Gruppe?«</p> <p>»Die Birne«, sagte ich, ohne zu zögern.</p> <p>»Warum gerade die Birne?«</p> <p>»Alles andere würde ich für eine Bergtour in meinen Rucksack packen.«</p> <p>»Und warum keine Birne?«, fragte Eiot.</p> <p>»Ich mag keine Birnen«, erklärte ich. Eliot lachte, sah mich jedoch kurz darauf streng an: »Was magst Du noch nicht?« Ich sagte, ich könne ihm aus dem Stegreif einhunderteinundzwanzig Dinge aufzählen, die ich nicht mochte, alphabetisch sortiert. Als er mir das nicht glauben wollte, legte ich los. Ich begann mit ›Achtung!‹ und einer Atempause und arbeitete mich daraufhin, ohne erneut Luft zu holen, durch das gesamte Alphabet. Als ich endete, sah mich Eliot skeptisch an: »Das waren nur einhundertzwanzig Punkte. Einer zu wenig.«</p> <p>»Du hast mitgezählt?«, fragte ich erstaunt. Eigentlich hatte ich ihn beeindrucken wollen, stattdessen beeindruckte er nun mich. Zögerlich gab ich zu, dass ich den letzten Punkt unterschlagen hatte. Als ich jedoch selbst auf Eliots forschenden Blick hin eisern schwieg, lachte er schließlich: »Auf jeden Fall waren die Fragen der Eignungsprüfung denkbar einfach. Die moralischen Verhöre führen sie nur mit den Verweigerern durch.« Ich kam aus dem Stirnrunzeln nicht mehr heraus: Spätestens als man ihm gezeigt habe, wie man eine Waffe lade, entsichere und abfeuere, sei ihm doch wohl ein Licht aufgegangen.</p> <p>Eliot beharrte jedoch auf seinem naiven Standpunkt und glaubte, mich damit überzeugen zu können, dass die zurückliegenden Friedenseinsätze der Vereinten Nationen im Ausland das Gebot der absoluten Friedfertigkeit zur Genüge bewiesen hätten. Er fing an, ein um die andere Friedensmission auszurollen, und vergaß auch nicht darauf hinzuweisen, dass die Blauhelme für ihr Engagement zur Sicherung des Weltfriedens sogar den Friedensnobelpreis erhalten hätten.</p> <p>Die friedenserzwingenden Maßnahmen einer durch das unerfüllbare Mandat der Vielvölkerei handlungsunfähigen Gruppe seien nun also seine Vorstellung von Weltfrieden, fragte ich ungläubig. Und überhaupt: Wie wolle man denn bitte schön Krieg, Gräuel und Ungerechtigkeit verhindern, stellte ich ihn stellvertretend für die Vereinten Nationen zur Rede, wenn man sich bereits im Vorfeld durch eine selbst auferlegte Tatenlosigkeit jeglichen Handlungsspielraum verbaue. »Aktiv oder passiv, am Ende klebt Blut an Deinen Fingern, ob Du nun einen davon gekrümmt hast oder nicht. Allein schon von Berufs wegen«, schloss ich meine aufbrausende Rede.</p> <p>Elli wollte jedoch partout keines meiner Argumente gelten lassen. Trotz sprach aus seinem Blick und aus seiner Stimme. Vielleicht war es aber die Angst vor dem nur durch stures Leugnen vermeidbaren Zugeständnis, dass ich Recht hatte, und die damit verbundenen moralischen Konsequenzen. Oder verlangte ich doch zu viel von jemandem, der an Kobolde glaubte, sich zum Dichter berufen fühlte und den Versprechungen auf dem Etikett eines Limonadenherstellers vertraute? Seine kindische Widerrede erinnerte mich an die unzähligen Auseinandersetzungen, die ich über die Jahre hinweg mit Tomo ausgefochten hatte. Tomo stand stets für das Gute und Heilige ein, während mein Job zunehmend darin bestand, ihm seinen Gutglauben auszureden und seine Heiligtümer zu entweihen.</p> <p>»Es ist grausam, wenn man einer Fliege den Kopf vom Rumpf trennt! Vielleicht wird dabei auch ihre Seele zerschnitten«, hatte Tomo damals protestiert, als ich mich mit Gummihandschuhen, Laborbrille, Mundschutz, Weißkittel, Pinzette und Skalpell bewaffnet über das auf einen Objektträger geklebte Lebendpräparat hermachen wollte.</p> <p>»Tomo, man kann doch keine Seele zerschneiden«, sagte ich streng, um ihm zu verstehen zu geben, dass er gerade etwas sehr Dummes gesagt hatte, und spannte das hilflos zuckende Insekt unter das Objektiv meines Mikroskops. Ich hatte die Wissenschaftler unzählige Male bei derlei Prozeduren beobachtet: Man bestrich einen Objektträger mit einer klebrigen Lockpaste und führte das derart präparierte Glasplättchen in das Fliegenterrarium ein. Sobald sich eine der ahnungslosen Fliegen, darauf niedergelassen hatte, saß sie in der Falle und konnte für Versuchszwecke entnommen werden.</p> <p>»Was passiert dann mit der Seele?«, piesackte mich Tomo weiter. Es hatte mich bereits all meine Überredungskunst gekostet, ihn überhaupt dazu zu bewegen, mit mir in eines von Meissmanns Labore zu schleichen, um dort Tierexperimente durchzuführen. Doch nun gefiel ihm nicht, dass ich die Tierchen in Hälften schneiden, unter eine Vakuumglocke sperren oder irgendwelchen giftigen Substanzen aussetzen wollte. Die Experimente, die Tomo vorschlug, passten wiederum mir nicht in den Kram. Er wollte die Fliegen freilassen und beobachten, wohin sie flogen, oder herausfinden, ob man ihnen Schokolade verfüttern konnte. Das war mir jedoch zu kindisch, zu unoriginell, zu passiv und zu langweilig. Ich erklärte ihm, dass bei einem echten Experiment auch echte Laborutensilien und Apparate zum Einsatz kommen müssten, also Zwicker und Pinzetten, Glasschälchen und Reagenzgläser, chemische Substanzen, Mikroskope, Brenner und Vakuumpumpen. Ich versuchte Tomos Bedenken bezüglich der Seele zu zerstreuen und redete beschwichtigend auf ihn ein. »Die Seele bleibt nach der Sektion entweder im Kopf oder im Rumpf zurück. Glaubst Du denn etwa auch, dass ein Teil Deiner Seele verloren geht, wenn man Dir Blut abnimmt?« Natürlich hatte ich überhaupt keine Ahnung, wovon ich da sprach, aber meine selbstsichere und großsprecheriche Art brachte Tomo ins Grübeln. Er gestand, dass er darüber noch nie nachgedacht habe, aber doch glaube, dass auch das Blut voller Seele sei, wie könnte man sonst Blutsbrüderschaft schließen.</p> <p>Ich wurde ungeduldig und widersprach ihm: »Wenn das Blut voller Seele wäre, wie verhält es sich dann mit den Tränen? Oder wenn man sich schnäuzt? Oder wenn man aufs Klo muss?« Obwohl er meine Argumente nicht entkräften konnte, beharrte er darauf, dass man ein lebendiges Insekt nicht in zwei Hälften schneiden dürfe. Das sei Quälerei. Keine Quälerei, gab ich zurück, sondern Wissenschaft. Die Laboranten machten das jeden Tag. Tomo schüttelte den Kopf und schaute panisch zu, wie ich die Leuchte des Mikroskops anknipste und mich mit meinem Silberbesteck über das zappelnde Wesen beugte.</p> <p>Dass ich ihn zu sehr mit meinen Ideen bedrängt hatte, bemerkte ich erst, als ich etwas sanft auf den Laborfliesen aufschlagen hörte. Erschrocken ließ ich Pinzette und Skalpell fallen, sprang von meinem Stuhl und versuchte, Tomos Hand zu greifen. Aber dazu war es bereits zu spät. Tomos Körper hatte seine feste Substanz verloren. Der weiße Laborkittel, den er sich übergeworfen hatte, war durch ihn hindurch zu Boden gefallen und lag nun wie eine abgestreifte Schlangenhaut zu seinen Füßen. Mein Griff nach seiner Hand ging ins Leere. Er verlor zunehmend an Kontur, bis nicht mehr von ihm übrig war als ein formloser Schatten, der wie eine dunkle Flamme hilflos in der Luft flackerte, bevor er schließlich ganz erlosch. Das hatte ich nicht gewollt, das hatte ich nie gewollt, egal wie uneins wir uns gewesen waren. Seine Stimme drang leise und wie von fern zu mir. Es klang als würde er hinter vorgehaltener Hand schreien. Dann war er plötzlich weg. Das passierte oft oder zumindest nicht selten, dennoch mochte ich mich nicht daran gewöhnen, vor allen Dingen, wenn die Nacht noch jung war und wir uns so viel vorgenommen hatten.</p> <p>Ohne je darüber gesprochen zu haben, hatten wir uns darauf geeinigt, die mysteriösen Umstände unseres Zusammenseins niemals zu tief zu hinterfragen, da wir fürchteten, dass zu viel Wissen alles zerstören würde, so wie einst Adam und Eva im Tausch gegen die Erkenntnis über ihre Existenz der Garten Eden genommen worden war. Dennoch gab es feste Grundregeln, die wir recht schnell verstehen lernten und an die wir uns halten mussten: Tomos Erscheinen folgte einer nicht immer ganz durchschaubaren kosmischen Willkür. Seine Besuche waren auf die Nacht beschränkt, dauerten jeweils nur wenige Stunden und es durfte währenddessen kein Dritter zugegen sein. Anfangs war Tomo mehr Schatten als Körper, eine dunkle Luftspiegelung ohne Sprache und ohne fassbare Gestalt, doch er lernte bald, sich in meiner Welt nahezu genauso zu verhalten wie ein gewöhnlicher Mensch – mit den wohl auffälligsten Ausnahmen, dass er einerseits schweben, dafür aber keine Türen öffnen konnte, und wenn uns während unseres Zusammenseins eine zu große Distanz voneinander trennte, tauchte er plötzlich wie durch einen Zauber neben mir auf. Wenn er hingegen unter extremen Stress geriet, löste er sich einfach auf, ohne dass einer von uns beiden sein Verschwinden auch nur im geringsten beeinflussen oder gar aufhalten konnte.</p> <p>Nachdem wir dieses Grundprinzip verstanden hatten, mieden wir stressige Situationen, und wenn Tomo zu zappelig oder aufgeregt wurde, hielt ich ihn an der Hand, um ihn ja nicht an den Rand des Verschwindens driften zu lassen. In jener Nacht hatte ich die Zeichen jedoch zu spät erkannt und blieb allein mit dem seinem vorzeitigen Tode harrenden Insekt zurück. Ich führte den Versuch dennoch zu Ende und fand nach einem kurzen präzisen Schnitt heraus, dass die Seele weder im Kopf noch im Rumpf verblieb, sondern bei Eintritt des Todes beide Körperteile nahezu gleichzeitig verließ. Das lebendige Glitzern erlosch und zurück blieb, wie von mir nie anders erwartet, ein toter Fliegenkörper. Genauso tot oder lebendig wie der Objektträger, auf dem er festgeklebt war. Als ich Tomo in der darauffolgenden Nacht davon berichtete, staunte er nicht schlecht und ließ sich alles ganz genau und detailliert erzählen. Zu weiteren Experimenten ließ er sich jedoch nicht überreden. Dabei hatten wir noch so viele andere Tiere im Labor.</p> <p>Tomo und ich stritten uns oft, wenngleich auf unsere kindliche Art und Weise, über Recht und Unrecht, Tod und Töten und andere komplizierte Dinge. Doch das Gesetz zwang uns dazu, Eskalationen zu vermeiden und unsere Kleinkriege recht schnell beizulegen. Vielleicht war es mein Gedenken an Tomo, vielleicht aber auch ein einfaches Bedürfnis nach Harmonie, was mich versöhnlich stimmte, als Elli die Streiterei beiseiteschob und sich einen stillen Wunsch von der Seele betete, den ich ihm schwer verübeln konnte. Er hoffe von Herzen, dass ich mich irre, weil er nicht glaube, jemanden töten zu können. Obwohl ich mir noch immer sicher war, dass meiner pessimistischen Einschätzung eher zu trauen war als seiner frommen Hoffnung, nickte ich und erinnerte ihn daran, dass wir uns ohnehin längst darauf geeinigt hätten, die Hoffnung eine gute Seele zu nennen. Ich deutete sein schiefes Lächeln als ein Zeichen dafür, dass er sich an unser Gespräch von vor drei Monaten erinnerte. Er wurde jedoch sehr schnell wieder ernst und fragte mich, ob ich mich des Tötens fähig glaube. Dass ich des Tötens fähig bin, ist bei mir längst keine Glaubensfrage mehr, sondern auf Erfahrung gründende Gewissheit.</p> <p>Ich spreche dabei nicht von der Enthauptung einer kleinen Fruchtfliege aus Meissmanns Labor – das war nur eine Kinderei – sondern von literweise quellendem Blut, gurgelndem Röcheln und einem pulsierenden Körper, der ganz langsam kalt wird. Die Geschichte ereignete sich vor noch nicht einmal einem Jahr, im vergangenen Frühling, Ende März, kurz nach Sebastians Freifall. Auf Eliots eindringliche Bitte hin weihte ich ihn in den Hergang der Dinge ein, die mich damals erst zum Mörder und dann zum Helden gemacht hatten: Die Mittenwalder waren damals noch immer von den vorangegangenen Geschehnissen um Sebastian Grünlindt traumatisiert. Dennoch oder vielmehr gerade deswegen hielt ich streng an allen geplanten Terminen fest und folgte mit einem achtzehn Mann starken Zug der Einladung unserer Berchtesgadener Kameraden zu einem gemeinsamen Wintermarsch.</p> <p>Es waren auch österreichische Gebirgsjägereinheiten eingeladen. Gemeinsam sollte unser Tross aus ungefähr einhundert Kameraden drei Tage und Nächte lang quer durch die Alpen ziehen. Neben der vollzähligen Belegschaft meiner Stabsabteilung hatte ich noch acht Leute aus Andrés Hochgebirgsjägerzug und Strefler im Schlepptau. Die Österreicher hatten hauptsächlich junge Rekruten geschickt, doch ihre Zugführer – oder besser Zugkommandanten, wie man das dort drüben nennt – waren uns bereits von verschiedenen Wettkämpfen und gemeinsamen Veranstaltungen der vergangenen Jahre vertraut. Die Aktion stand unter der Schirmherrschaft des Bad Reichenhaller Gebirgsjägerbataillons und das Kommando führte Hauptmann Albrecht mit mir als seinem Stellvertreter.</p> <p>Eine hervorstechende Besonderheit des Bad Reichenhaller Standorts ist die dort stationierte Gebirgstragtierkompanie mit ihren zum Transportieren von schweren Lasten durch unwegsames Gelände verwendeten Maultiereinheiten und ihren berittenen Haflingerzügen. Die Tiere dort werden von ihren Tragtierführern geliebt und verehrt. Sie erhalten ihre Namen nach Geburtsjahr. Ich hatte während jener Tour die Ehre, die treuen Gefährten Siggi, Tornado, Merkur und Alyssa kennenlernen zu dürfen. Sie liefen mit ihren Führern an der Spitze des Zuges und spurten eine bequeme Schneise für die nachfolgenden Soldaten in den etwa kniehohen Schnee. Unsere Bad Reichenhaller Gastgeber hatten die Route vorausschauend geplant und führten den Tross stringent, aber ohne große Quälerei durch die üblichen Tücken eines nur widerwillig ausklingen wollenden, aber alles in allem recht sanftmütigen Winters. Auch die Truppe war gut aufgelegt und trällerte ein Liedchen nach dem anderen, als übten sie für einen Liederwettbewerb. Selbst als vereiste Firnfelder unseren Marsch so sehr verlangsamten, dass unser Zeitbudget zum Bau des Nachtlagers empfindlich zusammenzuschrumpfen drohte, wurde kräftig weitergesungen.</p> <p>Wir hatten erst die Hälfte unserer Marschroute hinter uns gebracht, aber bereits Dreiviertel des Tageslichts verbraucht, als wir eines unserer Tiere verloren. Alyssa, eines der Mulis, Spurtreter und Lastenträger, stürzte mit einem grausamen Getöse in die Tiefe. Ihre schwer beladenen Körbe schrappten knirschend an dem rauen Kalk entlang und schlugen dabei dicke Eiszapfen und kleine Gerölllawinen los, bevor sie sich von der Sattelvorrichtung lösten und ächzend auf einem breiten, schneebedeckten Sims in der oberen Hälfte der Wand zum Liegen kamen. Alyssas Fall hingegen wurde erst etwa vierzig Meter tiefer von einem hervorstehenden Felsdorn aufgefangen, der so scharfkantig und glatt war, dass weder Schnee noch Eis es bisher geschafft hatten, dort Fuß zu fassen. Wir hörten einen dumpfen Schlag, das Brechen von Wirbeln und das Rasseln des Saumzeugs. Dann war alles bis auf den in die Schlucht hinabrieselnden Schnee still.</p> <p>Als Albrecht mir signalisierte, den zum Stehen gekommenen Tross aus hundert schreckensbleichen Gesichtern wieder in Bewegung zu setzen und schnellstmöglich aus der unwegsamen Passage herauszubringen, erteilte ich den Zugführern das Kommando zum zügigen Durchmarsch, blieb selbst jedoch an der Absturzstelle zurück, wo ich mich an der Felskante sicherte und in die Tiefe spähte. Alyssa lebte noch. Ich zweifelte jedoch, dass sie bei Bewusstsein war, da sie bis auf das seichte Pulsieren ihrer Flanken vollkommen reglos dalag.</p> <p>Die griff- und trittarme Wand fiel bis auf die unregelmäßig verteilten Mulden, Rinnen und Wülste fast senkrecht nach unten in die Tiefe und war in großen Teilen vereist. Kein gutes Eis allerdings. Zu dünn, um sich mit den Hauen der Eisgeräte daran festzuhalten, aber zu dick, um mit dem darunter liegenden Fels arbeiten zu können, zudem hatte der Frühling das Eis porös werden lassen und teilweise mit losen Schneemassen, die vermutlich aus den höheren Lagen abgerutscht waren, bedeckt. Man musste nur scharf in die Schlucht hinabsehen, um bereits kleine Lawinen aus pampigem Schnee und löchrigen Frostklumpen von der Wand zu schlagen. Aber das war im Grunde alles kein Problem, da wir ja von oben sichern konnten. Gerade als ich mich wieder aufrappeln wollte, klinkte sich ein zweites Karabinergeschirr in meine Sicherung ein.</p> <p>»Schon einen günstigen Zustieg gefunden? Brauchen wir Eisgeräte?«, fragte mich Falk und lehnte sich nach vorn, um die Klettermöglichkeiten der Wand zu inspizieren. Beim Anblick des seltsam über den Mauervorsprung gefalteten Tierkörpers zuckte er heftig zusammen und stöhnte vor Mitleid auf, fing sich aber sogleich wieder und fragte, ob er einen Abseilstand anlegen solle. Ich schüttelte den Kopf und löste meine Sicherung.</p> <p>Da die Entscheidungsgewalt nicht bei mir lag, schlug ich mich auf dem schmalen Steig bis zu Albrecht vor und erklärte ihm die Situation. Er zeigte sich davon jedoch völlig ungerührt und meinte, dass sich eine Bergungsmannschaft am nächsten Morgen um den toten Kameraden und die verlorene Fracht kümmern würde. Tot? Ich dachte, Albrecht hätte meine Meldung nicht richtig verstanden, doch als ich ihm die Sachlage erneut auseinandersetzen wollte, schnitt er mir das Wort ab und sagte bestimmt: »Ich spreche von morgen früh und morgen früh wird sie tot sein.« Da mich Albrechts praktische Überlegungen ebenso wenig überzeugten, wie er sich von meinen frommen Prinzipien beeindrucken ließ, er aber keinen Gebrauch von seiner Befehlsgewalt machte, gerieten wir in einen kleinen Disput.</p> <p>Albrecht war nicht bereit, den Marsch zu unterbrechen, nur weil eines der Mulis ausgefallen sei. Der Verlust sei tragisch, aber kompensierbar. Die Verzögerung, die wir durch die Bergung in Kauf zu nehmen hätten, würde das geplante Marschziel sowie die Termine für den nächsten Tag ins Wanken bringen. Er bedauere zwar, dass mit Alyssas Fracht die komplette Frischnahrung verloren gegangen sei, sehe jedoch kein Problem darin, die Truppe mit Konservennahrung vorlieb nehmen zu lassen, anstatt sie mit Obst und Brötchen zu verhätscheln. Noch nicht einmal einer medizinischen Notversorgung des Verletzten wollte er zustimmen, da die Stelle schwierig zu klettern sei und somit eine Gefahr für Menschenleben darstelle. Alyssas Sturz sei der Beweis für die Tücke dieser Passage. Auch für einen Hubschrauber sei die überhängende Wand in der schmalen Schlucht schwer anzufliegen. Um Mann und Material erfolgreich bergen zu können, müssten diese zuvor von einem Rettungstrupp an eine frei zugängliche Stelle evakuiert werden.</p> <p>Als sich Falk einmischen wollte, ermahnte ich ihn mit einem strengen Blick, Ruhe zu bewahren. Sein Opfer würde der Lage auch nicht dienen. Wenn Albrecht seinen Willen durchsetzen wollte, würde er das ungeachtet Feldwebel Falk Theodor Kastls ehrenwerter Meinung auch tun. Schlimmstenfalls würde er dem vorlauten Mittenwalder Hitzkopf sogar noch eine förmliche Rüge einbrocken. Es genügte, dass ich mit meiner beständigen Widerrede möglicherweise die Saat für unterschwelligen Unmut zwischen den beiden Gebirgsjägerstandorten streute, obwohl mich Heidt vor meiner Abreise eindringlich darum gebeten hatte, mich zu benehmen und nicht ständig zu widersprechen.</p> <p>Ich war bereits auf eine Eskalation oder ein abruptes Machtwort gefasst, als mich Albrecht nach einigem Hin und Her mit seinem Segen überraschte. Er wies jedoch nachdrücklich darauf hin, dass die Verzögerung durch die Rettungsaktion einen Weitermarsch für mich und meine freiwilligen Helfer unmöglich machen würde. Die Tage seien zu kurz und das Wetter reine Spekulation. Ich versicherte ihm, dass ich mir der Konsequenzen meiner Entscheidung bewusst sei, und bat um Mann und Material für die bevorstehende Bergungsaktion. Ich hielt es für das Klügste, den Rettungstrupp aus beiden deutschen Gebirgsjägerbataillonen zu rekrutieren, und brauchte sowohl angelernte Veterinärmediziner als auch fähige Kletterer.</p> <p>»Sie nehmen von den Lebenden und werfen es vor die Toten, Hauptmann Fenner«, tadelte mich Albrecht, stellte mir jedoch sogleich zwei Leute zur Seite, denen das Wohlergehen des verunglückten Tieres so sehr am Herzen lag, dass sie sich freiwillig zur Umkehr meldeten: Leutnant Soiren, ein junger Offizier aus dem Veterinärzug der Tragtierkompanie, und Obergefreiter Gladstein, Alyssas Führer. Falk, Strefler und ich stellten die Mittenwalder Fraktion.</p> <p>Auch an Ausrüstung ließ Albrecht es uns nicht mangeln, sondern lud uns mächtig viel Zeug auf die Schultern: von den benötigten Seillängen über das medizinische Versorgungsmaterial bis hin zu Handseilwinde und Funkgerät. Die Österreicher borgten uns ihre für den Marsch ohnehin nicht benötigten Steigeisen und Eisgeräte, damit wir uns leichter in den Eisrinnen und an den verglasten Wänden bewegen können würden. Bevor Albrecht uns ziehen ließ, handelte er noch schnell alle protokollarischen Formalitäten ab, drückte mir ein schwarzes Kästchen in die Hand und versicherte mich nachdrücklich Leutnants Soirens veterinärmedizinischer Fähigkeiten.</p> <p>Die anschließende Bergungsaktion verlief nur wenig überraschend. Jedem war klar, dass unsere Mission bestenfalls darin bestehen konnte, Alyssa den Gnadentod zu schenken und unser Gewissen zu erleichtern, indem wir uns einredeten, es wenigstens versucht zu haben. Als wir den Mauervorsprung erreichten, sahen wir auf beiden Seiten Rinnsal aus Blut, das den Fels entlang rann, um entweder als zähe Tropfen in die Tiefe zu stürzen oder an der Unterkante des Vorsprungs zu dunkelroten Eiszapfen zu gefrieren. Alyssas Rippen hatten zerfranste Löcher in das rhyolithbraune Samtfell gestoßen und ragten mit stumpf zersplitterten Enden in den Himmel. Ein leise röchelndes Schnaufen drang durch ihre Nüstern. Ihre Augen waren geschlossen. Wir dachten zunächst, sie hätte das Bewusstsein verloren, da weder das Klappern der Karabiner noch das Setzen der Wandnägel, das Scharren der Steigeisen an den eisfreien Felsplatten oder unsere Unterhaltungen auch nur die geringste Regung auf ihrem trotz der tragischen Umstände noch immer edlen und schönen Gaulgesicht hervorgerufen hatten. Erst als Gladstein vorsichtig ihren Kopf streichelte, kam Leben in den bis dahin reglosen Körper. Die Vorderläufe zappelten unkrontrollier in der Luft und das leise Röcheln verwandelte sich in ein gequältes, gurgelndes Stöhnen, dessen Echo tausendfach durch die Schlucht hallte. Der Hinterleib verharrte hingegen still, als sei er schon gestorben.</p> <p>Als sich Alyssas Augen öffneten und starr und traurig in den weißen Himmel blickten, glaubte ich ein stummes Klagelied zu hören. Ein immerwährendes Lebewohl und eine Verabschiedung von allem Diesseitigen. Ich schämte mich für mein Glück, weiterleben zu dürfen, und hoffte, dass Alyssa mir dieses Glück verzieh. Ungeachtet ihrer unkontrollierten Tritte nahm Gladstein sie in den Arm und redete beruhigend auf sie ein, während der Veterinär nicht viel für sie tun konnte, außer mir das Offensichtliche in Medizinerdeutsch wiederzugeben. Doch selbst der Laie verstand, dass Alyssa nur durch einen raschen Tod von ihren Leiden erlöst werden konnte. Darum zögerte ich nicht, sondern nahm meinen Helm und meine Mütze ab und nickte Soiren zu.</p> <p>Falk bekreuzigte sich und Gladstein weinte in Alyssas struppige Mähne, während sich Soiren an die Arbeit machte. Ich bot ihm meine Hilfe an, doch er wimmelte mich ab und zog mit sicherer, fachkundiger Hand die Spritzen auf.</p> <p>Schweigend hingen wir in der Wand und warteten auf den Tod. Ich war mit meinen Gedanken jedoch schon längst nicht mehr bei der Sache, sondern stand unbequem mit den vorderen Zacken meiner geborgten Steigeisen auf einem schmalen Felstritt und ging im Geiste die nächsten Punkte der Tagesordnung durch. Das Wetter bereitete mir ein wenig Sorgen. In demselben Maß, wie das Tageslicht nachließ, zogen Wind und Kälte an, der Himmel war weiß und die Luft rau und dünn. Ich hoffte jedoch auf Unterstützung durch das Hubschrauberregiment, denn ich hatte Strefler am Anseilpunkt zurückgelassen, um sich wegen des Abtransports und der Verbringung der Bergungsmannschaft mit den Heeresfliegern in Verbindung zu setzen.</p> <p>Soiren meldete Alyssas Tod und nach einer obligatorischen Schweigeminute beendete ich das Zeremoniell, indem ich mir meine Mütze und meinen Helm überstülpte und mich mit einem kurzen ›Danke Leute!‹ für die nicht unbedingt selbstverständliche und deswegen tapfere Freiwilligenarbeit erkenntlich zeigte. Ich wollte gerade das weitere Prozedere bekannt geben, als sich ein roter Helm über die hohe Kante der Wand schob.</p> <p>Es war Strefler. Er signalisierte mir, dass das Hubschrauberregiment der Entsendung eines leichten Transporthubschraubers zugestimmt habe, der uns in genau zwei Stunden an den von mir vorgeschlagenen Koordinaten abholen würde. Die Bergung des vorerst am Berg verbleibenden Leichnams sowie des Sattelzeugs und der Fracht sei ebenfalls bereits für den folgenden Morgen angesetzt. Das waren gute Neuigkeiten. Alles schien nach Plan zu verlaufen. Ich zollte auch Strefler meinen Dank und verteilte die Rollen neu: Während ich die Mittenwalder mit der Sicherung des auf dem höher gelegenen Mauersims gestrandeten Lastenkorbs beauftragte, sollten Gladstein und Soiren zunächst den Leichnam an der Wand vertauen und anschließend ihre beiden Kameraden bei der Bergung von Alyssas Traglast unterstützen. Ich selbst wollte mich nochmals persönlich mit den Fliegern in Verbindung setzen, um mich einerseits der Details unserer Hals über Kopf geplanten Luftevakuierung zu vergewissern und andererseits weitere Absprachen bezüglich unserer Verbringung zu treffen. Ich hatte nicht ohne Grund auf unsere Kameraden von der Fliegertruppe gesetzt, sondern hoffte, dass sie uns anstatt ins Tal auszufliegen über dem Biwak unserer Marschkompanie abwerfen würden.</p> <p>Es entbrannte jedoch eine hitzige Diskussion über meine Entscheidung. Falk wollte nicht einsehen, warum er sich um die Bergung eines Lastenkorbes kümmern sollte, während der tote Körper seines Trägers eine einsame, kalte Nacht am Berg verbringen musste. Es war wie zuvor zwischen mir und Albrecht, nur dass ich nun Albrechts Standpunkt vertrat und Falk die Rolle des Querulanten übernahm. In Anbetracht des schmalen Zeitfensters, das uns bis zum Eintreffen der Hubschrauber verblieb, gab ich nach und versprach mich der Entscheidung der Truppe unterzuordnen. Sie sollten unter sich ausmachen, ob sie lieber den Leichnam bergen würden, um ihm bis zu seiner Entsorgung in der Tierkörperbeseitigungsanlage einen Totenschrein auf dem schmalen Bergabsatz, von dem sie abgerutscht war, zu errichten. Oder ob sie lieber Alyssas Tragekörbe bergen wollten, die Frischverpflegung für die Truppe enthielten. Ich gab ihnen vier Minuten und sie hatten vier Stimmen: Soiren, Gladstein, Falk und Strefler. Wenn sie sich nicht einigten, würde meine Stimme den Ausschlag geben.</p> <p>An dieser Stelle unterbrach ich meine Erzählung und ermahnte Elli, endlich seinen Tee zu trinken, der inzwischen schon stark abgekühlt war. Elli schnupperte skeptisch an der Tasse und zog seine Stirn kraus: »Sie entschieden sich für das Versorgungspaket«, räsonierte er selbstsicher und trank trotz seines argwöhnischen Blicks einen kräftigen Schluck. Ich wollte wissen, wie er zu seiner, wie ich eingestehen musste, vollkommen richtigen Annahme gekommen war. Eliot schüttelte sich heftig, um den saueren Geschmack loszuwerden, und prustete: »Die beiden Veterinäre sind Mediziner, fachkundige und erfahrene Realisten, die eventuell bereits andere tragische Situationen haben durchstehen müssen: Unfälle, Fehlgeburten, Todesspritzen für kranke Tiere. Ich bin mir sicher, dass sie Alyssa sehr verbunden waren und nicht wollten, dass sie die Versorgungsmittel umsonst den Berg hinaufgeschleppt hatte«, analysierte Elli und lag auch damit vollkommen richtig. So ähnlich hatten Soiren und Gladstein tatsächlich argumentiert.</p> <p>»Falk«, fuhr Elli fort, »hat das Ganze sicherlich etwas emotionaler gesehen, aber auch er wird sich letzten Endes für das Versorgungspaket entschieden haben, weil er seinen Kameraden durch Alyssas Lastkörbe den toten Freund ins Gedächtnis rufen und eine Art Totenschmaus zelebrieren wollte. Außerdem wollte er sich sicherlich einerseits bei den immerhungrigen Kameraden beliebt machen, sowie andererseits bei seinem Vorgesetzten einen guten Eindruck hinterlassen, indem er eine rationale Entscheidung traf, die allen am meisten nützte.« Wieder lag Elli richtig, bis auf die Fehlannahme, dass Falk sich bei mir in ein gutes Licht hätte rücken wollen. Im Gegenteil, Falk lässt keine Gelegenheit ungenutzt, meine Schmerzgrenzen bis aufs Äußerste auszureizen.</p> <p>»Und Du«, spann Elli weiter, als spräche er von einem Dritten: »Du hast diese Abstimmung doch nur zugelassen, weil Du von vorneherein wusstest, wie sie ausgehen würde. So konntest Du Deinen Willen durchsetzen, ohne als Despot zu gelten. Du wolltest mit einer Siegestrophäe zum Tross zurückkehren und da machte eine Truppenration Frischverpflegung eben mehr her als die Bergung einer Leiche. Es ging um die Ehre, ums Prinzip und ums Kleinkarierte: Hauptmann gegen Hauptmann, Wort gegen Wort, ein Gebirgsjägerstandort gegen den anderen.«</p> <p>Ich wehrte mich gegen seine Unterstellungen, aber Eliot grinste nur: »Außerdem ist es urmenschlich, das Versorgungspaket zu wählen. Erst der politisch zurechtgestutzte Gedanke zieht die Bergung des toten Körpers überhaupt in Betracht.«</p> <p>»Und Du?«, wollte ich wissen: »Wie hättest Du Dich entschieden?«</p> <p>»Ich?«, fragte er, als ob ich jemand anderen gemeint haben könnte, und tat ganz überrascht, um Zeit schinden.</p> <p>»Du hättest für die Bergung des toten Mulis plädiert, nicht wahr?«, unterbrach ich seine vorgeschobene Grübelei. Er sah erstaunt auf: »Wie kommst Du darauf? Nur weil ich mich zuvor selbst einen Pazifisten nannte?«</p> <p>»Nein«, sagte ich, »sondern weil ich glaube, dass Du Dich vor der moralischen Verantwortung scheuen würdest. Stattdessen würdest Du Dich lieber am Rockzipfel Deiner vagen Vorstellung von Recht und Unrecht festhalten und anderen die Entscheidung überlassen, indem Du Deine Stimme in eine leere Waagschale wirfst, wohl wissend, dass Du damit sowieso nichts bewirken würdest.« Ich rechnete mit ihm genauso bitterböse ab wie er zuvor mit mir.</p> <p>»Was?«, fuhr er plötzlich lebhaft auf, als hätte er seine Krankheit vergessen, und schaute mich vorwurfsvoll an. Eigentlich hätte ich vor Angst, dass er mich gleich aus dem Zimmer werfen würde und nie mehr wiedersehen wollte, kleinlaut kapitulieren müssen, doch stattdessen lachte ich ihn vor Freude über meine Punktlandung aus: »Ich habe ins Schwarze getroffen, nicht wahr?«</p> <p>Elli schüttelte den Kopf und ließ sich zurück in seine Kissen sinken: »Gar nichts ist wahr«, sagte er: »Am allerwenigsten Deine an den Haaren herbeigezogene Charakteranalyse über mich. Erzählst Du mir jetzt die Geschichte zu Ende oder frönst Du lieber weiter Deiner menschlichen Irrtümer?« Ich versprach das Frönen zu lassen, wenn er nur endlich seinen Tee austränke. Trotzig nahm er einen weiteren Schluck und verzog das Gesicht.</p> <p>Wie aufgescheuchte Schneehasen suchten unsere Kameraden Deckung in ihren Iglus, Zelten und Windverschanzungen als der Luftpanzer der Heeresflieger den friedlich vor sich hindösenden Biwakplatz mit einem Trommelfeuer aus Schnee und Eis unter Beschuss nahm. Nur Albrecht stand gelassen in den peitschenden Schneewehen und zeigte dem Piloten, wo dieser die an dem langen Kabel der Seilwinde befestigte Fracht ablassen konnte. Anschließend löste Albrecht die Sicherungsschlingen von dem Lastenkorb und gab Zeichen, das Stahlseil einzuholen.</p> <p>Während die Seilwinde surrend ihre Tätigkeit aufnahm, machten wir uns klar zum Ausstieg. Die Maschine konnte auf dem unebenen, abschüssigen und schmalstreifigen Gelände nicht landen, manövrierte jedoch so nah an den Biwakplatz heran, wie es die teils überhängende Bergwand und die aufwirbelnden Schneemassen zuließen. Auch Albrecht hatte inzwischen Zuflucht hinter einer Schutzwand aus Geröll und Schnee gesucht, als wir zunächst unsere Ausrüstung über Bord warfen und schließlich hinterher sprangen.</p> <p>Nachdem der Pilot abgegrüßt und die Rotorblätter des Luftpanzers in sichere Höhen gelenkt hatte, legte sich der Schneesturm. Die Mannschaft kroch wieder aus ihren Unterschlüpfen hervor und Albrecht und ich gaben uns versöhnlich die Hand. Da alle bereits gespannt auf Neuigkeiten warteten, war Falk nun ganz in seinem Element: abenteuerliche Heldengeschichten erfinden. Ich ließ ihn erzählen und inspizierte inzwischen das Iglu, das Albrecht für uns hatte bauen lassen. Es war tadellos.</p> <p>Wie Eliot am Ende meiner Erzählung richtig feststellte, hatte ich nicht selbst getötet, sondern töten lassen, und keinen Mord begangen, sondern palliative Abhilfe geleistet. Als ich jedoch darauf bestand, dass dies auf den Umstand des Tötens reduziert keinen Unterschied mache, stimmte er mir vorbehaltlos zu und fragte, ob es mir schwergefallen sei.</p> <p>»Nein, es war ganz einfach«, gestand ich reumütig. Ellis Gegenwart machte mich verlegen und zum ersten Mal befiel mich beim Erzählen dieser Geschichte ein Gefühl von Scham und Schuld über meine kaltherzige Entscheidung – nicht über die Entscheidung an sich, sondern über die Kaltherzigkeit daran. Wieso kenne ich kein Mitleid mit den Dingen?</p> <p>Nach einem nachdenklichen Nicken fügte Elli hinzu, dass er hoffe, niemals in solch eine Situation zu geraten. Er wolle weder über Leben und Tod entscheiden, noch einen Leichnam ungeweiht zurücklassen müssen. Ich schwieg, hoffte jedoch dasselbe für ihn. Wenn ich recht überlege, hätte Tomo wohl auch für die Bergung des gefallenen Kameraden anstatt des Vesperkorbs plädiert. Und zwar nicht aus moralischer Feigheit, wie ich sie Elli unterstellt hatte, sondern aus reiner Herzensgüte – einer Herzensgüte, die meinem stumpfen Empfinden schlicht unbegreiflich ist. Wahrscheinlich ist auch Elli kein Feigling.</p> <p>»Vielleicht haben Dein Befehl und Dein Votum am Ende alle erlöst. Wie ein stummes Sühnopfer.« Eliot schaute mich versöhnlich an. Ich zuckte zuerst nur mit den Schultern, schloss dann aber doch meinen Frieden mit ihm, mit mir selbst und mit dem ganzen Rest. Er hatte womöglich Recht. Selbst mit der Rückendeckung aller Protokolle, Gesetze und Expertenmeinungen der Welt, muss es am Ende jemanden geben, der die Schuld auf sich nimmt und sich im Namen aller ans Kreuz nageln lässt.</p> <p>Eliot stemmte sich auf seine Ellenbogen und suchte nach einem Platz, wo er seine Tasse abstellen konnte. Als ich die Sachen auf dem Nachttisch zusammenschob, fiel mir ein kleiner Stapel Visitenkarten ins Auge.</p> <p>»Die waren für die Tänze gedacht«, erklärte Eliot sofort und lachte: »Aber daraus ist nun leider nichts geworden.« Ich streckte meine Hand danach aus, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne und griff stattdessen nach der Tasse, um sie auf dem Nachttisch abzustellen. Danach wanderte mein Blick wieder zu den Visitenkarten. Eliot nahm daraufhin davon eine vom Stapel und hielt sie mir hin: »Pragen hat mich dazu überredet.« Ich nahm sie in die Hand und schaute sie genau an. Sie war aus dünnem weißem Papier und vermutlich mit einem einfachen Bürodrucker ausgedruckt. Im Gegensatz zu den Visitenkarten meiner Stabsabteilung besaß sie jedoch Visitenkartenformat und die Ränder waren gerade abgeschnitten. Ellis Stimme klang müde, als er mich wissen ließ, dass ich die Karte nicht auswendig lernen müsse, sondern behalten dürfe.</p> <p>Ich hatte mir die Nummer längst gemerkt. Dennoch steckte ich die Visitenkarte tief in meine Tasche und achtete beim Herausziehen meiner Hand darauf, dass ich nicht aus Versehen das Stück Papier mit herausriss. Wie oft habe ich bereits Telefonnummern mit anderen Bergsteigern und Sportlern getauscht. Man trifft sich in den Trainingslagern der Winterwettkämpfe, auf Berghütten oder in vermeintlich menschenleer geglaubten Regionen fernab der Zivilisation, wo man sich seine Lebensgeschichte in Form von zurückliegenden Gipfelbesteigungen, bevorzugten Kletterstilen und geplanten Touren erzählt. Wenn man sich nicht auf Anhieb im höchsten Grade unsympathisch ist, schreibt man anschließend seinen Namen und Telefonnummer auf eine Konservenbanderole oder das Preisetikett der nagelneuen, atmungsaktiven, wasserdichten, wind- und wetterabweisenden Winterhandschuhe oder was auch immer man gerade zur Hand hat und verabschiedet sich mit einem zwar ernst gemeinten – denn gute Kletterpartner sind rar – aber unverbindlichen: ›Meld Dich mal!‹ Man sieht sich jedoch in ziemlich genau hundert Prozent der Fälle nie wieder.</p> <p>Einige dieser Bekanntschaften nahmen zwar tatsächlich später wieder Kontakt zu mir auf, doch ließ sich entweder kein gemeinsames Ziel oder kein passender Termin finden. Ich muss gestehen, dass derlei gemeinsame Unternehmungen zumeist an meiner Lethargie scheiterten. Ich bin kein Globetrotter, kein Höhensüchtiger, kein Todsuchender und mag generell keine Menschen um mich herum. Selbst bei der Wahl von Seilgefährten bin ich eigenbrötlerisch und versuche, Gesellschaft zu vermeiden. Doch mit Elli war alles anders. Wir hatten uns weder über zurückliegende Kletterpartien noch über geplante Höhenabenteuer unterhalten, sondern er hatte mir trophäenheischenden Größenwahn und Geltungssucht unterstellt und ich ihn einen moralischen Feigling genannt. Wir müssen uns auf jeden Fall wiedersehen.</p> <p>Als ich mich wieder Eliot zuwandte, waren seine Augen geschlossen. Deswegen sprach im mit gedämpfter Stimme: »Schlafen Sie, Schütze Luv.« Er bewegte seine Lippen, ohne die Augen zu öffnen: »Aye, aye, Jäger Fenner.« Nach einem letzten Lächeln, das ihn erhebliche Mühe zu kosten schien, verkroch er sich so tief unter seine Decke, wie es deren für seine Körpergröße knapp bemessenen Ausmaße zuließen. Ich blieb jedoch noch ein paar Minuten ruhig an seiner Bettkante sitzen, und dachte über die verlorene Zeit und die verpassten Gelegenheiten nach, die in den Begriffen Schütze und Jäger begraben lagen.</p> <p>Während ich darauf wartete, dass er fest eingeschlafen war, sah ich mich vorsichtig um. Er hatte seine Kleidung wie zur Auslage in einem Modegeschäft auf einem Stuhl drapiert und seine Schuhe darunter aufgestellt. Auf dem Nachttisch lagen die Dinge, die ich beiseite geräumt hatte: seine Geldbörse, sein Schal, eine kleine Tüte Salbeibonbons, ein gefaltetes Taschentuch und der Visitenkartenstapel. Ich streckte meine Hand aus und berührte jeden Gegenstand mit der Spitze meines Zeigefingers.</p> <p>Als mir sicher war, dass er schlief, sammelte ich das Teegeschirr ein, knipste die Nachttischlampe aus und erhob mich vorsichtig. Aller Umsicht zum Trotz ließ es sich nicht vermeiden, dabei die Matratze in Bewegung zu setzen. Eliot raunte etwas in die Dunkelheit.</p> <p>Ich verhielt mich still und wartete einen Moment, er schien jedoch, nicht aufgewacht zu sein. Nachdem ich die Tür sachte hinter mir zugezogen hatte, schlich ich das Treppenhaus hinunter, brachte das Teegeschirr zur Gastwirtschaft im Nebenhaus und rannte über die schneebeladene Wiese und den planierten Parkplatz zurück zum Festheim. Der Schnee unter meinen Füßen glühte, denn nach dem gelungenen Wurf spielte es keine Rolle mehr, dass die Cherubim der gefallenen Eva den Zugang zum Paradies verwehrten, da ich nun selbst ein Cherub war.</p> <p>Es gibt so viel mehr von diesem Abend zu berichten: Wie ich den Drang zu singen verspürte, aber den Text nicht kannte, wie sich meine Mittenwalder Landsmänner mit der Münchner Haute-Volée versöhnten, wie Pragen es immer wieder schaffte, meinen Fragen über Cecilias Identität auszuweichen, und wie Falk die gesamte Festtagsbagage in Staunen versetzte, mich eingeschlossen. Aber es ist bald fünf Uhr morgens und um sechs Uhr habe ich eine Verabredung mit Heidts Familie. Ich soll ihn und seine beiden Frauen auf einer gemütlichen Schneewanderung – und Heidts Betonung lag auf dem Wort ›gemütlich‹ – von Pignia über die Alp Neaza und den Pass Colmet führen, damit sie den Jahresausklang im Marienheiligtum Ziteil am Osthang des Piz Curvér mit Rosenkranz und feierlicher Andacht begehen können. Zuvor muss ich jedoch noch meine Sachen packen und Gurtzeug, Skier, Felle und Seile für die geplante Tour aus den Kammern der Winterkampfschule borgen.</p> <p>Während der nächsten vier Tage werde ich nun mit dem Heidtschen Dreigespann wallfahren, beichten, beten, singen, fasten und mich mit sündigen Gedanken auf meiner harten und klammen, dafür aber heiligen Rosshaarmatratze im Pilgerhaus herumwälzen. Dabei bin ich noch nicht einmal getauft. Aber wenn ich am Mittwochabend beizeiten nach Hause komme, werde ich ihn sofort anrufen. Ich werde ihm vielleicht ein gutes neues Jahr wünschen. So als Auftakt und dann lade ich ihn zu unserem Königsmarsch ein. Alles ein bisschen kurzfristig, aber jetzt erst mal genug davon, sonst komme ich am Ende noch zu spät.</p> <p>~ Wilhelm Fenner</p> </div> <div class="field field--name-field-ort field--type-link field--label-hidden field__item"><a href="https://www.openstreetmap.org/relation/939341">Mittenwald</a></div> <div class="field field--name-field-datum field--type-datetime field--label-hidden field__item">Sonntag, 29. Dez.. 1991</div> <div class="field field--name-field-bezugsort field--type-link field--label-inline"> <div class="field__label">Bezugsort</div> <div class="field__item"><a href="https://www.openstreetmap.org/relation/932489">Berg</a></div> </div> <div class="field field--name-field-bezugsdatum field--type-datetime field--label-inline"> <div class="field__label">Bezugsdatum</div> <div class="field__item">Samstag, 28. Dez.. 1991</div> </div> <div class="field field--name-field-kapitel field--type-integer field--label-above"> <div class="field__label">Kapitel</div> <div class="field__item">7</div> </div> <div class="field field--name-field-dateinummer field--type-integer field--label-inline"> <div class="field__label">Dateinummer</div> <div class="field__item">702</div> </div> Thu, 16 Mar 2023 20:01:34 +0000 eloroke 32 at https://www.adamsakte.de Ein neues Jahr https://www.adamsakte.de/Tagebuch/Ein%20neues%20Jahr <span class="field field--name-title field--type-string field--label-hidden">Ein neues Jahr</span> <span class="field field--name-uid field--type-entity-reference field--label-hidden"><span>eloroke</span></span> <span class="field field--name-created field--type-created field--label-hidden">Do., 16.03.2023 - 21:06</span> <div class="clearfix text-formatted field field--name-body field--type-text-with-summary field--label-hidden field__item"><p>Meine Welt ist geschrumpft. Das ursprünglich neunzig Autominuten entfernte München ist nun nur noch neun Ziffern auf dem Nummernblock meines Telefons entfernt und mein Phantomschmerz ist einer greifbaren Sehnsucht gewichen. Drei Monate lang zählte ich auf meinem Weg in die Stadt, zum Bahnhof oder ins Gebirge, wie oft ich die Isar überqueren musste, und schickte in jedem unbeobachteten Moment einen heimlichen Gruß mit dem Lauf des Wassers nach Norden. Doch meine Grüße blieben stets unerwidert, da der Fluss naturgemäß nur in eine Richtung fließt und keine Antworten zurückbringt. Meine Hoffnungen trieben zusammen mit meinen Wünschen und Träumen flussabwärts in eine leere Zukunft und alles, was mir blieb, war die Erinnerung an einen Abend. Aber mit dem kleinen Zettel, auf dem Ellis Name und Telefonnummer stehen, hat sich die Lage geändert. Mein Pessimismus wurde von einer für mich untypischen guten Laune vertrieben, der selbst die drei Tage im Marienschrein auf dem Piz Curvér nicht anhaben konnten, obwohl das ewige Knien auf den harten Holzbänken meine Geduld bisweilen so sehr strapazierte, dass ich mehr fluchte, als um mein Seelenheil zu beten.</p> <p>Seit gestern Nacht bin ich nun wieder zurück und war auch heute Morgen gleich in den Winterställen, um mich um Leto zu kümmern. Da wir uns vor meiner Abreise in die Schweiz nicht mehr gesehen hatten, erzählte ich ihr von meinem Treffen mit Elli. Sie nahm es genauso gleichmütig auf, wie all die anderen Dinge, die ich ihr bisher anvertraut habe. Leto hat nicht besonders viel Platz in ihrem Stall und bewegt sich deshalb kaum. Ich brachte sie dennoch ein wenig auf Trab, indem ich ein paar Heubüschel in meine Manteltaschen stopfte und sie danach suchen ließ. Nachdem sie alle Grashalme aus den Taschen gefressen hatte, rieb ich sie ein wenig ab und versprach ihr, dass der Winter nicht ewig dauern werde und sie bald wieder raus dürfe, hoch auf die Bergweide, die zurzeit unter einer dicken Schneedecke begraben liegt. Ich verabschiedete mich und klopfte in der Hoffnung, dass sie Brot gebacken hatten, bei den Gessners an den Fensterladen. Da jedoch niemand öffnete, zapfte ich lediglich ein paar Liter Milch und vermerkte meinen Besuch im Melkbuch.</p> <p>Als ich auf das Kasernengelände zurückkehrte, fand ich die Dienstgebäude genau so düster, trist und menschenleer vor, wie ich sie drei Stunden zuvor verlassen hatte. Die Wachpatrouille war gerade auf Streife. Ein junger Unteroffizier öffnete mir das Tor für Fußpassanten. Es war bereits kurz vor acht, doch die meisten Fußstapfen auf der weißen Schneedecke stammten von zierlichen Krähenfüßen anstatt von den breiten Sohlen der an unserem Standort üblichen Bergstiefel und der Schlagbaum trug eine dicke Schneehaube. So kurz nach Jahresumbruch ist das nichts Ungewöhnliches. Die Kaserne wird erst wieder zum Leben erwachen, wenn die Sternsinger durch sind.</p> <p>Ich folgte einer einsamen Fußspur zum Gebäude der Stabskompanie. Das Muster des Profils passte zwar zu meinen Stiefeln, aber ich hatte diese Tritte nicht gespurt. Die Abdrücke waren ein wenig kleiner und tiefer als meine. Die Tatsache, dass in den Büros meiner Stabsabteilung Licht brannte, verstärkte meine dunkle Vorahnung, dass Falk seinen Dienst im neuen Jahr anscheinend entgegen gängiger Standortgepflogenheit bereits vor den Heiligen Drei Königen angetreten haben könnte. Diese Planung war mir anscheinend entgangen. Ich hatte fest damit gerechnet, die erste Januarwoche in eigenbrötlerischer Zurückgezogenheit verbringen zu dürfen. Nun gut.</p> <p>Als ich durch die offenstehende Tür von Falks Büro spähte, sah ich, wie er gerade die Papierhäckselmaschine mit unserem alten Aktenkram fütterte. Der Motor und die Messer ratterten so laut, dass Falk mich nicht bemerkte. Gedankenverloren schob er der Maschine ein Blatt nach dem anderen in den Rachen. Auf seinem Schreibtisch lag ein aufgeschlagenes Comicheft, daneben ein angebissener Müsliriegel. Wie ich ihn so dasitzen und grübeln sah, erinnerte ich mich an Pragens Vorwürfe: ein gestohlener Hornschlitten, eine Lebensmittelvergiftung aufgrund ungegart verzehrter Fischstäbchen, eine Koffeinüberdosis durch Kauen von Kaffeebohnen, lebensgefährliche Klettereien auf den Kabeln der Bergbahn und die Simulation arktischer Klimaverhältnisse in der Kühlkammer der Mannschaftsküche. Wenn diese Aufzählung stimmt, könnte Falk tatsächlich ganz schön in der Bredouille sitzen.</p> <p>Die Bundeswehr kennt prinzipiell zwei Führungsmittel, um mit derartigen Missständen umzugehen: Bestrafung oder Erziehung, also Degradierung, Zwangsversetzung und Arrest oder Belehrung, Schikanedienst und Androhung von Schlimmerem. Ich mag keinen der beiden Wege, würde jedoch im Zweifelsfall jede Form von erzieherischer Gängelei einer echten Abstrafung vorziehen. Mit dem Bürgermeister, der Polizei, dem Betreiber der Mannschaftsküche und den geschädigten Zivilpersonen lässt sich vielleicht reden oder verhandeln. Wenn man dem Eigentümer des gestohlenen Hornschlittens anbietet, dass er diesen Winter keinen Schnee mehr vor seiner Tür zu schippen braucht, weil ein gewisser Herr Falk Theodor Kastl diese Aufgabe fortan für ihn erledigen wird, ist er vielleicht dazu bereit, die Anzeige wegen Diebstahls zurückzunehmen. Auch die Mannschaftsküche wird sich sicherlich über einen Küchenhelfer freuen. Beim Bürgermeister habe ich noch was gut und die Polizei gibt sich vielleicht mit ein paar Flensburger Punkten zufrieden. Die bundeswehrinterne Handhabung wird vermutlich der unangenehmste Teil, da ich Pragen davon überzeugen muss, die Sache nicht zu übertreiben. Außerdem werde ich wohl nicht darum herumkommen, Falk eine Standpauke zu erteilen. Aber nicht heute und auch nicht morgen, sondern erst übermorgen auf unserer Tour durch die Alpen.</p> <p>Ich klopfte an Falks Tür, um mich bemerkbar zu machen. Als er mich sah, meckerte er wie eine Ziege. Ich werde meinem Ruf als Fürst Myschkin eben in jeder Hinsicht gerecht, aber erst Falks Alberei erinnerte mich daran, dass ich während meiner Pilgerfahrt auf die tägliche Rasur verzichtet hatte. Mein Bart wächst schnell und zwar genau so, wie er in dem Buch, das meinen Namen trägt, beschrieben wird. Bereits nach einer Woche ohne Schaum und Messer erreichen die Härchen in meinem Gesicht ihre volle Länge und Dichte. Die Wangen bleiben dabei jedoch gänzlich kahl und auf der Oberlippe bildet sich nicht mehr als ein weicher Flaum. Nur an meinem Kinn sprießt etwas, das man Bart nennen könnte. Das Gute an diesem widerwilligen Wachstum ist, dass ich meinen Bart im Gegensatz zu dem Wildwuchs auf meinem Kopf nicht schneiden muss, um ihn im Zaum zu halten. Die Barthärchen an meinem Kinn erreichen mit Mühe und Not einen Zentimeter. Dieser Mangel ist mir jedoch lieber als der Überfluss, mit dem manch anderer gesegnet ist. Heidt zum Beispiel tropft nach jedem Schluck aus einem breiten Humpen wie das Gras entlang der Isarböschung.</p> <p>Als ich während meiner Zeit als Leutnant einen Antrag auf Bartwuchs gestellt hatte und kurz darauf meine ersten Ergebnisse auf dem Kasernengelände mit mir herumtrug, wollte man mir den Bart aufgrund seiner Dürftigkeit nicht genehmigen. Nach einem gründlichen Blick in die Formulierungen der Dienstvorschrift und einigen millimetergenauen Abmessungen mit einem Lineal durfte ich meinen kümmerlichen Ansatz am Ende doch behalten. Zusammen mit meinen blauen Augen und meinem den meisten Menschen hell erscheinenden Haar sah ich meinem Namensvetter so ähnlich, dass ich mich bisweilen fragte, ob diese Ähnlichkeit auch entstanden wäre, wenn man mir einen anderen Namen gegeben hätte. Der Professor sagt, dass Gene fortwährend lernen und sich verändern können. Er nennt diesen Vorgang Genmetamorphose. Ganz abwegig wäre solch ein nachträglicher Entwicklungssprung in meinem Erbgut also nicht.</p> <p>Nachdem Falk genug über meinen Bart gemeckert hatte, sprang er auf, um mich zur feierlichen Begehung des neuen Jahres allerherzlichst in seinen Schwitzkasten zu nehmen und erst wieder von mir abzulassen, als sich meine Atemnot durch ein ersticktes Keuchen bemerkbar machte. Durch seine Eisenstemmerei hat der Mann einfach zu viel Kraft. Während ich nach Atem rang, fragte er lammfromm, wann denn heute Dienstschluss sei. Es schien mir fast, als ob er den Angriff auf mein Leben nur veranstaltet hatte, um mich dazu zu bringen, ihn schnellstmöglich wieder loswerden zu wollen. Als ich ihn darauf ansprach, gab er es sogar zu: Er habe Anna in diesem Jahr noch nicht gesehen und dabei hätte er ihr Hilfe bei der Ausbesserung ihres durch ein winterliches Unwetter beschädigten Gewächshauses versprochen. Sie habe die zerbrochenen Fenster bisher nur notdürftig mit Plastikplanen abgeklebt und jeder Tag ohne schützende und sonnenlichtdurchlässige Glaswand stelle eine Gefahr für ihre Blumen dar. Da auch ich andere Pläne hatte, versprach ich ihm, den Tag nicht allzu lang werden zu lassen, und überlegte, wie ich ihn mir bis zu einem vorzeitigen Dienstende zur Mittagszeit vom Hals schaffen konnte.</p> <p>Da es immer genug zu tun gibt und Falk nicht besonders zimperlich ist, kam mir auch gleich eine Idee: Wir hatten im vergangenen Jahr, kurz vor Weihnachten die Ausrüstung unserer Stabsabteilung sondiert, alten Kram ausgemustert, frisches Material nachgekauft und alles neu inventarisiert. Ich bat Falk, die alten Seile, Schlingen und Gurte zu verbrennen. Danach könne er mit seinem Tag anfangen, was er wolle. Er rieb sich freudig die Hände, fragte jedoch nach, wozu es nötig sei, das alte Material zu vernichten. »Damit sie niemand stiehlt«, sagte ich und ließ den Feuerteufel, dem mein Argument nicht so recht einzuleuchten schien, ans Werk gehen.</p> <p>Kletterausrüstung ist unheimlich teuer, angefangen bei den Seilen bis hin zu zusätzlichem Firlefanz wie die neuesten Klemmkeil- und Karabinergenerationen. Die Ausrüstung für den Winter schlägt eine noch tiefere Scharte in den Geldbeutel: Neben wetterfester Kleidung braucht man Skier, Stöcke und Steigfelle sowie Eisgeräte und Biwakmaterial. Als junger Rekrut hat mich dies zunächst entmutigt, denn die Ladensumme geht dabei sehr schnell in die Tausende, viel mehr als mein damaliger Sold hergab. Ich hatte zwar wie jeder Gebirgssoldat eine Grundausrüstung, aber für unsere Touren durch die winterlichen Hochlagen der Alpen bekamen wir zusätzliches Material wie Rohrschrauben, Eispickel und Grödel gestellt. Dieses Arsenal an Eisen, Aluminium, Chrom und Synthetikschlaufen war für mich damals der reinste Schatz, der jedoch leider nach jeder Tour wieder abgeben werden musste. Sicher hätte ich auch ohne das ein oder andere Gerät auskommen können, aber ich war eben von Berufs wegen Luxus gewöhnt.</p> <p>Da es mir somit auf meinen einsamen Wochenendexkursionen durch Schnee und Eis an allem mangelte, kam ich bald auf ziemlich verwegene Ideen. An meinen Kniebundhosen waren links und rechts zwei große Taschen angebracht. Wirklich riesige Taschen, so groß wie kleine Säcke. Darin konnten mit Leichtigkeit ein Satz Klemmkeile, ein Bündel Reepschnüre oder auch eine Stirnlampe verschwinden. Natürlich war mir trotz der mir nachgesagten Weltfremdheit klar, dass dies Diebstahl wäre. Doch während ich die klingenden Karabiner, singenden Wandnägel und klirrenden Keile immer wieder durch meine Hände gehen ließ, überlegte ich hin und her, wie ich mir am schnellsten eine wintertaugliche Ausrüstung für meine privaten Klettereien zusammenhamstern konnte, und kam dabei auf die naheliegende, wenngleich absurde Idee, dass ich während eines Gebirgsmanövers meine Ausrüstung verlieren und später bei einem Spaziergang wiederfinden könnte. Bei solchen Unternehmungen gab es immer ein wenig Materialschwund zu verbuchen. Seile surrten unrettbar in die Tiefe. Ein Eisgerät entschlüpfte beim Standmachen dem unaufmerksamen Griff seines Herrn. Hauen brachen. Mauerhaken ließen sich nicht mehr aus der Wand herausarbeiten.</p> <p>Während einer der unzähligen Expeditionen in die Bergwelt meines Heimatstandorts malte ich mir aus, wie ich meine Eispickel in eine Schlucht hinabwarf, den Verlust am Abend abschrieb und das bedauerlicherweise verloren gegangene Material am nächsten Morgen ganz zufällig wiederfinden würde. Noch besser wäre es, überlegte ich, meinen kompletten Ausrüstungssack in die Tiefe zu stoßen, um am nächsten Tag gleich eine vollständige Felsausrüstung bergen zu können. Ich war wirklich verzweifelt. Für meinen Plan benötigte ich jedoch eine gute Stelle, wo man mich nicht hinunterschicken würde, nur um eine Handvoll für die Bundeswehr leicht verschmerzliches Material zu bergen. Vielleicht während eines Quergangs oder beim Überbrücken einer menschenfeindlichen Schlucht. Ich dachte angestrengt darüber nach, wie ich es anstellen sollte, dass mir meine beiden Eisgeräte und mein gesamter Ausrüstungssack abhandenkommen sollte. Es war ja alles angeschnallt und festgeschlauft. Außerdem machte ich mir darüber Sorgen, ob die Geräte den Aufschlag aus so großer Höhe überhaupt verkraften würden. Mein Plan ging irgendwie hinten und vorne nicht auf.</p> <p>»Denk noch nicht einmal daran«, sagte Oheim plötzlich mit leiser, aber strenger Stimme. Er war von hinten an mich herangetreten, hatte mich an der Schulter zu sich hergedreht und sah mir nun fest in die Augen. Er konnte anscheinend Gedanken lesen. Entweder, weil mein sehnsüchtiger Blick auf die Gerätschaften meine Absichten verraten hatte, oder einfach, weil jeder so dachte, der sich von seinem schmalen Monatssold eine mehrere tausend Mark teuere Ausrüstung zusammensparen musste. Vielleicht hatte er ja selbst einst so gedacht.</p> <p>Mir blieb nichts anderes übrig, als den langen, zähen Weg zu gehen und mir die Ausrüstung vom Mund abzusparen. Deswegen war ich vor Freude außer mir, als ich eines Tages erfuhr, dass die Winterkampfschule altes Zeug aussortierte und einfach wegwarf. Nach Dienstschluss furagierte ich daraufhin wie eine hungrige Ratte den großen Müllcontainer der Winterkampfschule nach verwertbarem Material. Es störte mich nicht, dass die Seile verkrangelt, aufgesplisst, angeschimmelt, abgewetzt, nass und schmutzig waren, sondern ich war euphorisch, dass ich nun Seile in allen möglichen Längen und Stärken besaß. Diese Euphorie dauerte allerdings nur solange an, bis das erste Seil riss. Ich hatte – vielleicht aus Kühnheit, vielleicht aus Bequemlichkeit, das weiß ich nicht mehr so genau – auf eine falsche Seilstärke gesetzt und zudem über eine scharfe Bergkante gespannt. Aber es war die Schwäche des Materials gewesen, die den Seilriss am Ende unvermeidlich werden ließ. Heute weiß ich, dass Nässe, Schmutz, Licht und Alter ein Seil für die Bergsteigerei am Ende untauglich machen, und bestehe darauf, ausgedientes Material zu vernichten, damit niemand, auf die Idee kommt, es weiterverwenden zu wollen.</p> <p>Diese Geschichten liegen inzwischen so weit zurück, dass es teilweise schwer vorstellbar ist, dass diese Zeit jemals Wirklichkeit und Gegenwart gewesen sein soll. Ich kann fast nicht glauben, dass ich das damals war: dieser unfertige, dumme und junge Mensch. Genauso wenig möchte ich wahrhaben, dass ich Oheim seit nun bald zehn Jahren nicht mehr gesehen habe. Abschiede sind vor allen Dingen immer schlimm, und dass Hanns Oheim unser Bataillon verließ, erfuhr ich erst am Tag seiner Abreise.</p> <p>Er fing mich nach einem langen Seminartag im Studiersaal ab und teilte mir, da er wohl ahnte, wie schwer mich die Nachricht treffen würde, fast verlegen mit, dass in Bonn ein Schreibtisch darauf warte, von ihm in Beschlag genommen zu werden. Seine Siebensachen seien bereits in seine neue Heimat evakuiert und sein Zug würde in nur zwei Stunden zur Abfahrt pfeifen. Wie so oft, wenn sich die Dinge plötzlich ändern, ergriff mich eine Unsicherheit. Die Veränderung erschien mir zu groß, als dass ich ihre Bedeutung für mich hätte überschauen können. Oheim bemerkte meine Irritation und struwwelte mir mitfühlend durchs Haar. Von seiner anschließenden Trostrede ist mir vor allem sein Versprechen, dass ich Tomo eines Tages wiedertreffen würde, in Erinnerung geblieben.</p> <p>Es lag wohl an der Endgültigkeit des Abschieds, dass ich mich dazu hinreißen ließ, einem fremden Menschen von Tomo zu erzählen. Ich verriet Oheim natürlich nicht, wer Tomo wirklich war. Er kam sehr schnell selbst zu dem falschen Ergebnis, dass Tomo ein Jugendfreund aus der Nachbarschaft meines Elternhauses gewesen sein müsse. Da ich in jenem Gespräch ohnehin kaum ein Wort sprach, korrigierte ich seinen Irrglauben nicht.</p> <p>»Die Welt ist klein, Myschkin. Wir werden uns genauso sicher wiedersehen, wie Du Deinen Freund wiedertreffen wirst.«</p> <p>Ich widersprach und zeigte auf die Weltkarte, die neben der Wandtafel hing. Im Gegenteil, die Welt sei unüberschaubar und furchteinflößend groß. Nicht umsonst packe mich jedes Mal, wenn ich vom Gipfel auf die Welt zu meinen Füßen hinunter starrte, eine immense Angst, wieder dort hinabzusteigen und in den endlosen Weiten verloren- und unterzugehen.</p> <p>»Du irrst, Mysch.« Mit erhobenem Zeigefinger schnitt mir Oheim das Wort ab, nahm die in einen riesigen und schweren Holzrahmen eingespannte Karte von der Wand und hievte sie auf das Lehrpult. Verschwörerisch rief er mich zu sich.</p> <p>Gehorsam, aber ohne das sonst übliche Jawohl folgte ich der Anweisung meines nun ehemaligen Kompaniefeldwebels und blickte auf die leicht eingestaubte Welt. Oheim nahm eine Handvoll roter Truppenmarken aus einer Schreibtischschublade und pflanzte zwei davon in Mittenwald auf: »Hanns Johannes Oheim und Wilhelm Fenner, da hätten wir ja schon mal zwei. Wen kennst Du noch?« Mit einem strengen Blick forderte er mich auf, weitere Truppenmarken aufzustellen. Zögerlich tippte ich auf die Karte und zählte hier und da ein paar Namen auf: meine Pflegeeltern in Calden, Professor Meissmann in Koblenz sowie alle meine Lehrer, Ausbilder, Mitschüler, Kameraden und Seilgefährten. Oheim platzierte für jeden Namen, den ich ihm nannte, einen roten Stein auf der grauen Karte. Als ihm die roten Truppenmarken auszugehen drohten, unterbrach er mich und hielt den letzten roten Stein wie einen Siegerpokal in die Höhe: »So und das hier ist Dein verlorener Freund. Wie heißt er doch gleich?«</p> <p>»Tomo«, flüsterte ich stockend, da mir die beiden Silben plötzlich nicht mehr über die Lippen kommen wollten.</p> <p>»Und wo bist Du ihm zuletzt begegnet?«, flüsterte nun auch Oheim. Ich deutete vage nach Osten: »Hier irgendwo. In der Nähe von Riga, glaube ich.« Ich flüsterte noch immer.</p> <p>Oheim setzte Tomo auf ein grünes Fleckchen Erde am Rigaischen Meerbusen und schüttete anschließend eine Dose gelber Steine auf den Tisch: »Fünf Milliarden Seelen tummeln sich derzeit auf dieser Erde, sechzig Millionen davon in der näheren Nachbarschaft«, sagte er und mischte die gelben Steine wahllos unter die sorgfältig postierten Roten. Seine Stimme hatte zu flüstern aufgehört. Sie schallte donnernd laut in meinen Ohren und hallte durch den leeren Hörsaal: »Und nun sieh genau hin!«, fuhr er fort. Ich sah genau hin.</p> <p>»Siehst Du es?«, fragte er mich, aber ich schüttelte nur ahnungslos den Kopf. Als Oheim meine Begriffstutzigkeit erkannte, hielt er seine gespreizten Finger so über den Tisch, dass plötzlich ein Netz aus Linien über der Karte und den darauf platzierten Steinen lag: »Diese Steine sind durch verwandtschaftliche, berufliche oder geographische Gegebenheiten oder durch gemeinsame Interessen und Ziele miteinander verbunden. Man kann diesen Verbindungslinien folgen wie einem roten Faden und einer dieser Fäden führt auch zu Deinem verlorenen Freund«, stellte er fest und bewegte dabei den einsamen Stein im Osten Europas nach Mittenwald: »Ihr werdet einander wiederbegegnen. Davon bin ich überzeugt.«</p> <p>Ich verzog das Gesicht. Oheim konnte ja nicht wissen, dass ich Tomo getötet hatte. Nein, dass Tomo eigentlich nie gelebt hatte, sondern nur die Einbildung eines Patienten aus Professor Meissmanns privater Irrenanstalt war.</p> <p>»Jeder von uns trägt seine eigene kleine Welt in sich und an den Stellen, wo sich die Welten zweier Menschen berühren, kommt es zu einer Begegnung«, erklärte Oheim geduldig: »Ich bin nun auf dem Weg in unsere rheinische Bundeshauptstadt<span>.« Oheim verschob sein rotes Steinchen von Mittenwald nach Bonn: »Aber ich bleibe sozusagen in Sichtweite.« </span>In einer durch diese neue Betrachtungsweise stark zusammengerückten Welt konnte ich dies kaum bestreiten, verstand jedoch nicht, wie er sich so mir nichts Dir nichts, von der Bergwelt verabschieden könne. Auch in Bonn gebe es Möglichkeiten, sich in der Kletterkunst zu üben, antwortete Oheim schmunzelnd. Besonders die Hardthöhe eigne sich dafür. Er lachte über mein fragendes Gesicht und versprach mir, mich beizeiten auch in diese besondere Art der Gipfelstürmerei einzuweihen.</p> <p>Als eine Gruppe junger Rekruten draußen auf dem Kasernenhof lautstark ihren sauer verdienten Feierabend begrüßte, schob Oheim erschrocken seinen Jackenärmel hoch und schaute auf seine Armbanduhr. Es war Zeit zu gehen. Zum Abschied küsste er mich fest auf die Stirn und nahm mich in die Arme. Nie zuvor waren wir uns so nah gewesen. »Ich werde Dich lieb behalten, Fürst Myschkin«, versprach er mir, »und jetzt geh Deinen Weg, marsch, marsch!« Nachdem Oheim den Schulungsraum verlassen hatte, lief ich zunächst unschlüssig im Zimmer auf und ab und stürzte schließlich wie von Sinnen zum Fenster. Als Oheim die Fensterriegel hörte, drehte er sich noch einmal nach mir um und rief: »Und räum den Seminarraum auf, Fürst.« Es lag keine Wehmut in seiner Stimme, eher Albernheit und gute Laune. Ich schaute ihm noch lange nach, bevor ich das Fenster schloss und mich unglücklich und einsam gegen den großen Heizkörper neben dem Lehrpult lehnte. Es war bereits dunkel, als ich anfing, den Seminarraum wieder in Ordnung zu bringen.</p> <p>Ich habe Oheim seither nur ein einziges Mal wiedergesehen. Er kam in Begleitung dreier finster dreinblickender Herren. Die beiden jungen Feldwebel an Oheims Seite erkannte ich an ihrem Weißzeug und Ärmelabzeichen als Murnauer Kettenhunde. Ein Offizier im dunklen Dienstanzug, der sich später als Kölner Geheimdienstagent herausstellte, führte den Tross an. Als ich Oheim sah, jubilierte ich innerlich. Ich war mir sicher, dass er viel zu erzählen hatte, und brannte darauf, seine Geschichten zu hören. Außerdem hatte ich auch so einiges zu prahlen. Erwartungsvoll lief ich dem seltsamen Vierergespann entgegen.</p> <p>Als Oheim mich jedoch bemerkte, war sein Blick so kalt und abweisend, dass ich meinte, er wäre mir spinnefeind. Mit versteinerter Miene warf er mir einen kaum wahrnehmbaren Augenaufschlag zu. Da ich nicht verstand, was er mir damit andeuten wollte, antwortete ich mit einem verunsicherten Lächeln. Erst sein nachdrückliches, wenngleich wieder kaum merkliches Kopfschütteln, rüttelte meine Alarminstinkte wach. Ich spürte, dass ich gerade dabei war, nach einem vergifteten Becher zu greifen. Ich unterdrückte mein Lächeln und tat so, als ob ich Oheim nicht kennen würde. Anstatt ihn mit einem herzlichen Horridoh willkommenzuheißen, passierte ich den Trupp mit einem ordnungsgemäßen, aber beiläufigen Gruß. Für den Bruchteil einer Sekunde kreuzten sich alle Blicke: Es wurden Kappenränder getippt und Köpfe geneigt. Dann war es vorbei. Obwohl ich die Gefahrenzone heil umschifft hatte, machte sich plötzlich eine irrationale Furcht in mir breit und ließ ziellos einen Fuß vor den anderen setzen. Erst jenseits des Kasernenschlagbaums kam ich zum Stehen und schaute zurück. Doch die seltsame Prozession war jedoch längst in einem der Dienstgebäude verschwunden.</p> <p>Am nächsten Tag schlugen die beiden Feldjäger und der Geheimdienstoffizier mit einem fünfköpfigen Verstärkungstrupp erneut bei uns auf, um unter den Soldaten des Mittenwalder Gebirgsjägerbataillons Befragungen im Fall Oheim vorzunehmen. Ich selbst blieb vor den Verhören glücklicherweise verschont, aber kurz nach dieser mysteriösen Stippvisite schied Oheim aus dem Dienst. In der Offiziersmesse erzählte man sich schreckliche Geschichten über ihn, die ich lieber nicht hören wollte. Einige behaupteten zynisch, er habe den Dienst freiwillig quittiert, weil ihm die dünne Luft auf der Hardthöhe nicht bekommen sei, andere machten ein ärztliches Gutachten für sein plötzliches Ausscheiden verantwortlich, während wieder andere die Rede in Umlauf brachten, dass der Geheimdienst tatsächlich Leichen in Oheims Keller gefunden hätte. Ich hingegen glaube nach wie vor an seine Unbescholtenheit sowie an seine Lehre von einer kleinen, sehr sehr kleinen Welt. Auch wenn diese Regel wahrscheinlich nicht für Schatten und Tote gilt, hilft mir der Gedanke, mich Elli ganz nah und verbunden zu fühlen. Ich brauche nur mit dem Finger auf der Landkarte dem blauen Band der Isar zu folgen oder den Telefonhörer abzunehmen und neun Ziffern einzugeben.</p> <p>Ich zitterte, als ich seine Nummer wählte, und meine Finger hinterließen feuchte Abdrücke auf den schwarzen Tasten. Es war fast wie damals im Institut, als mir mein Bewusstsein Streiche spielte, die nicht auf der physischen Realität gründeten. Meissmann konnte sowohl meine vegetativen und somatischen Körperfunktionen als auch mein intuitives Schlussfolgern beeinflussen. Er ließ mich schwitzen, obwohl ich fror, zwang mich zu unwillkürlichen Bewegungen oder redete mir ein, etwas zu mögen, was ich eigentlich als gefährlich, schmerzhaft oder abstoßend beurteilt hätte. So ähnlich erging es mir nun bei dem Gedanken, Elli in nur wenigen Sekunden am Telefon sprechen zu können. Vorsichtshalber hatte ich mir alles aufgeschrieben, was ich sagen wollte, aber es stellte sich schnell heraus, dass es auch ohne Gedächtnisstütze ging. Wie an den beiden Abenden zuvor sprachen wir eine gemeinsame Sprache, die uns vielleicht nicht nur verband, sondern sogar ureigen war.</p> <p>Tomo hat mich immer und in jeder Sprache verstanden, wenngleich er nur selten guthieß, was ich dachte, meinte, sagte und tat. Er konnte mich trösten, ohne mich dabei zu verhätscheln, tadeln, ohne zu verletzen. Er fegte mit mir krakeelend durch die langen Korridore des Instituts und teilte mit mir Momente ohne Worte.</p> <p>Wir redeten und schwiegen dabei in einer Sprache, die nur uns beiden gehörte, da niemand sonst die selbsterdachten Worte verstand oder die eigentümliche Grammatik beherrschte. Später als ich mich dem Thema von einer kindlich wissenschaftlichen Seite her zu nähern versuchte, nannte ich sie Ursprache oder hontonihontoniyorusu, was aus der Ursprache ins Deutsche übersetzt so viel heißt wie ›echt‹. Unsere Worte neigten dazu entweder sehr kurz oder sehr lang zu sein, wobei sich die Längen dabei in der Regel aus Dopplungen und verschiedenen Wortanhängen ergaben. So auch das Wörtchen hontonihontoniyorusu. Durch die Wiederholung des Wortstamms verlieh man der Aussage Kraft und Nachdruck, während der Wortschweif ›yorusu‹ das Wort einfach nur in den melodischen Singsang unserer Sprache eingliederte.</p> <p>Es gab noch jede Menge anderer Wortendungen und bemerkenswerterweise lag die Betonung stets auf dem angehängten und nie auf dem eigentlich sinntragenden Teil des Begriffs. Worte für ich, du, er, sie, es, wir, ihr und sie gab es nicht, sondern nur die Möglichkeit, das ›eine‹ vom ›anderen‹ abzugrenzen. Wenn man damit eine bestimmte Person meinte, musste man auf denjenigen zeigen oder dessen Namen nennen. Mein Versuch, die Struktur der Sprache in allgemeine Regeln zu fassen, hört es sich komplizierter an, als es tatsächlich war, denn Tomo und ich waren immer allein und viele Dinge verstanden sich von selbst und ganz ohne Reden.</p> <p>Das kürzeste Wort bestand aus nur einem einzigen Buchstaben und bedeutete so viel wie: ›Das ist mein voller Ernst‹ oder ›Ich meine das aus tiefstem Herzen‹. Diese Redewendung benutzten wir oft. Auch das Wort für ›jemanden oder etwas lieben‹ bestand nur aus einem einzigen Laut. Um die Bedeutung zu verstärken, wurde jedoch nicht der Wortstamm verdoppelt, sondern die Endung für starke Gefühle angehängt: nana.</p> <p>~ Wilhelm Fenner</p> </div> <div class="field field--name-field-ort field--type-link field--label-hidden field__item"><a href="https://www.openstreetmap.org/relation/939341">Mittenwald</a></div> <div class="field field--name-field-datum field--type-datetime field--label-hidden field__item">Donnerstag, 2. Jan.. 1992</div> <div class="field field--name-field-bezugsort field--type-link field--label-inline"> <div class="field__label">Bezugsort</div> <div class="field__item"><a href="https://www.openstreetmap.org/relation/939341">Mittenwald</a></div> </div> <div class="field field--name-field-bezugsdatum field--type-datetime field--label-inline"> <div class="field__label">Bezugsdatum</div> <div class="field__item">Donnerstag, 2. Jan.. 1992</div> </div> <div class="field field--name-field-kapitel field--type-integer field--label-above"> <div class="field__label">Kapitel</div> <div class="field__item">8</div> </div> <div class="field field--name-field-dateinummer field--type-integer field--label-inline"> <div class="field__label">Dateinummer</div> <div class="field__item">802</div> </div> Thu, 16 Mar 2023 20:06:32 +0000 eloroke 33 at https://www.adamsakte.de Ein neues Jahr II https://www.adamsakte.de/Tagebuch/Ein%20neues%20Jahr%202 <span class="field field--name-title field--type-string field--label-hidden">Ein neues Jahr II</span> <span class="field field--name-uid field--type-entity-reference field--label-hidden"><span>eloroke</span></span> <span class="field field--name-created field--type-created field--label-hidden">Do., 16.03.2023 - 21:08</span> <div class="clearfix text-formatted field field--name-body field--type-text-with-summary field--label-hidden field__item"><p>Doch irgendwann und scheinbar ohne triftigen Grund ging Tomos Leidenschaft für hontonihontoniyorusu verloren und er wollte fortan nur noch Deutsch sprechen. Zurecht beschwerte er sich darüber, dass unsere eigene Sprache umständlich, unvollständig und begrenzt sei, aber er nannte sie sogar kindisch. Hatte sie sich bisher selbständig und intuitiv entwickelt, begann ich nun mit aktiver Sprachpflege und verbrachte ganze Tage damit, unser Kauderwelsch zu systematisieren. Ich legte Wörterbücher und Tabellen an und baute, während Tomo in der Schule lateinische Buchstaben und arabische Ziffern lernte, unseren bis dahin nur bruchstückhaft vorhandenen Zeichensatz zu einem vollständigen Alphabet aus. Um die unterschiedlichen Laute vollständig in Schriftform abbilden zu können, bediente ich mich größtenteils aus dem Repertoire der alten Germanen und Phönizier, erfand aber auch eigene Schriftzeichen und Akzente. Ich arbeitete Wochen und Monate an meinem umfassenden Sprachkompendium, da ich mir beim Schreiben größte Mühe gab und immer wieder, von Krämpfen in der linken Hand geplagt, ausruhen musste.</p> <p>Tomo gefiel meine Arbeit. Jede Nacht ließ er sich mein Tagwerk ganz genau erklären, las meine Wörtersammlung durch und brachte Korrekturen an. Dennoch gewann das Deutsche immer mehr die Oberhand, während unsere eigene Sprache trotz meiner Mühen verkümmerte. Erst in der Nacht, in der ich mein Skalpell gegen meinen besten Freund richtete, anstatt Meissmanns Labortierchen damit zu Tode zu quälen, stammelte Tomo einen letzten Satz in unserer Sprache. Das Messer steckte bereits in seiner Brust.</p> <p>Doch schmerzlicher als die Klinge trafen ihn wohl die Worte, mit denen ich ihn damals zum Teufel wünschte und mich für immer von ihm lossagte. Worte können manchmal tödlich sein. Schnell hat man sich im Ton vergriffen, zu viel gesagt, etwas Wichtiges ausgelassen, eine Fehlinformation weitergegeben oder sich um Kopf und Kragen geredet.</p> <p>Deswegen las ich die ersten paar Sätze sicherheitshalber von einem Notizzettel ab und erkundigte mich nach einem zuvor mehrfach geprobten Hallo, ob er von seinem Fiebervirus genesen und heil nach München zurückgekehrt sei. Eliots Hallo klang überrascht, aber freundlich und er behauptete sogar, sich über meinen Anruf zu freuen. Es gehe ihm schon lange wieder gut, erzählte er. Gleich am nächsten Morgen sei er wieder auf den Beinen gewesen, taufrisch und quicklebendig, als wäre nichts gewesen. Nachdem die erste Hürde erfolgreich genommen war, atmete ich erleichtert aus und schaute in meine Notizen.</p> <p>Der nächste Punkt auf meiner Liste war, ihm von dem bevorstehenden Dreikönigsmarsch zu erzählen und ihn zu unserer Wanderung durch die Alpen einzuladen, doch dazu kam ich nicht, da sich unser Gespräch, kaum dass wir das Begrüßungszeremoniell hinter uns gebracht hatten, verselbständigte und dabei längst nicht mehr aktuelle Tagesnachrichten, ungelöste philosophische Fragen des Abendlands und lästige, aber im Wesentlichen harmlose Alltagswehwehchen streifte. Eliot bestritt einen Großteil der Unterhaltung im Monolog, brachte jedoch keinen seiner Gedanken zu einem schlüssigen Ende. Er sprach über Gott und Ingwerwurzeln, lachte über seine eigenen Witze und fragte mich dann und wann auch nach meiner werten Meinung zu den Dingen. Ich versuchte, mit seinen wirren Gedankensprüngen Schritt zu halten, und lauerte auf eine günstige Gelegenheit, mein Anliegen vorzubringen.</p> <p>Als ich ihm dann endlich meinen Vorschlag unterbreitete, an unserem diesjährigen Dreikönigsmarsch teilzunehmen, wurde es plötzlich still auf der Leitung. Eliot druckste herum und wand sich wie ein nasses Seil, das sich nicht aufnehmen lassen wollte, bis er nach etlichem Hin und Her seine Bedenken aufgab und zusagte. Ich musste ihm jedoch mehrmals versichern, dass er nicht der einzige Anfänger in der Truppe sein würde und dass die Route keine schwierigen Kletterstellen beinhaltete.</p> <p>Der Dreikönigsmarsch ist eine von Falk ins Leben gerufene Neujahrstradition. Ich selbst habe bisher erst ein einziges Mal daran teilgenommen, aber die Unternehmung feiert inzwischen ihr fünfjähriges Jubiläum. Falk geht es dabei ausnahmsweise nicht um lebensgefährliche Höhenflüge, sondern er plant das Ganze als gemütlichen Spaziergang durch die winterliche Bergwelt – flache Gletscherebenen, abgesicherte Klettersteige, freundliche Berggrate und reichlich Zeit für Vesper und Schneeballkämpfe. Der größte Teil der Strecke stellt somit keine größeren Herausforderungen dar, und da die Hälfte der Teilnehmer ohnehin aus Bergführern besteht, ist auch für die Überbrückung der etwas schwierigeren Passagen gesorgt.</p> <p>Nachdem sich Eliot zu einer Zusage hatte überreden lassen, zerbrach er sich den Kopf über Kleidung und Ausrüstung, als würde er auf eine Expedition in das ewige Eis der Antarktis aufbrechen oder den Mount Everest besteigen. Erst als ich ihm versprach, dass wir uns um alles kümmern würden und er lediglich an warme Kleidung, winterfestes Schuhwerk und dicke Socken denken solle, legte sich seine Panik. Seine Vorsicht war zwar ein wenig überdreht, im Grunde aber nicht verkehrt. Mangelhafte oder falsche Ausrüstung kann einem sehr schnell den Spaß verderben.</p> <p>Auf Meissmanns Forschungsreisen nach Nepal oder durch das russische Hinterland war ich oft für die dort vorherrschenden klimatischen Verhältnisse unzureichend ausgerüstet gewesen. Meine Füße wurden immer wieder nass und waren bald dermaßen durchgefroren, dass mir jeder Schritt Schmerzen verursachte. Während einer dieser Unternehmungen versuchte ich, der Tortur ein vorzeitiges Ende zu setzen, indem ich eine Waffe zum Einsatz brachte, die gegen Meissmann selbst zwar nichts auszurichten vermochte, aber bei einem der Expeditionssponsoren eine enorme Wirkung zeigte: Ich weinte. Und zwar so lange, bis der Marsch durch die menschenfeindlichen Eislandschaften abgebrochen wurde und wir ein nahegelegenes Zeltdorf ansteuerten. Die Tour wurde später aus verschiedenen Gründen nicht fortgesetzt. Vielleicht auch ein bisschen meinetwegen, aber Meissmann ist in dieser Hinsicht nicht nachtragend. Ich glaube, das liegt daran, dass er keine Gefühle hat. Er liebt nicht und er hasst nicht. Deswegen ist ihm Rache ebenso fremd wie Gnade. Er reagiert auf einen Störfall in dem Moment, in dem er auftritt, niemals nachträglich.</p> <p>Obwohl mir der Vergleich im Nachhinein schwerfällt, da meine Beine früher kürzer waren und mein Wille heute stärker ist, glaube ich, dass die Winter meiner Wahlheimat den kalten und kargen Erdregionen, durch die uns Meissmann damals führte, an Garstigkeit in nichts nachstehen. Aber ich weine nicht mehr, sondern ertrage die Plackerei mit dem Stolz und Trotz, den man von jemandem aus Evas Linie erwarten würde.</p> <p>Als ich die Geschichte vom Sündenfall zum ersten Mal hörte, war ich über Evas Dummheit bitter enttäuscht, doch Milada erzählte mir eine andere Geschichte über die Urmutter der Menschen. Sie sei keine Sünderin gewesen, wie das die Kirchengelehrten darstellten, sondern ein wissbegieriges Menschenkind, dessen Augen durch die Frucht der Erkenntnis geöffnet worden waren und das sich durch das Wissen um sein eigenes Selbst aus der Rolle des vollkommen auf Gottes Gnade und Willen gestellten Dieners befreien konnte. Freiheit habe in der Menschheitsgeschichte immer ihren Preis gehabt. Dennoch hatten wir uns von Sklaverei und Tyrannei befreit. Die verbotene Frucht, erklärte mir Milada, sei nur ein Symbol für Entwicklung, Einsicht, Erfahrung und Erkenntnis. Dieses Wissen wachse selbst im Paradies nicht einfach auf Bäumen, sondern müsse auch dort mühsam gesammelt werden. Laut Milada gab es auch im Paradies Bibliotheken, Laboratorien und andere der Forschung dienliche Einrichtungen. Mit Hilfe der Schlange habe sich Eva Zugang zu diesem für Menschen verbotenen Wissen verschafft, um anschließend gemeinsam mit ihrem Gefährten Adam aus Gottes goldenem Käfig zu fliehen. Sie mussten zwar fortan selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen, waren aber dafür keine Gottesmarionetten mehr, sondern freie Menschen.</p> <p>Miladas Version des Sündenfalls begeisterte mich so sehr, dass ich mir umgehend vornahm, eines Tages selbst einen solchen zu begehen. Wie mein Vorbild EVA I würde auch ich den Weg der Erkenntnis wählen – gemeinsam mit Adam. Doch als ich später tatsächlich aus dem Garten Eden auszog, ließ ich meinen Gefährten, ließ ich Adam, ließ ich Tomo zurück. Schlimmer noch: Ich tötete ihn, damit er mir nicht folgen konnte.</p> <p>Ich frage mich manchmal, ob Eva ihren Schritt je bereut hat, wenngleich nur für einen kurzen Augenblick. Als Meissmann damals unverhofft im Waisenhaus aufgetaucht war, habe ich mich an seinen Hosenbeinen festgehalten und ihn angefleht, mich wieder zurück ins Institut zu bringen. Ist Eva etwa auch zu den Pforten des Paradieses zurückgelaufen und hat die Cherubim gebeten, sie wieder hineinzulassen? Wahrscheinlich nicht. Denn sie hat Adam mit nach draußen in die freie Welt genommen. Die beiden konnten sich gegenseitig trösten. Ich hingegen war allein geflohen und der neuen Welt vollkommen trostlos ausgeliefert.</p> <p>Milada bestand darauf, dass wir niemals aufhören dürften, Fragen zu stellen, sondern dass wir dem Weg, den uns Eva geebnet hatte, weiter folgen müssten. Ich weiß nicht, ob ich meinen größten Sündenfall bereits hinter mir habe oder ob er mir noch bevorsteht. Nur eins weiß ich sicher, sollten sich mir die Pforten erneut öffnen, werde ich sie nicht alleine durchschreiten. Manchmal schaue ich zurück auf die vielen Pforten, die ich bereits passiert habe: das Institut, die Eltern, die Schule, die Bundeswehr, Oheim, die Ausbildung zum Bergführer. Es war ein steiniger Weg, aber ich habe viel dazugelernt.</p> <p>Ich bin kein Schnellmerker, das gebe ich zu, und wirkliches Talent besitze ich auch keins, jedenfalls nicht für die Dinge, die im Leben zählen. Meine Art zu lernen ist eine langsame, sture und oftmals auch schmerzhafte und manche Dinge lerne ich scheinbar nie. Vor dem Element Wasser habe ich noch immer den größten Respekt, aber mit viel Geduld ist es mir gelungen, den Tücken des Hochgebirges zu trotzen und unter Menschen Mensch zu sein.</p> <p>Im Gegensatz zu den Geheimnissen des Menschseins, kann man die meisten Gefahren der Bergwelt in Büchern nachlesen oder sich während der Ausbildung zum Bergführer von seinen Trainern erzählen lassen. Man kann aber auch auf seine Intuition vertrauen und alle Gefahren am eigenen Leib ausprobieren. Ich entschied mich für die intuitive Methode, denn für Bücher hatte ich als Gefreiter kein Geld und die Ausbildung am Berg ging bei der Bundeswehr am Anfang zu langsam voran. Wir verplemperten zu viel Zeit mit anderen Dingen. Zum Beispiel bauten wir ständig unsere Waffe auseinander und wieder zusammen. Wirklich ständig und meistens grundlos.</p> <p>Ich konnte jedoch nicht warten, bis ich die ganze Theorie gelernt hatte, denn nachdem ich mein Zuhause in Calden aufgegeben hatte, verbrachte ich fortan alle meine Wochenenden und Feiertage am Standort und es gibt nichts Deprimierenderes als einen leeren Kasernenblock am Wochenende. Das Gebäude wird nicht kleiner, nur weil von den hundert lärmenden Soldaten nur noch einer übrig ist. Die Gänge sind leer, kalt und dunkel. Selbst wenn man das Licht anmacht, werden sie nicht hell. Ein menschenleerer Kasernenblock ist nicht zu vergleichen mit einem nächtlichen Kontrollgang durch die leeren Flure, während die Kameraden in ihren Stuben schlafen, obwohl auch das schon bedrückend sein kann.</p> <p>Alle Geräusche, die man in dieser vollkommenen Einsamkeit verursacht, klingen wie ein entsetzliches Kreischen, egal ob man mit einem Stuhl über den Boden schrappt, eine Buchseite umblättert oder im Waschraum Wasser laufen lässt. Alles kreischt. Deswegen floh ich an den Wochenenden in die umliegende Bergwelt, selbst wenn der Wetterbericht davon abriet und der Alpenverein vor Lawinen und Steinschlag warnte. Auf diese Weise blieb es nicht aus, dass ich mich immer wieder in die ein oder andere, mehr oder minder missliche Lage manövrierte. Wie an dem Tag, als ich trotz heftiger Wolkenbrüche eine Wanderung durch die Wälder entlang der Steilhänge einer Schlucht unternahm.</p> <p>Die Ausbilder hatten uns die ganze Woche über an kurzer Leine gehalten. Es hatte tagelang wie aus Kübeln gegossen, die Isar führte Hochwasser und die Berge reinigten sich von Schutt und Erde. Anstatt mit uns in den Bergen zu klettern oder auf den Gletschern skifahren zu gehen, hatten uns die Zugführer in voller Montur und Bewaffnung durch schlammige Felder kriechen und verschiedene Kampfmanöver absolvieren lassen. Als dann endlich das Wochenende kam, hängte ich mir ein Seil um den Hals und ging raus. Was scherte mich der Regen? Ich hatte ja einen wasserdichten Anorak.</p> <p>Der Begriff ›wasserdicht‹ erschloss sich mir jedoch neu, als ich nach weniger als zwei Stunden bis auf die Knochen durchtränkt war. Dennoch zog ich weiter. Umkehren hätte ja bedeutet, in die verlassene Kaserne zurückzugehen, und das kam nicht infrage. Das Seil, das sich vollkommen nutzlos über meine Brust spannte – ich weiß nicht, warum ich es überhaupt mitgenommen hatte – war schlecht imprägniert. Wie ein durstiger Schwamm saugte es den Regen in sich auf und wog bald das Doppelte seines ursprünglichen Gewichts.</p> <p>Meine Wanderung war total chaotisch. Anfangs folgte ich noch angelegten Wegen und Klettersteigen, verließ die vorgegebenen Routen jedoch, um mir ein Wettrennen mit ein paar Gämsen zu liefern, woraufhin ich die Orientierung verlor und schließlich im Nichts landete. Das Gelände wurde immer steiler und schwieriger, bis ich nur noch auf den Außenkanten meiner Bergstiefel Fuß fassen konnte. Aber durch die Nässe rutschte ich immer wieder ab. Es war eine Quälerei. Aber umkehren? Niemals! Ich kämpfte mich immer weiter voran. Durch den prasselnden Regen. Über die steilen Abhänge. Auf schlammigem Boden. Immer der Nase nach.</p> <p>So vergingen Stunden und ich wurde hungrig. Ich hatte ein paar Münzen und einen Hartkeks dabei. Die Verköstigung in Berghütten und Almwirtschaften ist oftmals sehr teuer, aber bei einem armen Soldaten drücken sie bisweilen ein Auge zu. Man setzt sich nicht an den Tisch, sondern an den Kamin und behält Jacke und Mütze auf. Wenn die Bedienung dann nach den Wünschen fragt, zeigt man sein Kleingeld vor und fragt: »Was kriege ich dafür?« Entweder jagen sie Dich weg oder sie geben Dir einen Schlag aus dem Suppentopf und ein Glas Milch. Das alles habe ich nicht selbst herausfinden müssen. Oheim hat es mir beigebracht.</p> <p>Die Münzen in meinen Taschen waren mir bei meinem Steilwandabenteuer jedoch keine Hilfe. Ich war weit entfernt von jeglicher Form von Zivilisation, aber für einen Hartkeks war mein Hunger noch nicht groß genug. Ich hatte gut gefrühstückt und es war erst früher Nachmittag. Statt etwas zu essen, trank ich mir an einem der unzähligen Rinnsale, die an den Kalkeinschneidungen der Waldhänge entlang rannen, den Magen voll und ging weiter. Ich musste mich jedoch inzwischen beeilen, denn ab fünf Uhr würde die hereinbrechende Dunkelheit das Weitergehen zunehmend erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen. Ich stand zu jenem Zeitpunkt noch sehr unter Meissmanns Einfluss und wagte es nicht, Vektoren einzusetzen. Doch ohne Vektoren bin ich bei Dunkelheit nahezu blind.</p> <p>Ich lief und lief und lief. Doch das Gelände meinte es nicht gut mit mir, sondern lotste mich in Sackgassen oder schüttelte mich wie ein lästiges Insekt aus seinem Pelz. Mehrmals wäre ich beinahe in die Schlucht gestürzt, konnte mich jedoch immer wieder fangen. Zurückgehen war inzwischen keine Option mehr, als der Regen anzog und die Dämmerung begann. Die Erde über mir, unter mir und um mich herum geriet immer mehr ins Rutschen. Faustgroße Steine – zwischendurch auch der ein oder andere recht stattliche Felsbrocken – kullerten im Zickzack die Hänge hinunter und schlugen dabei immer wieder dumpf auf der Bergflanke auf, bevor sie endgültig in die Tiefe stürzten. Trotz meines Helms musste ich mich in acht nehmen. Doch meine Wanderung nahm ohnehin ein jähes Ende, als der Berg meine Kraxelei endlich satthatte und mich gemeinsam mit einer Lawine aus losem Geäst und matschigem Erdboden den Hang hinab schickte. Ich fiel nicht wirklich, sondern rutschte und schlitterte und versuchte mich dabei immer wieder festzuhalten. Doch nichts vom dem, was ich zu fassen bekam, konnte meinen Sturz aufhalten. Stattdessen riss ich alles mit mir, bis ich schließlich auf einem vorstehenden Felsdach zum Liegen kam. Links und rechts donnerte der Rest der Lawine weiter in die Tiefe, während ich mich sofort aufrappelte und unter den Wandvorsprung kroch, der meinen Sturz gebremst hatte. Dort kauerte ich mich auf mein nasses Seil und starrte entgeistert auf den Wasserfall, der über die Kante meiner neuen Felsbehausung spülte und dabei Unrat aus den höheren Hanglagen mit sich führte, Zweige, Steine, Erde, Laub.</p> <p>Ich saß mit angezogenen Beinen auf meinem Seilnest und wartete im wahrsten Sinne des Wortes auf besseres Wetter, als plötzlich ein weiterer Gast Zuflucht unter dem Steindach suchte. Es war ein Fuchs, der sich mit einem behänden Satz durch den Wasserfall unter das schützende Dach rettete. Nachdem er sich das Wasser aus dem Pelz geschüttelt hatte, schaute er mich misstrauisch an. Vermutlich fragte er sich, was ich hier verloren hatte. Ich starrte jedoch ebenso misstrauisch zurück. Ich war noch nie zuvor einem wilden Tier so nah gewesen.</p> <p>Auf diese Weise verbrachten wir bestimmt eine halbe Stunde, bevor sich der Fuchs endlich entspannte und auf dem kühlen Erdboden zusammenrollte. Auch ich entspannte mich, ließ meine Knochen knacken und kramte mein Hartkeks hervor. Sofort sprang der Fuchs wieder auf seine vier Pfoten und verfolgte jede meiner Bewegungen mit einem argwöhnischen Blick. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Als Soldat stank ich nach Panzeröl und Munition, anhängliche Gerüche, gegen die selbst die stärkste Seife und die kratzigste Bürste nicht ankommen. Ich sagte ihm, er solle sich beruhigen. Bis der Steinschlag aufhöre, säßen wir nun einmal im selben Boot. Aus seinem weiterhin misstrauischen Blick schloss ich, dass er mich nicht verstehen konnte.</p> <p>Als ich ihm jedoch ein Stück von meinem Hartkeks anbot, verstand er sehr wohl, was ich meinte, und ließ sich nicht zwei Mal bitten, sondern verschlang den kleinen Brocken, den ich ihm hingeworfen hatte, als wäre er am Verhungern. Ich gab ihm noch ein paar Krümel von meiner Ration ab, aß selbst einen Happen und packte den Rest wieder in meine Tasche. Bevor ich mich jedoch wieder in meine kauernde Haltung begab, rollte ich mein Seil ein wenig aus, damit mein neuer Freund nicht auf dem Boden liegen musste. Er nahm das Angebot jedoch nicht an. Auch dann nicht, als ich ihm etwas von Körpertemperatur, Auskühlung und Wärmedämmung erzählte. Solche Dinge verstand er nicht.</p> <p>Als es plötzlich dunkel wurde – so plötzlich, als ob jemand einen Lichtschalter gedrückt hätte –, war ich vollständig auf Hören und Fühlen angewiesen. Zu hören gab es nicht viel, denn das Prasseln des Regens und das Poltern der runterfallenden Steine übertönten alles, sogar das Heulen des Windes und das Rumoren der Tierwelt. Aber ich spürte, wie es sich der Fuchs in der Seilschlaufe, die ich für ihn ausgelegt hatte, bequem machte. Ich fand in jener Nacht zunächst kaum Ruhe, weil sich mein Mitbewohner immer wieder streckte und rekelte und seine Schnauze an meiner Tasche rieb. Als ich jedoch am nächsten Morgen erwachte, war ich allein in der Höhle. Auch der Hartkeks war weg. Kein allzu großer Verlust, denn der Regen hatte aufgehört, was meine Laune auch ohne Frühstück hob. Der Rand der Sonne glitzerte über den Bergzinnen, der Boden dampfte und ich war mittendrin. Ich freute mich über den neuen Tag, hängte mir mein nasses Seil über die Brust und wanderte weiter.</p> <p>Elli würde ich diese Art Erfahrung ersparen können. Größtenteils jedenfalls, denn die Natur ist unberechenbar und leider nicht immer gnädig. Er hatte inzwischen zur seiner anfänglichen Gesprächigkeit zurückgefunden und erzählte von den Dingen, die ihn zurzeit beschäftigten. Er hatte sich nach der Jahresabschlussfeier von Pragen und Cecilia mit zurück nach München nehmen lassen und sich unterwegs die Unterstützung des Oberstleutnants für seine Idee sichern können, mit der er die Ausbildung unserer Schützeneinheiten reformieren wollte. Es ging dabei um die Verbindung traditioneller asiatischer Nahkampfstrategien mit modernen, halbautomatischen Handfeuerwaffen. Auf meine Frage, was ich mir darunter vorzustellen habe, folgte ein konfuser Abriss über Ballistik, räumliche Polarkoordinaten und die waffenlose Kampfkunst aus dem Süden Japans. Ich kam kaum mit, als er vom Bundesverteidigungsministerium, vom Kölner Dom und von der Hammelburger Infanterieschule redete, glaubte jedoch bald zu verstehen, dass er nach Köln gehen wollte.</p> <p>»Köln?«, fragte ich in der Hoffnung, mich verhört zu haben. Dem war jedoch nicht so. Eliot war begeistert von der Aussicht, nach Köln versetzt zu werden, und auf meine Frage, ob er denn München nicht vermissen würde, antwortete er mit einem entschiedenen Nein. München sei eine unfreundliche und bornierte Stadt. Sobald er sich in Köln häuslich und beruflich eingerichtet habe, wolle er seinen Freund Jan nachholen, der die kleinkarierte Münchner Uniformität ebenfalls satthabe. Jan lebe wie er in einem kleinen Apartment im Feldwebelwohnheim und sehne sich schon lange nach einer farbenfreudigeren Umgebung. Während es Jan dabei mehr um die Auswahl an Frauen ging, war Eliot, wie er es ausdrückte, auf der Suche nach einem Heilmittel gegen das Nichts. Vielleicht würde in Köln seine Flöte Amaterasu zu neuem Leben erwachen, seufzte er, denn er spiele in letzter Zeit immer dieselben einfallslosen Liedschnipsel oder komplizierte Fingerübungen ohne Melodie.</p> <p>Ich solle ihn unbedingt in Köln besuchen, lud er mich schließlich ein, dann würde ich den Unterschied schon sehen. Ich erklärte, dass, selbst wenn er mit seiner Meinung über München und Köln recht behalten sollte, Köln niemals eine Option für mich sein könne. Ein Gebirgsjäger könne ebenso wenig dem deutschen Süden den Rücken kehren, wie ein Kampfschwimmer seine norddeutschen Gefilde verlassen könne. Das sah er ein und ich glaubte sogar, ein wenig Mitleid aus seiner Stimme zu hören.</p> <p>Seine Anteilnahme währte jedoch nur einen kurzen Moment, bevor er mit seiner begeisterten Erzählung fortfuhr. Ich folgte seinen Ausführungen schweigend. Seine kurzer Anflug von Mitgefühl lag vor mir wie als Gnadenbrot über den Zaun geworfene Essensreste. Mehr hatte er nicht für mich übrig.</p> <p>Tomo hatte mich damals auf ähnliche Art zurückgewiesen. Nachdem er unsere Sprache verraten hatte, entfernte er sich immer weiter von mir. Wenn ich ihm zu nahe kam, zuckte er zurück. Wenn ich seine Hand nehmen wollte, schubste er mich weg. Er nannte meine Anhänglichkeit damals kindisch, aber heute verstehe ich, was er mir mit seinem abweisenden Verhalten eigentlich sagen wollte. Er brauchte mich nicht so sehr, wie ich ihn brauchte, und vielleicht war das auch einer der Gründe, warum er später sterben musste. Dabei hatten wir uns einst feierlich das Jawort gegeben. Ich gebe zu, es klingt schon bemitleidenswert einsam, wenn man seinem eigenen Schatten einen Heiratsantrag macht.</p> <p>Tomo war zwar nicht mein Schatten, aber die wahre Natur seines Wesens habe ich bis heute nicht richtig verstanden. Es gab Zeiten, da zweifelte ich daran, dass ich wirklich ein Mensch war, und es gab Zeiten, da zweifelte ich daran, dass Tomo wirklich nur ein Hirngespinst war. Fest steht allerdings, dass ich von Liebe nicht besonders viel verstehe. Damals nicht und heute auch nicht. Wie auch? Man bekommt dafür keine Anleitung wie etwa beim Skifahren, Klettern oder Iglubauen. Die Literatur hilft an dieser Stelle auch nicht weiter. Ich habe Werthers Briefe so oft gelesen, dass ich sie auswendig kenne. Ich erkannte zwar mich in seiner Betrachtung der Dinge und in seiner Wut wieder, aber die letzten Seiten ließ ich beim wiederholten Lesen allerdings immer aus, da sich unsere Wege an seiner letzten Entscheidung trennten. Sein Konzept von Liebe war verstörend. Sebastian war auch von Werthers Schlag. Im Gegensatz zu mir, teilte er jedoch nicht nur Werthers Stärken, sondern auch seine letzte Schwäche.</p> <p>Es war ein eisiger Novembertag, als der junge Offiziersanwärter an meiner Wohnungstür auf dem Kasernengelände klingelte. Ich war überrascht, da ich für gewöhnlich keinen Besuch in meiner zwischen dem westlichen Isarufer, der Mannschaftsküche und dem Standortlazarett gelegenen Einsiedelei empfange. Mein Wunsch nach Zurückgezogenheit und Distanz wird von den meisten Leuten respektiert. Selbst Falk hält sich an dieses ungeschriebene Gesetz. Bis auf den mittäglichen Durchgangsverkehr zur Kantine, gelegentliche Kampf- und Bergungsmanöver auf dem hinteren Kasernenhof und den Motorenlärm der Sanitätsfahrzeuge habe ich es sehr ruhig getroffen. Nur in Notfällen schellen sie mich raus: Wie damals, als ein volltrunkener Kompaniechef halbtot in den seichten Fluten am Isarhorn trieb oder als sich ein Volltrottel aus unserer Ausbildungskompanie während einer Klettertour mit seinen Eltern durch einen fehlenden Endknoten im Sicherungsseil fast zur Halbwaise gemacht hatte.</p> <p>Doch Sebastian hatte weder einen Major in der Isar gefunden noch seinen Vater in einer Bergschlucht verloren. Er hatte ein anderes Anliegen. Ein größeres, dringenderes und innigeres. So groß, dringend und innig, dass er sich weder auf einen anderen Zeitpunkt noch auf einen anderen Ort vertrösten lassen wollte. Nach etlichem Hin und Her bat ich ihn schließlich herein. Als wir uns dann in der Mitte meines Wohnzimmers gegenüberstanden – Stühle habe ich keine und mein durchgesessenes Sofa wollte ich ihm nicht zumuten – brachte er sein Anliegen unumwunden auf den Punkt: »Ich liebe Sie, Hauptmann Fenner.«</p> <p>Sein Blick, seine Stimme und seine Innbrunst ließen keinen Zweifel daran, dass er meinte, was er sagte. Sebastians Offenheit war von solch entwaffnender Wucht, dass ich einen Schritt zurückwich. Sebastian stand unterdessen schweigend da und wartete auf den Fangstoß, der ihm entweder das Rückrat brechen oder sein Leben retten würde. Obwohl ich seine Not erkannte, war es mir unmöglich, ihn zu trösten. »Das funktioniert nicht«, war das Beste, was ich schließlich über die Lippen brachte. Ich versuchte, dabei möglichst gefasst und rigoros zu klingen. Sebastian erwiderte nichts, als sich das Seil mit einem festen Ruck um seine Brust spannte und dabei nicht nur seine Rippen brach sondern sämtliche Sicherungshaken aus ihrer Verankerung riss.</p> <p>Als ich bemerkte, dass er am ganzen Leib zitterte, deutete ich schließlich doch auf das alte Sofa. Er versuchte ein Lächeln, was ihm jedoch misslang, und setzte sich. Seine Haut hatte alle Farbe verloren und seine Lippen bebten. Auch ich fühlte mich unwohl.</p> <p>Mit Nervenzusammenbrüchen aufgrund körperlicher oder psychischer Überanstrengung bin ich von Berufs wegen vertraut. Doch schienen die üblichen Routinen gegen Erfrierungen, Höhenkrankheit, Panik und Resignation hier wenig angebracht. Während ich Sebastian ein Kissen und einen aufgefalteten Schlafsack brachte, monologisierte ich vor mich hin. Ich dankte ihm für seine Offenheit, versicherte ihn meiner kameradschaftlichen Zuneigung und befahl ihm, sich zusammenzunehmen. Sebastian sprach kein Wort, sondern starrte nur apathisch unter der olivgrünen Daunendecke hervor, die ich über ihn geworfen hatte.</p> <p>Ich machte Tee. Das gab Sebastian Zeit, sich zu erholen, und mir ein wenig Abstand von der heiklen Situation. Während ich eine Teesorte und passendes Geschirr aussuchte, dachte ich über Sebastians Geständnis nach. An und für sich gab es an dem hochgewachsenen Blondschopf nichts auszusetzen. Ein war ein guter Kletterer und verlässlicher Seilgefährte. Er war talentiert, aber nicht eingebildet. Still, aber nicht verschlossen. Bescheiden, aber nicht willfährig. Vielleicht liebte ich ihn sogar ein bisschen. Einfach dafür, dass er Fürst Myschkin durch sein Geständnis zu einem liebenswerten Wesen gemacht hatte. Die Sache hatte jedoch einen gravierenden Haken: Sebastian war nicht Tomo.</p> <p>Als ich ihm seinen Tee brachte, hatte er sich bereits wieder aufgerappelt. Ich setzte mich mit meiner Tasse auf den niedrigen Wohnzimmertisch und forderte ihn auf, zu trinken. Nachdem ihn der Tee langsam ins Leben zurückgerufen hatte, brach der Bann. Ich hätte nie gedacht, dass Sebastian und ich uns so viel zu erzählen hatten, doch ich machte noch zwei Kannen Tee und tischte sogar ein bescheidenes Abendbrot auf, bevor er spät am Abend mit einem festen Händedruck und in stabiler Verfassung Abschied nahm.</p> <p>Wir verblieben bis zu seinem tragischen Ausscheiden freundschaftlich. Er grüßte mich immer schon von Weitem, bedachte mich zu Weihnachten, Ostern und Va­len­tins­tag mit kleinen Aufmerksamkeiten und hielt mich ab und zu mit einem kurzen Gespräch auf. Ich grüßte immer zurück, ließ mich beschenken und hörte ihm geduldig zu. Mehr konnte ich nicht für ihn tun.</p> <p>Rückbetrachtet glaube ich, dass Sebastian nur aus Versehen von Liebe gesprochen hat. Wahrscheinlich wusste er gar nicht genau, was er da fühlte. So wie mir aus Dankbarkeit ein liebesähnliches Gefühl erwachsen war, hatte wohl auch er einfach nur zwei Dinge miteinander verwechselt. Dennoch war er mutig bei mir aufgeschlagen, um mir seine Gefühlswirren auseinanderzulegen. Ich bin noch immer zutiefst beeindruckt von seinem Schneid. Solch ein Wagnis würde ich aus Angst vor Zurückweisung niemals eingehen. Ich bewies es während meines Telefonats mit Elli mit jedem Atemzug. Ich behielt meine Gefühle für mich – die guten wie die schlechten – und teilte Elli stattdessen die Uhrzeit und den Treffpunkt für die Königswanderer mit. Er notierte sich alles auf und versprach mir, an alles zu denken und pünktlich zu sein. Bevor wir uns bis zum übernächsten Tag verabschiedeten, bedankte er sich noch mehrmals für die Einladung zu der Bergwanderung und für meine Nachsicht mit seiner Unerfahrenheit. Ich hätte es als übertriebene Höflichkeit deuten können, entschied mich jedoch dafür, dass seine Worte aufrichtig klangen.</p> <p>Nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, machte ich mir eine Kanne Tee, setzte mich wieder an meinen Schreibtisch und schrieb zum ersten Mal seit Langem wieder eine Liste. Sogar mehr als eine. Vier gleich. Denn ich war mir nicht sicher, ob ich mich auf unser bevorstehendes Wiedersehen freuen sollte. Diese Sache mit Köln hatte mir bewiesen, wie gleichgültig ich ihm war. Ich habe früher viele solcher Listen erstellt: eine Liste der Dinge, die ich mag, und eine Liste der Dinge, die ich nicht mag. Eine Liste der Dinge, die ich tun wollte, wenn ich wüsste, dass ich nur noch eine Minute zu leben habe, und eine Liste der Dinge, die man nicht sehen kann, die aber doch da sind. Eine Namensliste, eine Bücherliste und eine Regelliste. Eine Liste für Länder, eine Liste für Städte, eine Liste für Berge, eine Liste für Seen, eine Liste für Flüsse und eine Liste für Wälder. Silben-, Buchstaben- und Zahlenlisten. Und natürlich eine Liste der Listen. Dies war meine Art, die Dinge zu sammeln. Ich hatte fast hundert solcher Listen. Die meisten davon umfassten mehrere Seiten, die wiederum in zwei, drei oder vier Spalten untergliedert waren. Nachdem ich mir aus den Abschreibungsbeständen der Murnauer Feldjäger dieses Laptop gekauft hatte, wusste ich zunächst nichts Gescheites mit dem Computer anzufangen und nahm mir vor, als erste Übung meine gesammelten Daten in das Gerät zu übertragen. Doch die Listen waren über die Jahre hinweg bedeutungslos geworden. Ich fand sie plötzlich langweilig und sinnlos und darüber hinaus störte mich, dass sie schlecht sortiert und nicht aktuell waren. Ich legte sie zu den Holzscheiten im Ofen. Auch die vier Listen, die ich heute geschrieben habe, jagte ich unmittelbar nach dem letzten Tintenstrich durch den Papierhäcksler in Falks Büro.</p> <p>Als dieser mich kurz vor zwölf zum Mittagessen abholte, freute er sich, dass er noch einen weiteren Namen auf seine Liste der Königswanderer setzen durfte: »Das wird zwar langsam knapp mit den Schlafplätzen in den Winterräumen der Berghütten, aber wenn wir dicht zusammenrücken, kriegen wir das schon hin. Ich werde auch Gunnar heute Abend nochmals anrufen, dass er sich vor der Tour nicht wieder mit blähendem Gemüse vollstopft. Weiblich?«, fragte er voller Hoffnung – für mich – und kramte die zerknitterte Liste aus seiner Hosentasche hervor. Ich musste ihn jedoch enttäuschen.</p> <p>»Bergerfahrung?«, fragte Falk weiter und versuchte, seinen Kugelschreiber durch festes Aufdrücken und Fluchen zur Kooperation zu überreden.</p> <p>»Keine«, antwortete ich.</p> <p>»Das macht insgesamt sechs Bergerfahrene und sechs Grünschnäbel«, rechnete Falk laut vor sich hin. Es seien dieses Mal auch viele Frauen mit von der Partie, fuhr er wieder an mich gewandt fort. Anna habe eine Freundin im Schlepptau, Andrés Verlobte bringe ihre Schwester mit und Strefler komme in Begleitung einer langjährigen Weggefährtin aus seinem Heimatdorf. Als der Kugelschreiber erste Anstalten machte, farbige Flüssigkeit auf das zerknitterte Blatt Papier abzugeben, fragte mich Falk nach dem Namen des kurzfristigen Neuzugangs.</p> <p>»Eliot«, sagte ich, und als ich seinen Namen laut aussprach, bemerkte ich, wie meinem verschwommenen Traum plötzlich ein Hauch von Wirklichkeit innewohnte. Ich musste jedoch, auch wenn es peinlich war, mit den Schultern zucken, als Falk wissen wollte, wie man den Namen buchstabierte.</p> <p>»E – l – i – o – t«, improvisierte Falk, ohne sich lange der korrekten Schreibung aufzuhalten, und fuhr mit dem störrischen Kugelschreiber jeden einzelnen Buchstaben mindestens zehnmal nach, bevor dieser endlich lesbar auf dem Stück Papier erschien. Ich hielt ihm meinen Füller hin, aber Falk wollte diesen Zweikampf ohne fremde Hilfe für sich entscheiden. Den Nachnamen ersparte er sich jedoch und den Kugelschreiber beförderte er nach seinem Sieg umgehend in den Mülleimer. Als er mir schließlich den Beweis seiner Hartnäckigkeit unter die Nase hielt und ich Eliots Namen in Falk krakeliger Schrift auf der Teilnehmerliste sah, entschied ich mich spontan dazu, mich auf die gemeinsame Unternehmung zu freuen.</p> <p>Nach einem kurzen, aber erbitterten Germknödelwettessen, aus dem Falk mit ganzen drei Längen Vorsprung als klarer Sieger hervorging, verabschiedete er sich in seinen verfrühten Feierabend und überließ mich meiner neu gewonnenen Zuversicht. Aber Zuversicht hin oder her, verbrachte ich den Rest des Tages mit der liegengebliebenen Arbeit vom Vorjahr und versank in Zahlen, Paragrafen und Amtsbriefen der Wehrverwaltung, bis es draußen dunkel wurde. Erst das Klingeln des Telefons riss mich aus meiner hypnotischen Zahlenschieberei. Es war Heidt, der sich nochmals für meine Hilfe bedankte, mir die besten Wünsche von seiner Tochter bestellte und mich daran erinnerte, den von Pragen aufgewirbelten Ruß zusammenzukehren. Nach einem Gerne-Danke-und-Jawohl ließ ich die Arbeit für den Tag gut sein und machte mich auf den Weg zu der auf dem Hohen Brendten gelegenen Luttenseekaserne, wo ich durch die riesigen Lagerhallen und Magazine der Gebirgs- und Winterkampfschule furagierte, um eine Schneeausrüstung für Elli zusammenzustellen. Trotz meines schweren Seesacks voller Material machte ich auf dem Heimweg noch einen Schlenker durch die inzwischen menschenleeren Gassen der Stadt, wo ich mich vor der großen Kirche am Markt auf eine Bank setzte und auf die Elf wartete.</p> <p>Ich sitze dort oft, beobachte die Zeiger der großen Kirchturmuhr und warte darauf, dass die donnernden Schläge des Glockenspiels meine Gedanken vertreiben. Keine besonders düsteren oder traurigen Gedanken, sondern einfach alles Denken in mir – auch auf die Gefahr hin, dass ich dabei einen guten Plan für den nächsten Tag aus dem Kopf verliere. Glocken wirken bei mir wie Magie. Wenn sie in meinem Kopf dröhnen, kann ich für einen kurzen Moment an nichts anderes als ihr lautes und durchdringendes Wesen denken. So auch dieses Mal.</p> <p>Nach dem Abendgeläut und einem zügigen Marsch über die zugeschneiten Wege entlang der Isar kehrte ich kurz vor Mitternacht zu meiner Wohnung auf dem Kasernengelände zurück, schmiss ein paar Holzscheite in den Ofen, kochte eine Kanne Tee auf der heißen Feuerplatte und ließ den Tag Revue passieren.</p> <p>~ Wilhelm Fenner</p> </div> <div class="field field--name-field-ort field--type-link field--label-hidden field__item"><a href="https://www.openstreetmap.org/relation/939341">Mittenwald</a></div> <div class="field field--name-field-datum field--type-datetime field--label-hidden field__item">Donnerstag, 2. Jan.. 1992</div> <div class="field field--name-field-bezugsort field--type-link field--label-inline"> <div class="field__label">Bezugsort</div> <div class="field__item"><a href="https://www.openstreetmap.org/relation/939341">Mittenwald</a></div> </div> <div class="field field--name-field-bezugsdatum field--type-datetime field--label-inline"> <div class="field__label">Bezugsdatum</div> <div class="field__item">Donnerstag, 2. Jan.. 1992</div> </div> <div class="field field--name-field-kapitel field--type-integer field--label-above"> <div class="field__label">Kapitel</div> <div class="field__item">8</div> </div> <div class="field field--name-field-dateinummer field--type-integer field--label-inline"> <div class="field__label">Dateinummer</div> <div class="field__item">804</div> </div> Thu, 16 Mar 2023 20:08:12 +0000 eloroke 34 at https://www.adamsakte.de Dreikönigsmarsch https://www.adamsakte.de/Tagebuch/Dreik%C3%B6nigsmarsch <span class="field field--name-title field--type-string field--label-hidden">Dreikönigsmarsch</span> <span class="field field--name-uid field--type-entity-reference field--label-hidden"><span>eloroke</span></span> <span class="field field--name-created field--type-created field--label-hidden">Do., 16.03.2023 - 21:11</span> <div class="clearfix text-formatted field field--name-body field--type-text-with-summary field--label-hidden field__item"><p>Die Sternsinger ziehen heute zum letzten Mal in dieser Saison mit ihren heiligen Stimmen und samtenen Klingelbeuteln durch die Straßen der Stadt. Für einen kleinen Betrag kann man die Ministranten der Dorfgemeinde für das Glück seiner Familie singen und beten lassen und mit Gott einen Handel über den heimischen Haussegen abschließen. Glücklicherweise erspart mir die Abgeschiedenheit meiner Dienstwohnung auf dem Kasernengelände den Besuch der hohen Gesandtschaft aus dem Morgenland. Denn selbst Könige werden nicht ohne gültigen Truppenausweis auf das Kasernengelände gelassen. Genau so möchte ich es haben: niemanden sehen, mit niemandem reden und auch niemanden singen hören. Stattdessen genieße ich die Einsamkeit der letzten heiligen Nacht bei einer Kanne heißem Tee und denke über den nun zurückliegenden Marsch durch die Alpen nach.</p> <p>Die drei Tage und zwei Nächte unserer gemeinsamen Gebirgstour vergingen wie im Flug. Es ist wohl so, wie Eliot es ausgedrückt hat: In den Bergen, wo man im endlosen Weiß der Gletscherfelder zu einem unbedeutenden Punkt auf der Landkarte wird, stehen die absolute Zeit und das eigene Zeitempfinden in einem derart widersprüchlichen Verhältnis, dass man jeden Augenblick auskosten kann, ohne daran zu altern. Die Größenverhältnisse der Berge gemessen in Raum und Zeit waren seiner Meinung nach nicht für Menschen geschaffen, sondern für etwas Größeres, Ewiges. Er glaubte jedenfalls, dass die Unsterblichkeit der Berge die weicheste Stelle seiner Seele berührt hatte, den Ort, an dem die Zeit entstand, oder kurz seine Sterblichkeit.</p> <p>Als er merkte, dass ihn nicht verstand, zeigte er auf seine Brust und fragte mich, ob ich mich denn nicht sterblich fühle. Darauf wusste ich jedoch keine Antwort. Unsterblich fühlte ich mich jedenfalls nicht. Eliot nickte nachdenklich, als ob ich ihm einen wichtigen Hinweis gegeben hätte. Obwohl ich seinen Gedanken nicht ganz folgen konnte, glaubte ich, das Gefühl, das ihn bewegte, zu kennen, und nickte schließlich auch, bevor wir uns die Hand zum Abschied reichten.</p> <p>Keiner von uns sagte etwas. Ich gab mir zwar Mühe, aber mir fiel nichts Gutes ein. Als Anna mitbekam, dass sich Eliot endgültig verabschiedete, kam sie herbeigeeilt und nestelte kurz an einer ihrer Materialschlaufen: »Hier, die schenke ich Dir. Sie hat Dir gestern das Leben gerettet und ist jetzt Dein persönlicher Glücksbringer. Ich hoffe, sie bringt Dich heil nach Hause, aber auch bald mal wieder zurück in die Berge.«</p> <p>»Bestimmt«, sagte Eliot und fädelte den Klemmkeil, den Anna ihm in die Hand gedrückt hatte, in einen Ring an seinem Schlüsselbund. Der Keil hatte die Größe Fünf – jedenfalls nach der Normierung, die wir am Standort verwendeten – und gehörte zur neusten Generation seiner Art, mit stabilen Stahlschlaufen und farbigem Metallkopf. Ein teures Souvenir. Ich schaute Anna schräg an, doch sie ignorierte mich: »Bestimmt, bestimmt?«, fragte sie an Eliot gewandt.</p> <p>»Bestimmt, bestimmt«, versprach er und ließ sich in den Arm nehmen. Ich trat einen Schritt zurück, als plötzlich eine ganze Lawine an Abschiedsumarmungen losbrach. Gunnar klopfte Eliot anerkennend auf die Schultern und struwwelte ihm durch die Haare, Falk nahm ihn freundschaftlich in seinen berüchtigten Schwitzkasten und sogar André ließ sich zu einer kurzen, aber für seine Verhältnisse herzlichen Umarmung hinreißen.</p> <p>Ich stand wie immer unbeteiligt am Rand. Selbst als sich Eliot noch ein letztes Mal nach mir umdrehte, sagte ich nichts, sondern beobachtete nur, wie er in seinen Wagen stieg und langsam über den knirschenden Schnee, der sich auf dem Parkplatz gesammelt hatte, von dannen rollte.</p> <p>Nur zwei Tage zuvor hatten wir uns auf diesem Parkplatz ebenso verhalten begrüßt, wie wir uns später verabschieden sollten. Meinen Pilgerbart hatte ich inzwischen wieder abgenommen, aber meine Haare etwas länger stehen lassen, damit, wenn ich meine Mütze abnahm, meine großen Ohren nicht ganz so dramatisch hervorstachen. Die Liebe macht mich eitel.</p> <p>Bis auf Ferdinand Strefler waren alle noch vor der verabredeten Zeit am Treffpunkt erschienen und so herrschte bis zu dessen leicht verspätetem Erscheinen eine ungeduldige Aufbruchstimmung. Da mich Falk und André dauerhaft in Beschlag nahmen, um die Route zu besprechen und über das Wetter und die Schneelage zu spekulieren, hatte ich kaum Gelegenheit, mich mit Eliot zu unterhalten, ließ jedoch keine Gelegenheit ungenutzt, mich nach ihm umzudrehen.</p> <p>Er hatte vorsichtshalber gleich vier neue Winterjacken gekauft, aber die Preisschilder dran gelassen, um diejenigen, die durch unsere Qualitätskontrolle fielen, wieder in den Laden zurücktragen zu können. Gunnar übernahm die Musterung. Er beriet Eliot gut und kaufte ihm anschließend noch eine besonders hässliche Jacke in grellen Neonfarben ab. Nachdem er sich in seinem neuen Winterparka ein paar Mal vor der spiegelnden Glasscheibe seines Wagens gedreht hatte, inspizierte er das Reisegepäck der Gäste, um sicherzustellen, dass es einerseits niemandem an etwas fehlte und dass andererseits niemand unnötigen Ballast mit sich herumtrug, da auch noch der Reiseproviant, die Gaskartuschen, die Kochgeräte und nicht zuletzt die Sicherungsmittel auf die Schultern der einzelnen Marschteilnehmer verteilt werden mussten. Doch Elli kam recht glimpflich durch die Gepäckkontrolle. Gunnar beschlagnahmte lediglich einen Satz Wechselwäsche. Die fast ein Kilo schwere Fotoausrüstung ließ er ihm.</p> <p>»In den Bergen riechen alle gleich, da braucht man keine Wäsche wechseln. Und zum Schlafen werden nur die Skier abgeschnallt und die Überhose aufgeknöpft – wenn überhaupt«, erklärte Gunnar in seinem Grundausbilderton und begann mit der Verteilung der Gemeinschaftsgüter auf die einzelnen Rucksäcke.</p> <p>Als Strefler kurz nach sieben endlich auftauchte, machte Falk einen zwölften und letzten Haken auf seine Teilnehmerliste, ging nochmals alle Namen durch und hielt das zerknitterte Stück Papier schließlich Eliot vor die Nase, um sicherzustellen, dass er dessen Namen richtig geschrieben hatte. Nach einem schmunzelnden Blick auf die Liste nickte Elli. Falk schüttelte seinen kältestarren Kugelschreiber und fragte Eliot, ob er auch einen Nachnamen habe. »Luv«, antwortete Eliot und fügte auf Falks fragenden Blick hinzu: »Luv wie Lee.«</p> <p>»Diese Liste ist wichtig«, erklärte Falk mit todernster Miene, während er Eliots Nachnamen notierte. »Falls wir nicht zurückkommen, hilft sie dem Alpenverein bei der Suche nach den Vermissten und der Polizei bei der Identifizierung der Leichen.« Elli machte ein unglückliches Gesicht und das Unglück wurde sogar noch größer, als Gunnar plötzlich am anderen Ende des Parkplatzes zwischen ein paar Bäumen auftauchte und mit einer Rolle Klopapier winkte. »Muss sonst noch jemand scheißen?«, krakeelte er über den gesamten Platz und zupfte dabei an seinem Hosenschritt. Ich gab mir Mühe, ein Schmunzeln zu unterdrücken, als ich mich zu Eliot hinüberlehnte und ihm zuflüsterte, dass es ratsam war, zu den Ersten zu gehören. Diese Lektion habe ich im Waisenhaus gelernt, doch sie hat sich auch bei der Bundeswehr und in den Bergen immer wieder als nützlich erwiesen.</p> <p>Als alle Teilnehmer – auch Eliot – ein letztes Mal ausgetreten waren und in Gurt und Seilzeug zum Aufbruch bereitstanden, nahm ich Falk zur Seite und erklärte ihm, während ich ihn an seinem Brustgurt hinter mir herzog, dass wir einen anderen Weg als der Rest der Truppe nehmen würden.</p> <p>Falk stolperte die ersten paar Schritte verdattert hinter mir her. Nachdem er sich jedoch wieder gefangen hatte, dachte er nach, welchen Weg ich meinen konnte. »Die Freimauer?«, fragte er schließlich und wurde von einem auf den nächsten Augenblick still. Er schien zu ahnen, dass ich etwas Ernstes mit ihm zu bereden hatte.</p> <p>Ich antwortete nicht. Falk wusste, wie er mein Schweigen zu deuten hatte. Ich drehte mich jedoch noch einmal nach den anderen um und gab Eliot und Anna mit einem kurzen Zeichen zu verstehen, dass er auf sie hören und sie auf ihn aufpassen sollte. Eliot nickte, während Anna offenbar dagegen protestieren wollte, dass ich Falk wie einen Delinquenten abführte. Als sie jedoch Falk in die Augen blickte, wurde sie plötzlich ganz kleinlaut. Sie nickte mir zu und tippte Eliot auf die Schulter, damit er ihr folgte.</p> <p>Auch Gunnar wollte etwas einwenden. Ihm passte es vermutlich nicht, dass unser Alleingang die geplante Gruppeneinteilung durcheinanderbrachte. Doch André hielt ihn zurück und teilte in einem freundlichen, aber lauten Befehlston die Gruppen neu ein. Ich hörte noch, wie er die Marschroute bekanntgab und vier Seilschaften aus jeweils zwei oder drei Unerfahrenen und einem Bergführer bildete. Auch Strefler stellte er den Neulingen als Bergführer vor. Ich schaute mich noch ein letztes Mal nach Eliot um, der gerade die Gurte seines Rucksacks festzog. Anna stand neben ihm und gab mir ein Zeichen, dass ich mir keine Sorgen mache müsse. Sie würde auf ihn aufpassen. Mit einem trotzigen Kopfnicken deutete sie mir jedoch zugleich an, dass ich im Gegenzug auf Falk aufzupassen hatte. Ich nickte und schritt zügig voran. Falk stolperte durch das plötzliche Tempo überrascht erneut hinter mir her.</p> <p>Um zur Freimauer zu gelangen, mussten wir zwar einen kleinen Umweg in Kauf nehmen, doch die dadurch verlorene Zeit war schnell wieder wettgemacht, da wir einen Großteil der Höhenmeter bis zur ersten Hütte senkrecht zurücklegen würden, anstatt in endlosen Serpentinen den Berg hinaufzukriechen. Die Freimauer hieß nicht schon immer so. Falk und ich haben ihr den Namen gegeben, nachdem Sebastian dort letzten Frühling vier krakelige Buchstaben in den Kalk geritzt hatte: FREI.</p> <p>Sebastian hatte damals angeblich auf eigenen Wunsch seinen Dienst quittiert, um stattdessen Sportwissenschaft und Geographie zu studieren. Allerdings wollte niemand am Standort dieser Geschichte so recht Glauben schenken. Nicht weil wir Zweifel bezüglich seiner Studienwahl hegten, sondern weil er vor dem plötzlichen Ende seiner Karriere als Bergsteiger mehrere Male ins Präsidium der Murnauer Feldjäger bestellt worden war, um dort von Beamten des Militärischen Abschirmdienstes ins Verhör genommen zu werden. Er hat uns jedoch nie gesagt, was in den Verhörräumen der Murnauer Kettenhunde genau vor sich gegangen war. Selbst Falk ist es nicht gelungen, ihm auch nur ein einziges Wort darüber zu entlocken, und Falk kann in solchen Dingen sehr beharrlich sein.</p> <p>Alle, die Sebastian kannten, bedauerten seinen Weggang, weswegen wir zu seinem Ausscheiden eine letzte gemeinsame Bergtour mit ihm unternahmen. Wir waren eine Seilschaft von insgesamt dreizehn Leuten, deren Marschgepäck hauptsächlich aus Verpflegung bestand, denn Ziel der Unternehmung war nicht der Gipfel, sondern eine kleine Abschiedsfeier. Zu diesem Zweck schleppten wir neben dem bloßen Vesper, um den Hunger zu stillen, einen ganzen Kuchen, gekühlte Getränke und sogar eine riesige Melone den Berg hinauf. Falk hatte diese besondere Verabschiedung für Sebastian in die Wege geleitet und auch mich dazu eingeladen.</p> <p>Ich kletterte damals zusammen mit Sebastian und Falk in einer Dreierseilschaft und hatte fünfeinhalb Pfund frisches Brot in meinem Rucksack. Falk hatte an seinem Pfund Butter zwar wesentlich leichter zu tragen als ich, war dafür aber während des gesamten Aufstiegs darüber in Sorge, dass die Butter in seinem Rucksack verlaufen könnte. Er hatte die Butterdose zum Schutz vor den Sonnenstrahlen mit Alufolie umwickelt und einen Beutel mit Eis dazu gepackt, doch immer wenn es seiner Meinung nach zu langsam voranging, rief er: »Schneller, schneller, die Butter!«</p> <p>Sebastian war uns beiden etwa zwanzig Meter voraus und schon fast bis zum Gipfel durchgestiegen, als er plötzlich keine weiteren Seilmeter einholte. Vergeblich warteten wir auf sein Signal zum Seilgeben oder Nachsteigen. Da uns die verwinkelte Wand die Sicht nach oben versperrte und wir von unserer Position aus nicht sehen konnten, was weiter oben vor sich ging, wurde Falk schließlich ungeduldig. »Schneller, schneller, die Butter«, rief er und zog, als er wiederholt keine Antwort erhielt, vorsichtig am Sicherungsseil, das zu unserem Entsetzen jedoch nicht den geringsten Widerstand leistete, sondern mit einem hellen Surren durch die Karabinerösen der über unseren Köpfen angebrachten Zwischensicherungen schnurrte.</p> <p>Ungebremst rauschten zwanzig Meter Seil an uns vorbei in die Tiefe. Zurück blieben nur das unverbrauchte Restseil zu Falks Füßen, ein nutzloser Bremsknoten in seinem Sicherungskarabiner und die kurze Nabelschnur, die ihn mit mir verband. Als Falk plötzlich mit einem toten Seilende in der Hand dastand, nestelte ich einer bösen Ahnung folgend zwei Klemmkeile von meinen Materialschlaufen. Obwohl ich mir unklar war, was da gerade vor sich ging, hielt ich es für das Beste, meine Position zu einem soliden Sicherungstand auszubauen und Falk bei Sebastian nach dem Rechten schauen zu lassen.</p> <p>»Sebastian?«, rief Falk besorgt nach oben und lehnte sich so weit, wie es seine Sicherung zuließ, nach hinten, während ich die beiden Klemmkeile rechts und links von mir in einen schmalen Felsriss setzte.</p> <p>»Sebastian?« Die Art, wie Falk Sebastians Namen rief, klang dieses Mal wie eine Drohung, so als ob Sebastian eine ordentliche Tracht Prügel erwarten würde, wenn er nicht sofort antwortete. Ich war froh, dass Falk die Lage erst nahm. Wenn die Situation es erfordert, kann sich der manchmal pflichtvergessene Kasernenclown von einem Moment auf den nächsten in einen verantwortungsbewussten, autoritären Gruppenführer verwandeln.</p> <p>Ich dröselte gerade eine lange Bandschlinge auf, als plötzlich Sebastians Silhouette mit weit ausgebreiteten Armen an der höchsten Bergkante erschien. Er hatte die letzten Meter bis zum Gipfel offenbar ohne Sicherung zurückgelegt und lebte nun seinen Adrenalinrausch aus, indem er die Schwerkraft zu einem Duell herausforderte.</p> <p>Nachdem ich die inzwischen aufgedröselte Bandschlinge in die Drahtkabel der beiden Klemmkeile eingehängt hatte, gab ich Falk per Handzeichen zu verstehen, dass er sich ins Seilende einbinden sollte, um Sebastian hinterherzusteigen. Aufgrund der verbrauchten Seillänge ging ich davon aus, dass Sebastian während des ersten Drittels der Strecke noch Sicherungen gelegt hatte, was Falks Aufstieg ungemein erleichtern würde. Ich konnte ihn von meinem Stand aus sichern und die nachfolgenden Seilschaften beruhigen, die bereits aufgeregt nachfragten, was bei uns los war. Falk nickte entschlossen. Doch bevor wir den Plan in die Tat umsetzen konnten, entschied sich Sebastian in seinem Taumel aus flüchtiger Euphorie und tiefsitzendem Schmerz dazu, sich sämtlichen Kräften des Universums entgegenzustellen. Oder sich ihnen zu ergeben. Ich war mir nicht ganz sicher, ob er den Tod oder das Leben suchte, als er sich mit einem kräftigen Sprung von der Bergkante stieß und seine Schwermut der Leichtigkeit des freien Falls übergab.</p> <p>Dass Falk und ich die folgenden Sekunden wie Ewigkeiten erlebten, war wohl der stressbedingten Klarheit unserer Sinne zu danken. Obwohl uns weder Zeit zum Nachdenken oder Diskutieren blieb, handelten wir unverzüglich und so einvernehmlich, als wären wir eine Person. Gleichzeitig schnappten zwei Karabiner auf und zu. Mit dem einen Karabiner löste sich Falk aus seiner Standplatzverankerung, die ohnehin nicht für eine starke Zugbelastung nach unten ausgelegt war. Mit dem anderen Karabiner befestigte ich die einen Augenblick zuvor in die Wand gefädelte Bandschlinge an der Anseilschlaufe meines Hüftgurts. Falks Gesicht verformte sich zu einer schrecklichen Grimasse und die Konturen seiner Beine vibrierten, als er seine Muskeln anspannte. Doch erst, als aus seinem Mund ein lauter Schrei wie eine Welle auf mich zugerast kam, bemerkte ich, dass sich die Augen hinter meinen Augen geöffnet hatten. Im selben Augenblick sah ich auch die gleißende Bugwelle, mit der Sebastian die Zeit vor sich herschob. Instinktiv riss ich meine Arme nach oben. Vielleicht, um die Zeit aufzuhalten. Ich weiß es nicht. Denn mein Handeln war reiner Reflex und ohne jegliche Intention. In dem Moment, in dem die durch meine Bewegung verursachten Vektoren und Sebastians Fallwelle aufeinanderprallten, hörte ich ein schrilles Geräusch. Das Geräusch kam jedoch nicht von den über meinem Kopf aufeinandertreffenden Kräften, sondern von Falks Karabinergeschirr, das wie die Türglocke eines Souvenirladens klapperte, als er sich dem fallenden Freund mit einem verzweifelten Sprung entgegenwarf. Da er noch immer in der Seilmitte eingebunden war, verließ er sich blind darauf, dass meine in letzter Sekunde gelegte Sicherung uns alle drei aushalten würde.</p> <p>Das Seil heulte unter der enormen Wucht des Sturzes auf, als mich das hundertfünfzig Kilo schwere Paket aus Fleisch, Knochen und Eisen aus meinem Stand riss. Der Mauerhaken meiner ersten Sicherung gab einen stöhnenden Laut von sich, als er aus der Wand brach, und auch ich stöhnte auf, als ich mit einem so heftigen Ruck gegen die Bergwand geworfen wurde, dass mir die Luft ausblieb. Unmittelbar darauf wurde mir so schlecht, dass ich meinte, mich übergeben zu müssen. Zugleich wurde ich von einer bleiernen Müdigkeit erfasst. Es gelang mir jedoch, die Augen hinter meinen Augen zu schließen und meine letzten Kräfte zu mobilisieren, um nicht ohnmächtig zu werden. Vektoren zu verwenden, raubt mir nach wie vor sämtliche Kraft.</p> <p>Es dauerte einen kurzen Moment, bis ich mich wieder gefasst hatte und verstand, was gerade passiert war. Falk hatte Sebastians drahtigen Körper tatsächlich zu fassen bekommen und ihn im Flug mit der Schlinge, mit der er zuvor noch am Berg gesichert gewesen war, in sein eigenes Geschirr eingebunden. Drei, vier Meter unter mir waren die beiden mit einem vom Rasseln der Karabiner begleiteten dumpfen Schlag gegen die Felswand geschmettert. Die Klemmkeile hatten zwar geruckt und geächzt, aber sie hatten der Wucht Stand gehalten.</p> <p>Als wir schließlich wie ein Henkel Trauben an der Wand baumelten, sah ich, wie sich Falk immer wieder bekreuzigte. Er ließ dabei jedoch eine Salve an unchristlichen Flüchen vom Stapel. Seine Stimme war nur ein kurzatmiges Schluchzen. Ich überließ ihn seinem Disput mit Teufel und Gott und konzentrierte mich aufs Atmen. Da wir durch Sebastians Gewicht vollkommen manövrierunfähig waren, konnten wir ohnehin nicht viel mehr tun als beten und fluchen und auf Hilfe warten. Es dauerte allerdings nicht lang, bis die nachfolgende Seilschaft zu uns aufschloss und Sebastians bewusstlosen Körper bei sich einband. Auf dem Weg zurück ins Tal wurde nur das Nötigste gesprochen.</p> <p>Ich hatte beim diesjährigen Dreikönigsmarsch die Route über die Freimauer nicht gewählt, um Falk an die damaligen Ereignisse zu erinnern, sondern um ihn unter vier Augen auf Pragens Vorwürfe ansprechen zu können und dennoch zügig ans Ziel zu gelangen. Zunächst nahm jedoch nicht ich ihn, sondern er mich ins Gebet: »Wieso ist dieser Eliot Luv – Luv wie Lee – eigentlich dabei?«, fragte er, als wir außer Sicht- und Hörweite waren. Anstatt zu antworten, fragte ich, was ihn an Eliots Anwesenheit störte.</p> <p>»Er ist ein Lakai des Ministeriums!« Falk war hörbar entrüstet. Ich zuckte jedoch nur mit den Schultern. Meiner Meinung nach, war Eliot nicht mehr Lakai, als wir es waren. Auf Falks skeptisches Stirnrunzeln fügte ich hinzu, dass ich mit Eliot befreundet war. Doch Falks Skepsis ließ sich damit nicht beruhigen: »Solche Leute hat man nicht zum Freund«, erklärte er: »Sie sind die Definition von Feind.«</p> <p>Ich schaute Falk an, ohne etwas zu erwidern. Er wusste selbst, dass er übertrieb.</p> <p>»Hast Du Sebastian vergessen?«, schnaubte er daraufhin, doch auf diese trotzige Frage antwortete ich erneut mit Schweigen. Auch Falk schwieg einen kurzen Moment, bevor er in einem weniger angriffslustigen Tonfall fortfuhr: »Ich weiß bis heute nicht, mit was die Agenten Sebastian damals so sehr unter Druck gesetzt haben, dass er daraufhin seinen Dienst quittierte, aber ich habe eine Theorie, warum ihm das Ministerium damals die Hunde auf den Hals gehetzt hat. Willst Du sie hören?« Ich hätte gerne darauf verzichtet, aber da ein Nein denselben Effekt erzielt hätte wie ein Ja, verzichtete ich stattdessen auf eine Antwort.</p> <p>»Köln und Bonn waren auf seine Leistungen aufmerksam geworden und wollten ihn für eine geheime Eliteeinheit rekrutieren«, erklärte Falk. Er klang sehr überzeugt: »Um zu solch einer Einheit zugelassen zu werden, wird man jedoch nicht nur medizinisch auf Herz und Nieren geprüft. Die Ministeriallakaien nehmen das gesamte Leben unter die Lupe. Sie schauen sich die Grundschulzeugnisse an, befragen Nachbarn und durchwühlen den Hausmüll. Verdammt!« Falk blieb abrupt stehen und schüttelte den Kopf. Ich fand jedoch, wir hatten genug über Sebastian geredet. Ohne anzuhalten, drehte ich mich nach Falk um und sagte: »…</p> <p>…</p> <p>…</p> <p>…</p> <p>… die Hütte ungefähr zwei Stunden vor den anderen. Wir konnten die Hütte jedoch nicht betreten, da der Strefler den Schlüssel hatte und alle Türen und Fenster zum Schutz vor Vandalismus und Naturgewalten fest verriegelt waren. Dennoch nutzten wir unseren Zeitvorsprung, indem wir die Terrasse und den Zugang zum Winterraum von Schnee befreiten, uns auf die Suche nach einer nahen Wasserquelle machten und neben dem Haus eine Latrine aushoben. Nachdem alle Arbeit getan war, setzten wir uns auf das Dach der Hütte, wo wir uns über ein kleines Vesper aus Müsliriegeln und gefrorenen Bananen hermachten und die letzten Sonnenstrahlen genossen.</p> <p>Als wir unsere Kameraden endlich das vereiste Kar hochmarschieren sahen, war die Sonne bereits hinter einem Berggrat verschwunden und das Weiß der Schneelandschaft zu einem matten Grau geworden. Mit einer kleinen Gaslampe leuchteten wir den anderen den Weg zur Hütte und beobachteten schweigend, wie der Tross langsam auf uns zu gekrochen kam. Als Erstes erkannte ich Gunnar an seiner neuen neonfarbenen Jacke, die selbst im Dunkeln leuchtete. Dann Anna. Sie führte den Zug mit einem flotten Tempo an, musste jedoch immer wieder auf das hintere Feld warten. André bildete die Nachhut und achtete wie ein Hirtenhund darauf, dass keiner verloren ging.</p> <p>Es dauerte eine Weile, bis ich auf die Entfernung Eliot ausmachen konnte. Er fiel durch seine Ruhe auf. Er rannte nicht voraus, strauchelte nicht und blieb niemals stehen, sondern marschierte in einem stets gleichbleibenden Tempo, sodass er weder zusammen mit Anna auf die Nachzügler warten, noch sich von André antreiben lassen musste. Sein gleichmäßiger Gang hatte jedoch etwas Verbissenes, Trotziges. Ich setzte mich ganz vorne an die Dachkante, ließ die Beine baumeln und zählte seine Schritte. Mit jedem Schritt verringerte sich der Abstand zwischen uns, bis der Zug schließlich die Hütte erreichte und sich alle entkräftet und erledigt auf die Terrasse fallen ließen.</p> <p>Ich setzte mich zu Elli. Ich bot ihm einen Schluck von dem frischen Quellwasser an, das ich die ganze Zeit über unter meiner dicken Winterjacke ein wenig angewärmt hatte, und fragte ihn, wie ihm die Tour gefallen habe.</p> <p>»Nach spätestens der Hälfte war es nur noch eine elende Plackerei«, stöhnte er und schnallte seinen Rucksack ab: »Schnee, Schnee, Schnee. Sieben oder acht Stunden lang nichts als Schnee. Schnee in den Schuhen, in den Ärmeln und im Jackenkragen. Und immer diese Widersprüchlichkeiten. Beim Gehen habe ich geschwitzt, beim Rasten gefroren. In meinen Schuhen sammelte sich geschmolzener Schnee, in meinem Unterhemd Schweiß.« Ich prüfte seine Ausrüstung. Die Gamaschen, die ich ihm mitgebracht hatte, schienen zu passen, aber vielleicht hatten die Nähte seiner Stiefel irgendwo ein Leck. Auf meinen prüfenden Blick erklärte Eliot: »Gunnar hat sich einen Spaß daraus gemacht, uns Neulinge in eine Falle locken, wo wir bis hierhin im Schnee versanken.« Er zeigte mit der Kante seiner flachen Hand auf seine Nasenspitze.</p> <p>Ich schüttelte den Kopf: »Ich hoffe, der beschwerliche Weg hat Dir nicht die Freude auf das Ziel der Reise verdorben.«</p> <p>»Das Ziel?«, fragte Eliot überrascht. »Ich dachte, der Weg ist das Ziel.« Er vergrub sein Gesicht in seinen dicken Winterhandschuhen und seufzte.</p> <p>»Nein, der Weg ist nicht das Ziel. Das Ziel ist das Ziel. Der Weg ist nur der Weg. Deswegen heißt er auch so«, widersprach ich und zupfte Eliot am Jackenärmel: »Hörst Du das?«</p> <p>»Nein, ich höre nichts«, erwiderte er, ohne aufzublicken.</p> <p>»Genau das ist es«, sagte ich: »Wir sind hier oben frei von dem Lärm, der uns unten im Tal bereits so sehr zur Gewohnheit geworden ist, dass wir ihn als selbstverständlich ansehen. Alles, was wir hier oben hören, ist rein und unverfälscht. Selbst unsere eigene Stimme klingt hier oben fremd, weil sie wie mit einem scharfen Messer aus dem Geräuschteppich geschnitten wurde, der uns sonst tagein tagaus umgibt. Hier oben gibt es kein Autobahnlärm, kein Radiorauschen, kein Sirenengeheul, kein Kühlschranksummen, keine Kirchturmglocken, kein Telefonklingeln. Bis auf den gelegentlichen Schrei eines Adlers oder das Poltern eines von einer Gämse losgetretenen Steins sind wir hier oben ungestört und für uns. Und weißt Du auch, warum? Weil die meisten nach der ersten Hälfte umkehren.«</p> <p>Elli schaute auf und blickte sich um, dann schloss er seine Augen und lauschte auf die Geräusche um ihn herum. Die Natur gab jedoch keinen Mucks von sich. Das Einzige, was man hörte, war das Knirschen des Schnees unter den Füßen der Leute, die gerade vom Abtritt zurückkamen, und leise Unterhaltungen, denn unbewusst passten sich die Menschen der Stille an und senkten ihre Stimme, wenn es keine Geräusche gab, gegen die sie anschreien mussten.</p> <p>Als Eliot seine Augen wieder öffnete, zeigte ich auf einen nahen Gipfel: »Morgen früh zeige ich Dir etwas, was normalerweise nur Gämsen und Adler zu sehen bekommen. Und wir, weil wir den ganzen Weg gegangen sind.«</p> <p>Elli wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment wurde die Stille von einer lauten Verwünschung unterbrochen und kurz darauf löste sich eine kleine Schneedrift von der Dachkante und schneite auf uns hernieder, als Gunnar wütend gegen das Geländer der Veranda schlug. Ich wandte mich um und wollte wissen, was los war.</p> <p>»Nichts!«, beschwichtigte mich Falk und wedelte abwehrend mit beiden Händen.</p> <p>»Von wegen nichts, Strefler hat die Schlüssel zur Hütte nicht«, sagte Gunnar genervt und setzte seinen Rucksack unsanft auf der Veranda ab: »Zehn Minusgrade und wir stehen vor verschlossener Tür.«</p> <p>Strefler schwor bei allem, was ihm heilig war, dass er den Schlüssel wie verabredet beim Alpenverein abgeholt hatte, während er hektisch in seinem Rucksack kramte. Als er jedoch, selbst nachdem er den Inhalt sämtlicher Taschen ausgeräumt hatte, nicht fündig geworden war, kam er zu dem Schluss, dass der Schlüssel unterwegs verloren gegangen sein musste. Strefler war zutiefst bestürzt. Die anderen jedoch nicht minder. Nur Falk hatte seine gute Laune behalten: »Ist ja nicht weiter schlimm«, sagte er in einem sorgenfreien Ton und warf einen aufmunternden Blick in die Runde: »Ihr wolltet doch bestimmt schon immer mal ein Iglu bauen, nicht wahr? Die Iglus unserer Einheit sind weltberühmt und schnell gebaut.«</p> <p>Doch noch nicht einmal Anna wollte sich von Falks Enthusiasmus anstecken lassen: »Dafür sind wir nicht ausgerüstet. Die Leute sind erschöpft und hungrig und es ist bereits dunkel.«</p> <p>»Wenn alle mithelfen, können wir in weniger als drei Stunden drei gemütliche Iglus hochziehen. Was meinst Du, Mysch?«, mischte sich nun André in die Diskussion mit ein. Ich erkannte an seinem Tonfall, dass ihm die Situation nicht gefiel, er aber um eine diplomatische Lösung bemüht war. Alle Augen waren auf mich gerichtet, doch es war Gunnar, der auf Andrés Vermittlungsversuch antwortete: »Ich werde jedenfalls keinen einzigen Spatenstich tun«, erklärte er rigoros: »Iglubauen war niemals Teil des Konzepts. Wir sind hier im Urlaub, nicht im Manöver. Und überhaupt hat die Hälfte von uns noch nie ein Iglu gebaut.«</p> <p>»Das hat man schnell gelernt«, sagte André und er hatte recht. Das wusste auch Gunnar.</p> <p>»Was meinst Du, Mysch?«, wandte sich André erneut an mich. Falk warf mir einen flehenden Blick zu. Er wollte, dass ich die Sache beendete, ohne Strefler in die Pfanne zu hauen. Strefler selbst saß inmitten der Sachen, die er aus seinem Rucksack geräumt hatte und machte ein unglückliches Gesicht. Mir selbst hätte der freie Himmel genügt, aber da ich das Eliot nicht zumuten wollte, nickte ich schließlich.</p> <p>Falk fiel ein Stein vom Herzen und André klatschte aufmunternd in die Hände: »Na dann, marsch, marsch: Alle Mann Ausschwärmen und die Umgebung nach einer guten Hanglage und Bauschnee für drei große Iglus absuchen. Und Du«, er klopfte Gunnar versöhnlich auf die Schultern, »hilfst auch mit.«</p> <p>In all dem Getümmel achtete niemand auf Eliot. Selbst ich bemerkte ihn erst, als die mit einem schweren Vorhängeschloss gesicherte Eisenkette, die den Zugang zur Hütte versperrte, mit einem lauten Scheppern zu Boden fiel: »Es ist offen«, sagte Eliot und leuchtete mit seiner Taschenlampe ins Innere des Hauses, bevor er zögerlich eintrat. Gunnar setzte ihm als Erster hinterher. Erleichtert folgte auch der Rest der Truppe. Falk half Strefler, seinen Rucksack wieder einzuräumen.</p> <p>In der Hütte ließ Gunnar es sich nicht nehmen, Eliot um den Hals zu fallen, ihm die Mütze vom Kopf zu ziehen und durchs Haar zu wuscheln. »Wie hast Du das gemacht? Bist Du ein Zauberer?«, fragte er. Eliot wand sich jedoch zunächst aus der ungewollten Umarmung frei und setzte seine Mütze wieder auf, bevor er uns zwei winzige Schraubendreher zeigte, die eigentlich zu seiner Kameraausrüstung gehörten, aber offenbar auch als Universalschlüssel dienlich sein konnten. Gunnar machte ein überraschtes Gesicht und zeigte mit dem Finger auf sich selbst: »Wie klug von mir, dass ich nicht Deine gesamte Fotoausrüstung durch Konservendosen ersetzt habe. Ohne mich säßen wir jetzt draußen im Freien. Da sag mal einer, ich wäre nicht genial!« Er zog Eliot erneut die Mütze vom Kopf, um ihm durch die Haare zu wuscheln: »Stimmt’s oder habe ich recht?«, fragte er und lachte laut. In zweierlei Hinsicht ist auf Gunnar Verlass: Wenn er sich ärgert, dann richtig, und wenn er sich freut, dann ebenfalls mit jeder Faser seines Körpers. Aber auch auf Strefler ist einer gewissen Hinsicht Verlass: Er macht jeden Plan zum Experiment und jede Routine zum Abenteuer. An jenem Abend machte er uns zu Einbrechern in einer Berghütte.</p> <p>Nachdem der Tag gerettet und Gunnars Laune wieder in Bestform war, läutete er mit einem begeisterten Händeklatschen den geselligen Teil des Hüttenabends ein: »Macht Licht, macht Feuer, macht Schnee zu Wasser und lasst uns essen, trinken, singen und furzen!«</p> <p>Eliots Begeisterung hielt sich indessen in Grenzen. Er setzte seine Mütze wieder auf und blies eine weiße Nebelwolke in den Lichtkegel seiner Taschenlampe: »Hier drin ist es genauso eisig wie draußen«, stellte er fest und hatte damit natürlich recht. In dem dünnwandigen Verschlag aus Holz und Wellblech herrschten – wie sollte es anders sein – dieselben Temperaturen wie draußen, aber er bot uns Schutz vor Wind, Schnee und Eis. Ich versprach ihm, dass es bald ein paar Grad wärmer werden würde. Neben der Körperwärme von zwölf Personen würden noch vier Gaslampen und vier Gaskocher den Raum aufheizen. Ich fügte an, dass die Hütte, in der wir die nächste Nacht verbringen wollten, solider gebaut war und sogar über einen Ofen verfügte.</p> <p>»Ach ja, richtig«, erinnerte sich Eliot: »Ich hatte es fast verdrängt: Das soll jetzt ja die nächsten zwei Tage so weitergehen.« Ich fasste Eliots Gemecker als Zeichen seines Vertrauens und seiner Verbundenheit auf. Obwohl ich fand, dass er ein wenig übertrieb, gefiel mir, dass er mich in seinen Unmut einweihte. Selbst meine über alles erhabene Freundschaft zu Tomo war von Austeilen und Einstecken geprägt gewesen. Meckern und Schmollen war an der Tagesordnung, aber nur so war es echt.</p> <p>Als Eliot aus seinen nassen Bergstiefeln stieg, kam das grobe Rautenmuster seiner wollenen Kniestrümpfe zum Vorschein. Die Füßlinge hatten sich mit Wasser vollgesogen und waren an den Fersen schon ganz filzig gelaufen. Mit Andrés Einverständnis gab ich ein Paar von den Socken, die er mir zu Weihnachten geschenkt hatte, an Elli weiter. Eliot bedankte sich und steckte auf mein Anraten hin seine Füße für den Rest des Abends in seinen Schlafsack.</p> <p>Nachdem Gunnar die Gaskocher aufgebaut hatte, versammelten sich alle um die winzigen Flammen und halfen beim Schneeschmelzen und Zubereiten der Speisen. Auch Eliot suchte die wärmende Nähe eines Gaskochers auf und übernahm das Brotschneiden. Als es aber schließlich ans Essen fassen ging, hielt er sich zurück. Er aß weder von der warmen Suppe noch von den reichlich vorhandenen Butterbrezeln, Müsliriegeln und Äpfeln. Stattdessen trank er unentwegt aus seiner Wasserflasche und steckte sich ein Bonbon nach dem anderen in den Mund.</p> <p>Bis André seine Enthaltsamkeit bemerkte. Wenn er nichts esse, hielt dieser ihm vor, werde er in der Nacht frieren. Niemand hätte jedoch Lust, sich von Eliots Zähneklappern den Nachtschlaf rauben zu lassen und am nächsten Morgen einen übernächtigten Kameraden im Schlepp zu führen. »In den Bergen trifft man keine Entscheidung für sich allein. Also iss gefälligst!« André beendete seine Moralpredigt in einem Ton, der keine Widerrede duldete. Gunnar lachte und warf Eliot einen Schokoriegel zu. Außerdem merkte er an, dass Elli nicht so viel trinken solle, weil ein nächtlicher Toilettengang bei Minusgraden und Schneetreiben ebenfalls mehr unangenehm als erleichternd sei. »Und das gilt für alle«, rief er in die Runde.</p> <p>Eliot verschraubte daraufhin tatsächlich seine Trinkflasche und probierte den Schokoriegel. Nachdem er erst einmal Geschmack daran gefunden hatte, aß er sogar noch einen zweiten, dritten und vierten. Gunnar spielte unterdessen den Alleinunterhalter und gab seine Lieblingsanekdoten zum Besten. Die meisten davon hatte ich bereits mehrfach gehört und jedes Mal eine leicht veränderte Variante davon. Er schmückte seine halbwahren Erzählungen mit gekünsteltem Bayerisch und teilweise glamourösen Showeinlagen. Es wurde viel gelacht und nach und nach stimmten alle in seinen Klamauk mit ein, bis sie alle lauthals johlten: »Es lebe der Teufel und die Bergsteigerei!« Normalerweise ist das mein Stichwort, das Weite zu suchen, zumal wenn das Weite wie ein Geschenk vor der Tür liegt. Aber Eliots Ruhe machte das lärmende Drumherum für mich erträglich. Ich blieb.</p> <p>Ich beobachtete schweigend, wie das Gelächter, Geplapper und Geschrei gegen Eliots scheinbar unerschütterlichen Ruhe brandeten. Seine Ruhe war jedoch eine andere als meine. Obwohl er sich nicht aktiv an dem allgemeinen Klamauk beteiligte, gehört er dazu. Ab und zu lachte er sogar über die derben Witze oder bekundete mit einem mitfühlenden Blick seine Anteilnahme an den oftmals doch mehr peinlichen als heldenhaften Abenteuergeschichten, bis Gunnar unvermittelt entschied, dass nun Eliot an der Reihe war, etwas Lustiges zur allgemeinen Heiterkeit beizutragen. Zu meiner Überraschung zögerte Eliot keinen Moment, sondern gab nach einem kurzen Räuspern mit viel Esprit seinen Lieblingswitz zum Besten, bei dem ein Gaul seinen Henkel nicht aß.</p> <p>Ich gelte ohnehin als ziemlich schwerfällig, wenn es darum geht, die Pointe eines Witzes zu verstehen, doch dieses Mal stutzten auch die anderen, bevor nach einer fast erdrückend langen Stille plötzlich alle losprusteten. Ich war zwar noch immer am Grübeln, aber Eliot schien, seine Aufnahmeprüfung bestanden zu haben, denn Gunnar legte kameradschaftlich den Arm um ihn und setzte ihm seinen Flachmann an die Lippen. Eliot lehnte jedoch dankend ab und befreite sich aus der aufdringlichen Umarmung. Er habe seine eigenen Dämonen, sagte er und zog sich für den Rest des Abends wieder in seine schweigsame Teilnahme zurück.</p> <p>Es dauerte jedoch nicht lange, bis die Ersten müde wurden und sich das Gelage langsam auflöste. Als schließlich alle erschöpft in ihre Kojen krochen, sicherte ich Eliot und mir einen Platz mit möglichst viel Abstand zu Gunnars berüchtigten Blähungen. Eliot war so müde, dass er sich umgehend in seinen Schlafsack legte. Aus Furcht vor einer kalten Nacht ließ er seine Jacke und seine Schneehose an. Ich legte mich noch nicht hin, sondern ging jedoch noch einmal nach unten, wo ich meine mit heißem Tee gefüllte Trinkflasche nahm und daraus mithilfe von einem Stück Isoliermatte und einer dünnen Reepschnur eine Wärmflasche baute. Gerade als ich den letzten Knoten festzurrte, drehten Gunnar und André die Gaslampen ab. Anstatt meine Taschenlampe anzuschalten, schaute ich mich mit den Augen hinter meinen Augen um und schlich zu Eliots Bett. Während hier und da noch ein letztes ›Gute Nacht‹ in die Dunkelheit geraunt wurde, öffnete ich vorsichtig den Reißverschluss von seinem Schlafsack und gab ihm die selbstgebastelte Wärmflasche. Er nahm das Geschenk dankbar an und versprach, den Tee bis zum nächsten Morgen warm zu halten.</p> <p>»Und Du?«, fragte er leise.</p> <p>»Ich bin Kälte gewohnt«, erwiderte ich, bevor ich meinen Schlafsack so fest zuschnürte, dass nur noch meine Nasenspitze herausragte. Durch das dicke Polster meines Schlafsacks hörte ich, wie Eliot ein letztes Danke und Gute Nacht wisperte, bevor er sich auf die Seite rollte und innerhalb von wenigen Sekunden einschlief. Ich selbst fand jedoch keine Ruhe. Ich wälzte mich ein paar Minuten schlaflos auf meinem Strohlager hin und her, bis ich es schließlich aufgab und …</p> <p>…</p> <p>…</p> <p>…</p> <p>… Etwa eine Stunde vor Sonnenaufgang weckte ich Eliot. Ich legte den Finger auf die Lippen und deutete ihm an, mir auf Zehenspitzen zu folgen. Nachdem wir uns leise aus der Hütte gestohlen hatten, wuschen wir uns eilig Gesicht und Mund und gingen schweigend ein paar Meter nebeneinander her durch die noch immer schlafende Bergwelt. Es war still um uns herum. Wir hörten nur unsere Schritte auf dem frischen Schnee, der über Nacht gefallen war. Der weiße Teppich unter unseren Füßen wurde jedoch immer dünner, bis wir schließlich an eine nahezu schneefreie Bergschulter kamen.</p> <p>»Was hast Du eigentlich vor?«, fragte mich Eliot ein wenig verschlafen, und obwohl wir die Hütte längst außer Hörweite gelassen hatten, flüsterte er.</p> <p>»Ich habe Dir doch gestern einen Preis versprochen«, erinnerte ich ihn, während ich das Ende eines Sicherungsseils durch seinen Gurt fädelte, und riet ihm, seine Lampe anzuschalten, damit er sah, wohin er griff und trat.</p> <p>»Und Du?«, fragte er mich, während er nach der Stirnlampe an seinem Helm tastete.</p> <p>»Ich kenne den Weg«, erwiderte ich und ging voraus. Der Schein von Eliots Lampe folgte mir wie ein rastloses Irrlicht. Lautlos glitt es über die rauen Felswände, spiegelte sich an den glatten Eisflächen und brachte die Schneeablagerungen zwischen den Felsen zum Glitzern, während es langsam um uns herum zu dämmern begann.</p> <p>Kurz bevor sich die Sonne als rotglühender Feuerball über die Zinnen der im Osten gelegenen Höhenzüge schob, erreichten wir eine kleine Aussichtsplattform, wo wir uns niederließen, um bei einem Schluck Tee und einer Handvoll Keksen auf den Tag zu warten. Als das Licht des neuen Tages schließlich die langen Bergschatten verscheuchte, huldigte Eliot der Schönheit der Natur, indem er versuchte, das Kräftemessen zwischen Licht und Schatten mit seiner Kamera einzufangen. Angst schien er keine zu kennen. Auf der Jagd nach dem perfekten Moment kletterte er so gedankenlos am Berggrat entlang, als wäre er lebensmüde, unsterblich oder nicht ganz bei Trost. Ich war froh, dass ich ihn an mir festgeseilt hatte, und setzte vorsichtshalber noch einen Mauerhaken in die Wand, bevor ich es mir wieder auf dem Wandsims gemütlich machte und Eliot bei seinem Versuch, die Vergänglichkeit des Morgens festzuhalten, beobachtete.</p> <p>Um den Frieden der Welt nicht zu stören, behielten wir unsere Gedanken für uns, doch das ständige Klicken des Auslösers seiner Kamera verriet mir seine stille Begeisterung. Als wir bei unserer Rückkehr zur Hütte auf Falk und die anderen trafen, wurde es zwar wieder laut und hektisch in der Welt, aber in mir blieb es den ganzen Tag über so still wie am Morgen …</p> <p>…</p> <p>…</p> <p>…</p> <p>… Auf dem Gipfel war schließlich jeder nur noch sich selbst. Die meisten versprühten ihre Körperenergie in die große weite Welt, indem sie ihre Jacken aufknöpften, aus ihren dicken Winterpullis schlüpften und die Ärmel ihrer langen Unterhemden hochkrempelten. Manche zogen sich in sich selbst zurück – wie Anna, die auf dem Rücken lag und Löcher in den Himmel starrte. Andere suchten Gesellschaft – wie Falk und Gunnar, die angeblich platteln übten, aber eigentlich nur über den unebenen Fels stolperten und sich immer wieder aneinander festhielten, um nicht herunterzufallen. André kümmerte sich um seine Ausrüstung, Strefler hatte ein buntes Kartenspiel ausgepackt, ich kochte Tee. Und Elli, Elli saß mittendrin und machte ein zufriedenes Gesicht.</p> <p>Als die beiden Schuhplattler genug hatten, begann Falk, Anna zu nerven, und Gunnar setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und las die Einträge im Gipfelbuch. Ich war gerade dabei die erste Fuhre Tee in die mir gierig entgegen gestreckten Feldflaschen zu verteilen, als Gunnar den Eintrag von einem Bergsteiger vorlas, der die Frage stellte, was Liebe sei. Der Eintrag war bereits ein halbes Jahr alt und endete mit der Hoffnung, dass jemand die Antwort auf die Frage wusste und bis zum nächsten Jahr einen Kommentar hinterließ. Es hatte sich jedoch noch niemand dazu geäußert.</p> <p>»Nun, meine verehrten Damen und Herren«, sagte Gunnar und schaute in die Runde: »Was antworten wir ihm? André? Falk? Anna?«</p> <p>Nach einer langen Schweigepause antwortete André als Erster. Für ihn war Liebe Verantwortung, egal ob gegenüber den Eltern, dem Kind oder dem Partner.</p> <p>»Moment, Moment, nicht so schnellt«, sagte Gunnar, während er Andrés Antwort ins Gipfelbuch schrieb. Danach diktierte ihm Anna ihre Liste: »Gratishormone, Eifersucht, Fensterln und ein ewiger Schwur.«</p> <p>Falks Liste war kürzer: »Anna.«</p> <p>»Anna«, wiederholte Gunnar gedehnt, während er ihren Namen ins Gipfelbuch schrieb. Nun beteiligten sich auch die anderen an der Diskussion und brachten ihre Ideen vor. Es war alles dabei: von wörterbuchtauglichen Formulierungen über biochemische und esoterische Erklärungen bis hin zu schmerzhaften persönlichen Erfahrungen. Gunnar schrieb alles auf und setzte zuletzt noch seine eigene Antwort darunter. Eliot enthielt sich und mir traute wohl niemand eine Meinung zu diesem Thema zu. Gefragt wurde ich jedenfalls nicht.</p> <p>Bevor Gunnar das Gipfelbuch wieder in den Klappkasten am Fuße des Gipfelkreuzes zurücklegte, bestand er darauf, dass ein Mitglied unserer Gruppe einen Eintrag verfassen sollte, der von der gesamten Mannschaft unterschrieben wurde. Er wollte diese seiner Meinung nach ehrenvolle Aufgabe unbedingt einem Novizen überlassen und seine Wahl fiel aus welchem Grund auch immer auf Eliot. Dieser lehnte zunächst dankend ab, da er nicht wusste, was er schreiben sollte, ließ ich dann aber auf Annas Quengeln hin doch dazu breitschlagen.</p> <p>Er saß lange mit dem Buch im Schoß da, bevor er schließlich etwas auf das weiße Papier kritzelte und seine Unterschrift darunter setzte. Das Gipfelbuch wurde herumgereicht, damit jeder unterschreiben konnte, und jeder war von Eliots Spruch begeistert. Ich war als Letzter an der Reihe. Obwohl Eliot nur zwei Worte niedergeschrieben hatte, dachte ich lange darüber nach, bevor ich mein Autogramm unter die anderen setzte und das Gipfelbuch an seinem angestammten Platz verstaute.</p> <p>Auf Falks Bitte hin, ein Erinnerungsfoto von der Gruppe zu schießen, pflanzte Eliot seine Kamera auf ein aus Rucksäcken gebautes Stativ, drückte vorsichtig den Selbstauslöser und hechtete zum Rest der Truppe, um, kurz bevor sich das Auge der Kamera mit einem leisen Klicken öffnete, die für ihn reservierte Lücke zu schließen. Ich stand ganz links im Bild – oder ganz rechts, je nachdem, wie man es nimmt. Falk ließ es sich jedenfalls nicht nehmen, seinen rechten Arm um meine Schulter zu legen. Gunnar balancierte mit einem Fuß auf dem Podest des Gipfelkreuzes und hielt sich an den dünnen Abspannseilen fest, während André mit vor der Brust verschränkten Armen an dem Längsbalken des drei Meter hohen Kreuzes lehnte. Der Rest der Truppe nahm in zwei Reihen vor uns anderen Aufstellung. Ganz zuvorderst saß Anna im Schneidersitz auf einem kleinen Felstritt, auf dem sich schließlich auch Eliot mit angezogenen Beinen niederkauerte.</p> <p>Nachdem wir alle freundlich in die Kamera geblinzelt hatten, packte Eliot seine Ausrüstung zusammen und zog sich an den Rand des Geschehens zurück. Als wäre es sein Element, kletterte er über eine zerklüftete Bergflanke in die Tiefe, ließ sich auf einem etwa drei Meter unterhalb des Gipfels gelegenen Felssims nieder und starrte schweigsam in die Ferne. Ich folgte ihm, setzte mich schweigend neben ihn und bot ihm einen Schluck aus meiner mit Tee gefüllten Feldflasche an. Er bedankte sich und nahm einen Schluck: »Eigentlich mag ich keinen Tee«, sagte er und nahm noch einen Schluck: »Aber heute ist das Leben schön.«</p> <p>Ich lachte.</p> <p>»Du hast nicht auf die Frage aus dem Gipfelbuch geantwortet«, stellte er fest, als mir meine Feldflasche zurückgab. Obwohl ich lange über das Thema nachgedacht hatte, befürchtete ich plötzlich, nun da ich mit Eliot alleine war, zu sehr wie ein Idiot zu klingen. Deswegen zuckte ich mit den Schultern und behauptete, dass ich es nie probiert hätte, das mit der Liebe, was im Prinzip ja auch stimmte. Das mit Oheim ist schon so lange her und Gunnar war nur ein Versehen oder bestenfalls ein neugieriges Experiment. Geliebt habe ich keinen der beiden, also zählte es auch nicht.</p> <p>»Ich habe es probiert«, begann Eliot unvermittelt zu erzählen: »Am frühen Nachmittag des 1. April letzten Jahres habe ich es probiert. Das Datum ist leicht zu merken, denn die ganze Sache hat etwas von einem Aprilscherz. Ein sehr langer Aprilscherz allerdings, und anstrengend. Er hielt mich die nächsten Wochen auf Trab, bis ich am 15. Mai in der Notaufnahme eines Krankenhauses der im Umbau befindlichen Leipziger Universität erwachte. Die Polizei glaubte mir damals kein Wort und die Ärzte nannten meine Version der Wahrheit Gedächtnisverlust – kongrade psychogene Amnesie hieß es in meinem Krankenblatt – und verordneten mir psychologische Betreuung.«</p> <p>Es rührte mich zwar, dass er mir sein Herz ausschütten wollte, aber ich konnte seinem Gedankenwirrwarr nicht ganz folgen und wollte es eigentlich auch nicht. Das Thema behagte mir nicht. Ich runzelte die Stirn und blinzelte in die Sonne.</p> <p>Als Eliot meine Stirnrunzeln sah, entschuldigte er sich und startete einen zweiten Versuch: »Der 1. April war der Tag der feierlichen Inbetriebnahme des Leipziger Bundeswehr­krankenhauses. Der Dienstantritt des neuen Chefarztes wurde als gewaltiger Staatsakt zelebriert. Man schwang salbungsvolle Reden auf den hochdekorierten Oberstarzt und seinen frisch ausgehobenen Mitarbeiterstab. In den Ehrenlogen saß der deutsche Altadel sowie ein prunkvoller Aufmarsch der Bonner Wehrprominenz und hoher Besuch aus dem Zentrallazarett in Koblenz. Das Musikkorps spielte in Vollbesetzung auf und zum Abschluss gab es einen Ball. Aber das interessierte mich alles nicht, denn vom ersten Moment an hatte ich nur noch Augen für sie.« Eliot seufzte und blickte eine Weile stumm vor sich hin. Die Geschichte gefiel mir immer weniger. Dennoch oder gerade deswegen brannte sich jedes Wort in mein Gedächtnis. Nervös nestelte ich an meinem Materialgurt.</p> <p>»Pragen«, erzählte Eliot weiter, ohne sich von dem Klappern meiner Karabiner aus der Ruhe bringen zu lassen, »hatte mich für sechs Wochen als Teil einer unter Kölner Oberbefehl agierenden Kommission zur personellen und materiellen Absicherung nach Leipzig überstellt, wo ich zusammen mit meinen Kollegen vom Kölner Abschirmdienst angeblich die Übernahme des noch bis Dezember des vorangegangenen Jahres von ehemaligen Angehörigen der Volksarmee geführten Lazaretts überwachen sollte.«</p> <p>Das Wörtchen ›angeblich‹ gefiel mir ebenfalls nicht. Ich sagte jedoch nichts, sondern ließ nur den Verschluss eines Karabiners laut zuschnappen.</p> <p>»Die Sicherheitsüberwachung war nur ein Vorwand, aber mein eigentlicher Auftrag war so geheim, dass ich ihn selbst nicht kannte«, erklärte Eliot entschuldigend. »Pragen hatte mich lediglich darum gebeten, Augen und Ohren offenzuhalten und täglich Bericht zu erstatten. Als Teil der Kommission erhielt ich umfassende Befugnisse zur Einsicht in Bestandslisten, Patientenakten, Mitarbeiterkarteien und Liegenschaftskataster. Was aber noch viel wichtiger war: Ich wurde Teil des Stabs und bekam mit, was zwischen Tür und Angel besprochen wurde. Ich ging mit den leitenden Unteroffizieren essen, wurde von den Fachärzten ins Kasino eingeladen und wurde von allen freundlich und zuvorkommend behandelt.«</p> <p>Ich fragte mich, ob er nicht Freundlichkeit mit Angst verwechselte. Denn normalerweise haben die Leute einfach nur Angst, wenn sich jemand vom Geheimdienst an einen ihrer Schreibtische setzt und einen Ordner nach dem anderen aus dem Regal nimmt, um diesen dann langsam und Seite für Seite durchzugehen.</p> <p>»Bei einem Abendessen im Kasino wurde ich dann auch persönlich mit ihr bekannt«, fuhr er fort: »Ihr Name – ach, ihr Name tut nichts zur Sache – nennen wir sie Lu, so wie ich sie auch immer genannt habe. Sie leitete die Krankenhausapotheke.«</p> <p>Ich hatte inzwischen jeden Karabiner ein Mal von meinem Materialgurt abgenommen, ihn um dreihundertsechzig Grad gedreht und ihn anschließend wieder festgemacht. Als Nächstes verdrillte ich meine Bandschlingen neu, während Eliot von Lu erzählte und dabei maßlos übertrieb. Selbst der olivgrüne Dienstanzug habe an ihr wie ein Festkleid gewirkt. Liebe auf den ersten Blick und so weiter. Ich zwirbelte immer hektischer an meinen Nylonbändern. Als Eliot meine wachsende Ungeduld bemerkte, kam er schließlich auf den Punkt: »Leider konnte mich Lu von Anfang an nicht ausstehen und gab sich noch nicht einmal Mühe, das zu verbergen. Sie ließ mich warten und machte mich im Beisein anderer lächerlich. Doch obwohl sie mir eine Abfuhr nach der anderen erteilte, suchte ich ihre Nähe, kaufte ihr Blumen und legte ihr sogar heimlich ein Paar Brillantohrringe auf den Schreibtisch.«</p> <p>Ich schaute Eliot an. Plötzlich tat er mir leid.</p> <p>»Ja«, seufzte er: »Das war alles ziemlich peinlich. Geholfen hat es jedenfalls nicht und auch die Perlenkette und die Bernsteinbrosche machten es nicht besser. Lu ignorierte mich, aber bei mir war es mehr als Liebe. Es war Gier. Es war Wahnsinn. In meiner Not nutzte ich meine Befugnisse, um mehr über sie herauszufinden, und fuhr sogar nach Köln und Koblenz, um die Archive der Personenzentraldatei und das medizinische Register des Zentrallazaretts nach ihr auf den Kopf zu stellen. Das war der Anfang vom Ende.«</p> <p>Ich spielte mit einer Bandschnur und überlegte, wie ich dem Gespräch eine andere Richtung geben konnte, doch Eliot war schneller: »Während ich mich durch Lus Leben wühlte«, fuhr er fort, »stieß ich auf verschiedene Ungereimtheiten, die zuvor niemandem aufgefallen zu sein schienen. In der digitalen Kartei des Koblenzer Zentrallazaretts fand ich einen auf den Anfang der sechziger Jahre datierten Patienteneintrag mit ihrem Namen. Dies war mehr als ungewöhnlich, denn zu jener Zeit war Lu kein Mitglied der Bundeswehr gewesen und das Krankenhaus nicht für zivile Patienten geöffnet. Ich machte mich umgehend auf die Suche nach der dazugehörigen Patientenakte, was kein leichtes Unterfangen war. Denn das Krankenhaus in Koblenz hatte alle Berichtsmappen, die älter als zwanzig Jahre waren, bereits eingekellert, und war bei dieser Aktion nach dem Prinzip der Unterbringung von möglichst viel Papier auf möglichst wenig Raum vorgegangen. Die Berichte waren in Kisten verpackt, die wiederum zu Türmen gestapelt und in nahtlosen Reihen aufgestellt waren. Wir sprechen hierbei von fast hunderttausend Akten stationärer Patienten und über einer Million Durchgangsberichte. Dennoch wurde ich, nachdem ich mich zwei Tage lang mit Mundschutz und Taschenlampe durch die Papierberge gekämpft hatte, fündig.«</p> <p>Nachdem die Geschichte etwas an Spannung gewann, verlor sich meine Ungeduld und ich begann, interessiert zuzuhören.</p> <p>»Lus Mappe enthielt zwar eine Unmenge an Untersuchungsprotokollen, Testergebnissen und Medikamentierungsplänen, bot aber nicht den leisesten Hinweis auf einen Krankheitsbefund. Deswegen anonymisierte ich die Daten und ließ über einen von Pragens Schattenkanälen ein medizinisches Gutachten erstellen. Während ich auf Antwort wartete, stocherte ich weiter in Lus Leben. Ihre ständigen Krankenhausbesuche endeten jedoch abrupt, als sie plötzlich, ohne die geringste Spur zu hinterlassen, für ein halbes Jahr von der Bildfläche verschwand. Für den fraglichen Zeitraum gab es weder einen Eintrag im Melderegister noch einen Steuernachweis. Laut der Kölner Daten war sie in ihr Elternhaus zurückgekehrt, um sich um ihre pflegebedürftige Mutter zu kümmern. Wie ich allerdings aus anderweitigen Recherchen sicher wusste, galt Lus Mutter zu jenem Zeitpunkt aufgrund einer psychischen Störung zwar tatsächlich als pflegebedürftig, war aber bereits seit vielen Jahren in einem Berliner Sanatorium untergebracht. Mit ihrem Vater stand Lu laut Akte seit jeher auf Kriegsfuß. Sein cholerischer Despotismus und seine Neigung zur Gewalttätigkeit hatten die Familie gespalten: die Mutter um den Verstand gebracht und die einzige Tochter noch vor Beendigung ihrer Schulausbildung aus dem Haus getrieben. Lu hatte also weder ihre Mutter gepflegt, die in dem Sanatorium bestens versorgt war, noch war sie zu ihrem gewalttätigen Vater zurückgekehrt. Sie hatte die Pflegebedürftigkeit ihrer Mutter und die Potsdamer Adresse ihres Vaters nur als Deckmantel genutzt, um für ein halbes Jahr unterzutauchen. Den Ermittlern, die Lus Sicherheitsüberprüfung durchgeführt hatten, war diese kleine Abweichung offenbar entgangen. Aber ich war zu emotional in die Sache verwickelt um dieses Detail zu übersehen. Ich fing sogar an, mir Sorgen zu machen und noch tiefer zu graben.«</p> <p>»He!«, rief an dieser Stelle der Geschichte eine Stimme vom Gipfel zu uns herab. Es war Gunnar, der einen Topf mit heißer Suppe an einem Seil zu uns herabließ. In dem dicken Graupenbrei steckten zwei Löffel. Der salzige Duft machte mich hungrig. Ich probierte gleich und bedankte mich bei Gunnar.</p> <p>»Hat André gekocht, ich bin nur der Pizzajunge«, antwortete Gunnar und holte, nachdem ich den Knoten gelöst hatte, das Seil wieder ein.</p> <p>»Lecker, Pizza«, seufzte Eliot, während er in dem graubraunen Eintopf herumstocherte.</p> <p>Nach einem lauten ›Achtung!‹ warf uns Gunnar noch etwas Brot nach unten und ließ uns wieder allein auf unserem Felssims zurück. Eliot überwand seine Enttäuschung über die für einen verwöhnten Münchner karg ausfallende Mittagsmahlzeit recht schnell und langte so kräftig zu, dass ich mich beeilen musste, um nicht leer auszugehen. Zu hungrig zum Sprechen schaufelten wir schweigsam den Graupenbrei in uns hinein und wischten anschließend die Schüssel mit dem Brot blitzblank.</p> <p>»Lecker, Graupenbrei«, seufzte Eliot schließlich und bot mir noch ein paar Bonbons als Nachtisch an, bevor er mit seiner Erzählung fortfuhr: »Kurz nachdem mir diese Widersprüchlichkeiten in Lus Lebenslauf aufgefallen waren, erreichte mich der Bericht, den ich auf Basis ihrer Koblenzer Krankenakte angefordert hatte. Das ärztliche Gutachten aus dem Schattenkanal mutmaßte, dass die Patientin zu jener Zeit schwanger gewesen war. Die Untersuchungen und die Medikamentierung deuteten sogar auf eine Risikoschwangerschaft hin. Da die Patientin jedoch sehr jung gewesen sei, war es seltsam, dass Komplikationen befürchtet worden waren. Laut Gutachten konnte es dafür viele verschiedene Gründe geben: ein Strahlungsvorfall, Kontakt mit giftigen Chemikalien, ein schwerer Krankheitsverlauf in der zurückliegenden Krankheitsgeschichte der Patientin oder Erbgutbelastungen im Umfeld der Familie. Es stand jedoch nichts dergleichen in ihrer Akte.</p> <p>»In meinem blinden Eifer entschloss ich mich schließlich, Lu selbst zu fragen. Doch die Konfrontation mit der Vergangenheit wühlte sie so sehr auf, dass sie hysterisch wurde. Sie schrie und schlug wie von Sinnen um sich. Erst als ich ihre Verzweiflung sah, wurde mir bewusst, dass es hier nicht nur um ein paar widersprüchliche Akteneinträge ging, sondern um ein zerbrechliches Menschenleben. Was auch immer damals vor beinahe dreißig Jahren vorgefallen war, sie hatte damit zu kämpfen gehabt. Und nachdem sie sich endlich davon erholt und ein neues Leben begonnen hatte, brachte ich mit meinen neugierigen Nachforschungen alles wieder durcheinander.</p> <p>»Ich unternahm alles, um meinen Fehler wieder gut zu machen, und bot ihr meine Schulter zum Weinen und Festhalten an. Sie wollte zwar partout nicht auf die Ereignisse von damals angesprochen werden, doch entwickelte sich aus unserem katastrophalen Zusammenstoß tatsächlich eine Art Romanze. Plötzlich trug sie die Ohrringe, die ich ihr geschenkt hatte, zwinkerte mir während der Stabssitzungen zu, hakte sich auf dem Weg zur Kantine bei mir unter, überraschte mich nach Dienstschluss mit einem Picknickkorb und fuhr mit mir ins Grüne. Immer wieder verwandelte sie sich jedoch in die Lu zurück, als die ich sie kennengelernt hatte. Dann tat sie so, als ob wir uns nicht kennen würden, verkniff sich jedes Danke oder Bitte, warf mir die Sachen, die ich ihr geschenkt hatte, vor die Füße oder wünschte mich zum Teufel. Sie verhätschelte oder quälte mich. Je nachdem, wonach ihr gerade war. Obwohl sie sich darauf verstand, mich mit Worten, Blicken und Berührungen so glücklich zu machen, wie ich es mir in meinen Träumen nicht schöner hätte ausmalen können, hinterließ unser Zusammensein jedes Mal einen bitteren Beigeschmack. Sie liebte mich nicht. Das ließ sie mich deutlich spüren. Doch da ich immer noch ein schlechtes Gewissen hatte und sie trotz <em>ihrer gelegentlichen Grausamkeiten</em> liebte, verzieh ich ihr alles. Ich lud sie in die Oper ein, führte sie in feine Restaurants und bezahlte teure Hotelzimmer. Unsere Beziehung war eine ziemlich kostspielige Angelegenheit für mich, aber bankrott wurde ich erst, als ich ihre verstörte Reaktion über meinen Geburtsort bemerkte, Riga.«</p> <p>Mir blieb für einen Moment der Atem stehen. Obwohl mir Eliot bereits von seinen frühen Kindheitsjahren in Lettland berichtet hatte, überraschte es mich, dass er dort auch zur Welt gekommen war, noch dazu in Riga, also ganz in der Nähe von Meissmanns Institut, in dem ich geboren wurde. Wieder einmal bewahrheitete sich Oheims Theorie einer kleinen, sehr sehr kleinen Welt. Doch da in meiner Geburtsurkunde nicht meine lettische Geburtsstadt, sondern der letzte Wohnsitz des Ehepaars Fenner, meiner angeblichen Eltern, in Deutschland eingetragen wurde, merkt man mir meine lettische Vergangenheit nicht an, zumal ich meine Zeit in Lettland ausschließlich in dem isolierten Umfeld von Meissmanns Institut und hinter den Zäunen des russischen Kinderheims verbracht habe und weder Lettisch noch Russisch spreche. Ich hoffte, dass ich auf Eliot nicht einen ähnlich verstörten Eindruck machte wie diese Frau. Er kratzte sich jedoch nur kurz am Kinn und setzte seine Erzählung fort: »Ich heuerte daraufhin einen ehemaligen Volksarmisten an, der behauptete, jede Art von Informationen beschaffen zu können, seien es Daten aus kommunistischen Geheimarchiven, planwirtschaftliche Konkursbücher oder Baupläne von Sputniks.« Eliot schaute mich an, als ob er zu viel gesagt hätte, doch ich machte nur eine einladende Geste. Ich würde ihn schon nicht verraten.</p> <p>»Bei dem dubiosen Geheimniskrämer handelte es ich um einen altgedienten Unteroffizier aus dem Sanitätsdienst der Volksarmee, der aufgrund seiner Stasivergangenheit und Parteimitgliedschaft nicht in die Bundeswehr übernommen werden konnte«, erklärte Eliot: »Ich hatte ihn während einer Sicherheits­überprüfung kennengelernt, als ich ihm zusammen mit einem Kölner Kollegen eine Stippvisite in seiner Wohnung im Leipziger Vorort Stötteritz abstatte. Während der Befragung bot er uns plötzlich an, über den kleinen Dienstweg Informationen aus den ehemaligen Ostblockstaaten zu beschaffen. Wir machten diese Avancen zwar aktenkundig, aber weder Köln noch die Hardthöhe interessierten sich dafür. Man hielt ihn wahrscheinlich für einen Aufschneider. Da selbst Pragen diesem fragwürdigen Angebot keine besondere Bedeutung beimaß, verfolgte auch ich diese Sache nicht weiter. Doch nach Lus Reaktion bezüglich meines Geburtsorts kam ich als Kunde auf das Angebot zurück. Ich bat ihn, für mich herauszufinden, ob es in einer Geburtenklinik im Rigaer Raum eine Patientenakte über Lu gab. Meine anfängliche Neugierde hatte sich zu einer regelrechten Obsession ausgewachsen und ich musste meinen Verdacht entweder widerlegt oder bestätigt wissen.« Er hielt einen Moment inne, aber ich wagte nicht, etwas zu sagen, denn ich wollte ihn nicht kränken.</p> <p>»Ich weiß, ich weiß, ich bin verrückt«, gab Eliot plötzlich zu, als ob er meine Gedanken gelesen hätte: »Der Kerl verlangte einen dreifachen Monatssold als Honorar. Alles im voraus. Um mir Kornbluths Vorhaltungen zu ersparen, vermied ich es, die Bezahlung über eines meiner Sparbücher vorzunehmen, und belastete stattdessen mein Girokonto mit einem Kredit.« Er hielt wieder inne und ich sagte wieder nichts.</p> <p>»Ich weiß, ich weiß«, wiederholte Eliot: »Aber mit dem, was danach geschah, hätte ich nicht rechnen können. Oder doch?« Eliot sah mich fragend an, doch ich wusste nicht, wovon er sprach.</p> <p>»Während ich auf Rückmeldung von meinem Informanten wartete und nebenbei einen Kredit nach dem anderen aufnahm, um Lu glücklich zu machen, betrat eine neue Figur die Arena: Nennen wir sie der Einfachheit halber Person P. P war ein hochrangiger Sanitätsoffizier aus Koblenz und – wie könnte es anders sein – ein ehemaliger Kollege und Vertrauter meines Vaters.«</p> <p>Bei der Erwähnung des Zentrallazaretts, Professor Meissmanns unangefochtenen Herrschaftsgebiets, horchte ich auf und für den Bruchteil einer Sekunde befürchtete ich sogar, dass er Meissmann meinen könnte. Doch dann hätte er vermutlich den Buchstaben M als Namenskürzel gewählt. Oder stand das P einfach nur für Person? Ich wagte jedoch nicht, meine Gedanken auszusprechen, und Eliot führte die Sache auch nicht weiter aus, sondern nahm seine Mütze vom Kopf und fuhr mit beiden Händen durch seine langen Haarsträhnen. Dann sah er mich an. Eindringlich. Durch seine zurückgestrichenen Haare hatte sein Blick etwas Wahnsinniges. »Wilhelm«, flüsterte er plötzlich: »Was ich Dir als Nächstes sage, musst Du mir glauben! Denn ich kann mich an alles erinnern!«</p> <p>Ich schüttelte zunächst den Kopf, weil ich nicht verstand, was er meinte. Doch dann nickte ich so nachdrücklich, dass die Löffel in der leeren Suppenschüssel auf meinem Schoß klirrten. Natürlich würde ich ihm glauben. Erst recht, wenn er so innständig darum bat. Tomo war immer der Meinung gewesen, dass man einem anderen Menschen glauben musste, wenn er seine Worte inständig beteuerte. Ich teilte diese Meinung nicht mit der Absolutheit, mit der Tomo sie vertrat, aber ich spürte, dass Eliot mir etwas anvertrauen wollte, das für ihn Wahrheit war. Und was für ihn Wahrheit war, würde mir als Wahrheit genügen.</p> <p>»Weißt Du, Wilhelm, ich erinnere mich an alles, aber ihr zuliebe–« Er unterbrach sich und setzte erneut an: »Einen Teil der Wahrheit verschweige ich, um sie zu schützen, und den anderen Teil erlaubt man mir nicht auszusprechen. Aber Du, glaubst Du mir?«</p> <p>Ich nickte erneut. Dieses Mal, ohne dass die Löffel klapperten. Ich stellte die Schüssel zur Seite, holte meine Feldflasche hervor und hielt sie Elli hin. Er nahm ein paar Schlucke und entspannte sich ein wenig. Ich hatte das Gefühl, dass ihm sein Gefühlsausbruch plötzlich peinlich war. Er riss sich jedoch zusammen und erzählte weiter: »P hatte eigens meinetwegen den Komfort seiner rheinischen Festung aufgegeben, um im wilden Osten für Ordnung zu sorgen. Meine Liaison mit Lu und meine Nachforschungen missfielen ihm. Er war eine schillernde Person und sein Auftritt im Leipziger Krankenhaus war gewaltig. Niemand wagte, an seiner absoluten Autorität und Kompetenz zu zweifeln. Entweder sie kuschten vor ihm in Furcht oder sie versuchten, sich bei ihm beliebt zu machen. An dem Tag seiner Ankunft wurde aus meiner Lu endgültig ein Häuflein Elend. Sie schrie nur noch, weinte oder lachte hysterisch. Ich versuchte, sie zu beruhigen, doch sie wollte sich nicht von mir trösten lassen. Stattdessen machte sich über mich lustig, indem sie ihre Zuneigung zu P auf provokante und laszive Weise zur Schau stellte und peinliche Gerüchte über mich in die Welt setzte. Sie machte sich damit natürlich selbst unmöglich. Bald nannte man uns König Ödipus und seine Femme fatale. Der Chefarzt der Klinik versuchte, die Tragödie zu beenden, indem er Lu umgehend von ihrem Dienst als Leiterin der Apotheke freistellte. Ich hatte inzwischen Pragen verständigt und um sofortige Ablösung gebeten, aber er hielt mich dazu an, noch eine Weile auf meinem Posten auszuharren. Ich weiß nicht, wieso er mir das antat. Nach dem Skandal, nach dem Gesichtsverlust, und obwohl sich P alle Mühe gab, meine Stellung zu untergraben. Er warf Pragen Befugnisüberschreitung und die Verfolgung von Eigeninteressen vor und verlangte, dass ich umgehend aus der Kommission entfernt werden müsse und den Leipziger Standort zu verlassen habe. Es sagte, dass Agenten der Münchner Geheimdienststelle nichts in Leipzig verloren hätten, aber da ich während meiner Berufung in die Leipziger Kommission der Kölner Zentrale unterstand, hatte alles seine protokollarische Richtigkeit. Nachdem P jedoch damit drohte, eine offizielle Beschwerde einzulegen, erschien schließlich Pragen persönlich vor Ort und es entbrannte ein Kampf der Giganten, in dem Lu und ich wie winzige Krümel zerrieben wurden.«</p> <p>Obwohl ich mit Eliot mitfühlte, war ich zugleich ein wenig erleichtert, dass seine Beschreibung von P nicht auf Professor Meissmann passte. Wäre er dieser ominöse Person P gewesen, hätte ich mich irgendwie mitschuldig gefühlt. Ich bin selbst erstaunt, dass es mir offenbar immer noch nicht gelungen ist, mich vollständig von dem Professor zu distanzieren. Wenn ich an den alten Sanitätsoffizier zurückdachte, den ich auf dem Parkplatz am Starnberger See kennenlernen durfte, konnte ich mir ein Bild von diesem P machen.</p> <p>»Vielleicht wäre alles noch relativ glimpflich ausgegangen, wenn mich nicht kurz vor meiner Abreise nach München eine Nachricht von meinem NVA-Mann erreicht hätte. Er war tatsächlich fündig geworden und bestellte mich nach Stötteritz, um mir den Gegenwert meiner finanziellen und emotionalen Großinvestition auszuhändigen. Ich war überrascht, als er mir nicht nur einen Zettel mit ein paar handschriftlichen Informationen, sondern ein stattliches ein Päckchen mit Originaldokumenten aus Riga in die Hand drückte. Bei der Übergabe fasste er die Ergebnisse seiner Recherchen kurz zusammen und flog dabei mit flinken Fingern durch die lose Blattsammlung des Aktenbündels, um seine Worte mit Quellenmaterial zu untermauern: Namen, Unterschriften, Dienststempel, Datumsangaben. Lu war unter dem falschen, aber wenig originellen Namen Luīze Tērauds in einem Rigaer Krankenhaus niedergekommen. Luīze Tērauds ist Lettisch und ergibt ins Deutsche übersetzt Lus amtlichen Vornamen und Familiennamen. Die Entbindung verlief komplikationsfrei und Mutter und Tochter waren nach der Geburt wohlauf.«</p> <p>Bei der Erwähnung einer Tochter fiel mir ein Stein vom Herzen. Ich hatte für einen kurzen Moment befürchtet, die Tatsache, dass Eliot im selben Zeitraum in Riga zur Welt gekommen war, in dem seine spätere Femme fatale dort ein Kind zur Welt gebracht hatte, könnte von schwerwiegenderer Bedeutung sein. Ich schaute ihn an. Er hatte nicht unbedingt viel von seiner japanischen Mutter geerbt. Seine Haare und seine Augen waren zwar von einem fast unnatürlich tiefen schwarz, aber er war hochgewachsen und hatte trotz seiner schmalen Augenlider große, mandelförmige Augen. Als Eliot meinen musternden Blick bemerkte, stellte er kurz irritiert die Augenbrauen, bevor er fortfuhr: »Als sich das Neugeborene jedoch im Krankenhaus mit einem Bakterienstamm infizierte, der sich gegenüber der herkömmlichen Behandlung mit Antibiotikum als resistent erwies, und an eine Spezialklinik überwiesen werden musste, erlitt die Mutter einen schweren Nervenzusammenbruch und musste bis zu ihrer Entlassung mithilfe von Psychopharmaka ruhiggestellt werden. Das klang ganz nach der Lu, die ich kannte. Ich fragte natürlich sofort nach, was mit dem Kind passiert war. Aber der Alte rieb nur Daumen und Zeigefinger aneinander und meinte, das sei nicht so einfach. Mehr Geld wollte ich nach dem Debakel jedoch zunächst nicht in diese Sache investieren. Ich nahm die Patientenakte an mich und eilte zur nächsten Telefonzelle, um Lu um ein Treffen zu bitten. Ich hatte das Gefühl, den Schlüssel zu ihrer Rettung gefunden zu haben. Sie wollte mich zwar zunächst nicht sehen, ließ sich dann aber doch zu einem Treffen überreden und bestellte mich in die Lazarettapotheke. Sie sagte, es sei bereits spät und im Krankenhaus kein großer Betrieb zu erwarten. In den Hinterräumen der Apotheke würden wir ungestört plaudern können. Ich bestellte mir sofort ein Taxi und fuhr ins Lazarett.« Eliot sah mich unglücklich an. Es lag auch eine Entschuldigung in seinem Blick und die Bitte, ihm zu glauben. Ich nickte. Ich glaubte ihm und wollte die Geschichte zu Ende hören.</p> <p>»Als ich die Apotheke betrat, war Lu bereits anwesend. Wir setzten uns in ein kleines Zimmer mit einem Computerterminal, wo ich die Dokumente aus dem Briefumschlag nestelte und die Informationen, die mir der Alte gegeben hatte, vor Lu ausbreitete. Lu hörte zwar zu, zeigte jedoch keinerlei Gefühlsregungen. Weder bestätigte sie, was ich sagte, noch widersprach sie. Sie ließ mich einfach reden. Ich war froh, dass sie sich nicht aufregte, und bot ihr schließlich an, ihr bei der Suche nach ihrer Tochter behilflich zu sein, als sie plötzlich ihre Hand auf meine Schulter legte und sagte: ›Es tut mir leid.‹« Eliot atmete tief durch, bevor er weitersprach: »Als ich aus dem Koma erwachte, konnte ich mich zunächst an nichts erinnern, aber nach nur wenigen Stunden, klarte mein Gedächtnis wieder vollkommen auf. ›Es tut mir leid‹, hatte Luise gesagt. Überrascht von ihrer Berührung und dem Klang ihrer Stimme schaute ich auf und sah im schwarzen Monitor des Computerterminals eine weiße Geistererscheinung hinter mir. Nachdem sich meine Augen jedoch auf das spiegelnde Glas des Monitors eingestellt hatten, erkannte ich P so deutlich, als würde ich einen blank polierten Spiegel sehen. Deswegen sah ich auch, wie er die Hand hob. Anstatt mich jedoch nach ihm umzudrehen und mich zu verteidigen, schaute ich nur Lu an. Ich konnte es nicht fassen. Sie hatte mich verraten. Bevor ich jedoch etwas sagen, fragen oder tun konnte, fühlte ich einen sengend heißen Schmerz hinter meinem linken Ohr, ein Stich, ein Pulsieren, ein Rauschen. Lu schrie, als ich zusammenbrach und mein Kopf dabei drei Mal aufschlug: erst auf der Kante des Schreibtischs, auf dem noch immer die Papiere ausgebreitet lagen, dann auf dem Stuhl, auf dem ich kurz zuvor gesessen hatte, und zuletzt auf dem Boden. Ich wollte etwas sagen, doch ich konnte weder sprechen noch meine Arme oder Beine bewegen. Atmung, Herz- und Lidschlag schienen noch zu funktionieren. Ich lag auf dem Rücken und sah, wie P eine Spritze weglegte. Lu war bestürzt. Sie musste sich selbst den Mund zuhalten, um nicht zu schreien. Mit weit aufgerissenen Augen wich sie ein paar Schritte zurück, bevor sie sich umdrehte, zu einem Regal eilte und mit einem braunen Fläschchen zurückkam. Inzwischen hatte sich P zu mir heruntergebeugt, um mir etwas ins Ohr zu flüstern: ›Hab keine Angst‹, sagte er: ›Dir wird nichts passieren. Aber hier endet Deine Aufsässigkeit.‹ Ich wollte mich wehren, sei es auch nur verbal, aber ich konnte mich nicht rühren. Es reichte noch nicht einmal für einen vorwurfsvollen Blick. Stattdessen beobachtete ich stumm, wie Lu etwas Flüssigkeit aus dem braunen Fläschchen auf ein Taschentuch tropfte und sich neben mir auf den Boden kniete. ›Es tut mir leid‹, sagte sie noch einmal, bevor sie mir mit einer Hand das Tuch aufs Gesicht drückte und mit der anderen meine Augen schloss. Das war ihre Gnade, ihre Reue, ihre Liebe.</p> <p>»Nachdem meine Erinnerung zurückgekehrt war, verständigte ich sofort Pragen und die Polizei. Doch in meinem Krankenblatts war längst eine andere Version der Geschichte eingetragen worden. Es hieß, ich hätte abends am Computerterminal der Apotheke an meinen Berichten gearbeitet, als aufgrund eines porösen Dichtungsrings bei einer Druckkartusche aus den alten NVA-Beständen ein Narkosegas ausgetreten sei. Nach der Inhalation des toxischen Gases sei ich ohnmächtig geworden und auf dem Boden aufgeschlagen. So habe man mich vorgefunden. Weder Lu noch P wären an jenem Abend im Krankenhaus gewesen. Meine vom angeblich tatsächlichen Hergang des Unfalls abweichenden Fantastereien wurden meinem Trauma zugerechnet. Lus Koblenzer Patientenakte sowie ihr digitaler Fingerabdruck in der Patientenkartei des Zentrallazaretts waren verschwunden. Ebenso die Dokumente aus dem Rigaer Krankenhaus. Die anonymisierten Daten aus dem Schattenkanal waren ohne jegliche Beweiskraft und mein NVA-Informant gab zwar zu, mir eine Dokumentenmappe aus dem Rigaer Krankenhaus beschafft zu haben, behauptete jedoch, deren Inhalt nicht zu kennen. Obwohl es etliche Ungereimtheiten gab, war ich die zermürbenden Verhöre und Anfeindungen satt und sogar fast dazu bereit, wirklich an diesen ganzen Spuk zu glauben, als ich Lu im Polizeipräsidium begegnete, wo wir unsere Aussagen erneut zu Protokoll geben mussten. Sie sah mich nicht an, sondern ging mit gesenktem Kopf an mir vorbei und sagte: ›Es tut mir leid.‹ Da entschied ich mich, die Sache ruhen zu lassen. Um ihretwillen. Ich stehe nun wegen meines Traumas und meines angeblichen Gedächtnisverlusts unter ärztlicher Beobachtung. Was für eine Geschichte, nicht wahr?« Er lachte und nahm ein kleines Foto aus seiner Geldbörse: »Das ist sie«, sagte er und reichte mir das Bild. Ich hatte die Geschichte für abgeschlossen gehalten. Dass er noch immer ein Bild von dieser Person bei sich trug, versetzte mir einen Stich. Ich wollte das Bild nicht sehen. Noch nicht einmal anfassen wollte ich es. Dennoch nahm ich es in die Hand.</p> <p>»Wie findest Du sie?«, fragte Eliot.</p> <p>Ich hatte jedoch keine Meinung und schwieg. Auf dem Foto war nur ein blasses Gesicht zu sehen und der Kragen einer hellblauen Bluse. Es sah aus wie ein Passfoto. Nur die Größe stimmte nicht. Ein vertikal und ein horizontal verlaufender Knick teilte das Bild in vier Bereiche. Wie ein Koordinatensystem. Zwischen den Augen verlief ein Berggrat, und das unnatürliche Fotolächeln lag in einer Talfalte. Auf der Rückseite standen Name, Geburtsdatum und Geburtsort: Luise Stahl, 11. März 1944, Berlin.</p> <p>»Diese Farbkopie des Passfotos aus ihrer Kölner Personalakte, die ich mir damals heimlich angefertigt habe, ist das einzige Bild, das ich von ihr besitze.«</p> <p>Ich gab ihm das Foto zurück. Er nahm es und betrachtete so eingehend, als sähe er es zum ersten Mal: »Die Augen, die Ohren, das Haar, sie sieht Dir irgendwie ähnlich, findest Du nicht auch?«, fragte er plötzlich. Ich schaute erneut auf das Bild, aber bis auf die großen, abstehenden Ohren konnte ich keine Gemeinsamkeit erkennen. Es war mir unangenehm, dass mich Eliot damit indirekt auf meinen Makel ansprach. Ich schüttelte den Kopf und machte dabei ein so verkniffenes Gesicht, dass ich dem Foto am Ende vermutlich doch ein wenig ähnlich sah, aber nicht wegen der Ohren, sondern wegen der Knicke im Papier.</p> <p>»Hm«, machte Eliot. Er schien, bei seiner Meinung bleiben zu wollen: »Ich habe schon probiert, das Bild wegzuwerfen, doch als ich meinen Mülleimer nach dem Ausleeren wieder an seinen Platz stellte, lag das Bild noch immer darin. Ich hatte das Gefühl, dass es bei mir bleiben wollte, und nahm es wieder an mich.« Mit einem seltsamen Lächeln steckte er das Bild zurück in seine Geldbörse.</p> <p>Ich war hin- und hergerissen zwischen Anteilnahme und Eifersucht und beobachtete jede seiner Gesten, bevor ich all meinen Mut zusammennahm und ihm eine Frage stellte, die mich schon die ganze Zeit beschäftigte: »Liebst Du sie noch?«</p> <p>»Nein«, antwortete er entschieden: »Aber ich habe noch immer ein schlechtes Gewissen, weil ich sie damals so unglücklich gemacht habe.« Ich nickte. Ich hatte auch ein schlechtes Gewissen, weil ich ihm nicht widersprochen hatte, als er sich selbst als verrückt bezeichnet hatte, und weil ich während der gesamten Geschichte nicht ein einziges Mal meine Anteilnahme zum Ausdruck gebracht hatte.</p> <p>»So«, sagte Eliot: »Jetzt weißt Du, warum man mir davon abrät, mich zu verlieben, und warum auch ich es für das Beste halte.« Danach sagte lange Zeit keiner mehr etwas. Erst als ich hörte, wie sich die anderen zum Aufbruch bereit machten, rappelte ich mich auf. Eliot wollte noch einen Moment sitzen bleiben. Ich nickte und kletterte mit unserer leergegessenen Suppenschüssel zurück zu den anderen. Ich hatte es geschafft, während des gesamten Gesprächs nur einen einzigen Satz zu sprechen. Trotzdem war es ein Dialog gewesen.</p> <p>Der Rest des Tages verlief ruhig. Falk und ich trennten uns wieder von dem Rest der Truppe, doch ich sprach ihn auch dieses Mal nicht auf die Sache an. In den vier Stunden, in denen wir gemeinsam unterwegs waren, wechselten wir nicht mehr als zehn Silben. Anstatt uns ständig Kletterkommandos zuzurufen, verständigen wir uns oft lediglich über den Zug am Seil oder manchmal auch durch Handzeichen, um uns gegenseitig mitzuteilen, dass wir Stand bezogen haben, mehr Seil brauchen oder bereit sind zum Nachsichern. Auch Falk kann bisweilen schweigsam sein. Es ist jedoch eine isolierte Schweigsamkeit. Jeder schweigt für sich. Bei Elli ist das anders, wir schweigen miteinander.</p> <p>An diesem Abend waren Falk und ich die Nachzügler. Aus der Hütte stieg bereits Rauch auf, als wir ankamen, und aus dem Winterraum hörte man ein Wirrwarr aus Stimmen. Es wurde gespielt, gesungen, geplattelt und geplaudert. Gunnar hatte Spaghetti gemacht. Ich machte meine Schüssel über den Rand voll und setzte mich damit ein wenig abseits, um mein Material zu putzen und zu polieren. Ich ging dabei so sorgfältig und gemütlich vor, dass ich stundenlang alleine in meiner Ecke beschäftig war. Ich schaute jedoch immer wieder zu Elli hinüber, der sich ab und zu mit Anna unterhielt, die meiste Zeit jedoch schwieg. Später ließ er sich von Annas Freundin aus der Hand lesen und legte mit den anderen Knoten um die Wette – blind, einhändig und auf Zeit. Als sich der gesellige Abend mit wachsender Müdigkeit langsam aufzulösen begann und die ersten bereits satt und erschöpft auf ihren Matratzen lagen, beobachtete ich, wie Elli etwas aus seinem Gelbbeutel hervornestelte und es mit dem Schürhaken zwischen die glühenden Holzscheite im Ofen schob. Er legte noch etwas Brennholz nach und verharrte reglos vor dem Ofen, bis das frisch nachgelegte Holz Feuer gefangen hatte.</p> <p>Als er sich umdrehte und bemerkte, wie ich ihn beobachtete, setzte er sich zu mir auf die Bank. Ich rückte ein Stück zur Seite und begann meine zum Trocknen ausgelegte Ausrüstung zusammenzupacken.</p> <p>»Manchmal überschreibt die Gegenwart die Vergangenheit«, sagte ich.</p> <p>»Ja«, antwortete er und bot mir von seinen Bonbons an.</p> <p>Obwohl wir es dieses Mal deutlich wärmer hatten und Eliot aufgrund seines hohen Zuckerverzehrs über reichlich Brennmaterial in seinem Blutkreislauf verfügte, baute ich wieder eine Wärmflasche für ihn. Er nahm die mit heißem Tee gefüllte und in Isolierstoff gewickelte Feldflasche dankbar an und fragte, ob mir nicht auch kalt sei. Ich verneinte. Die Art von Wärme, die mir fehlte, ließ sich nicht mit einer Wärmflasche herstellen.</p> <p>»Was hat Annas Freundin aus Deiner Hand gelesen?«, fragte ich, obwohl es mich eigentlich nicht interessierte, und setzte mich, solange die anderen noch mit Bettenbauen und Platzstreitigkeiten beschäftigt waren, auf Eliots Bettkante.</p> <p>»Nichts, was ich nicht schon längst gewusst hätte.« Er betrachtete nachdenklich die Linien auf seinen Handflächen: »Die Pfade meiner Seele sind dunkel. So dunkel wie meine Träume«, murmelte er.</p> <p>»Dunkle Träume?«, fragte ich: »Du meinst Alpträume?«</p> <p>»Nein, es sind keine Alpträume. In meinen Träumen ist es einfach immer dunkel«, erwiderte er. Seine Stimme war fast zu einem Flüstern geworden: »Und eigentlich ist es immer derselbe dunkle Traum.«</p> <p>»Ich mag die Dunkelheit«, sagte ich nun ebenfalls gedämpft.</p> <p>»Ich auch, aber diese nicht. Sie ist überall. Sie raubt mir nicht nur die Sicht, sondern bietet schrecklichen Gestalten Unterschlupf, die dort umherkriechen und nach mir greifen. Ich irre durch einen zähen Nebel – vollkommen blind – und suche nach jemandem. Ich weiß allerdings nicht, wen, nur dass mein Leben davon abhängt, diese Person zu finden. Ich rufe, gebe aber keinen Laut von mir – ich bin stumm. Mich umgibt ein Gefühl von abgrundtiefer Traurigkeit. Das Gefühl, dass man hat, wenn man die erste Nacht in einer fremden Welt verbringt, und das Gefühl, das man hat, wenn man diese Welt, nachdem sie einem zur Heimat geworden ist, plötzlich wieder verlassen muss.«</p> <p>Ich atmete tief ein und schaute ihn einfach nur an. Es war einer jener idiotischen Momente. Ich hätte mit ihm mitfühlen sollen, aber stattdessen fühlte ich mich einfach nur gut und genoss unsere Zweisamkeit inmitten des Trubels um uns herum.</p> <p>»Mein Therapeut sagt«, fuhr Eliot immer noch flüsternd fort, »der Traum entspränge einem inneren Zwiespalt: Der Wunsch, allein zu sein, auf der einen Seite und die Angst, verlassen zu werden, auf der anderen. Er hat mir eine spezielle Traumtherapie vorgeschlagen, um dieser Sache auf den Grund zu gehen. Ich spiele mit dem Gedanken, zuzustimmen. Was meinst Du dazu?«</p> <p>»Müssen Träume immer was bedeuten?«, fragte ich: »Ich glaube, meine Träume sind nichts weiter als ein zusammenhangloses Gehirnstottern, während mein Körper und mein Bewusstsein eine kurze Ruhepause einlegen. Fantasie, Realität und Erinnerungen, alles wild durcheinandergemischt.«</p> <p>»Das mag für die meisten Träume gelten«, hakte Eliot ein: »Aber mein dunkler Traum ist anders. Denn er ist real, keine Fantasie und keine Erinnerung.« Er nahm meine Hand: »Fühlst Du, wie mein Herz rast?«, fragte er: »Allein beim Gedanken daran!« Ich versuchte, mich auf das sanfte, aber schnelle Pulsieren zu konzentrieren, das durch die dicken Wollmaschen seines Pullovers hindurch gegen meine Finger klopfte. Auch sein Atem ging schnell. Ich spürte ihn auf meinem Handrücken.</p> <p>»Als Kind war ich ein Traumwandler. ›Oyasumi, tsukiyomi ni mamotte morau‹, sagte meine Großmutter immer, wenn sie mich ins Bett brachte: ›Ruh Dich aus, der Gott der Träume wacht über Dich.‹ Einmal unternahmen wir sogar eine weite Reise mit der Fähre und der Bahn, um einen Schrein des Traumgottes zu besuchen, wo wir beteten und Kuchen aßen.«</p> <p>»Hat es geholfen?«</p> <p>»Das Beten? Ich weiß nicht. Aber der Kuchen auf jeden Fall. Meine Großmutter ließ jedenfalls nichts unversucht. Da sie befürchtete, dass der Kobold, der für meine Traumwandelei verantwortlich war, mir am Ende meine Seele stehlen würde, holte sie sogar Priester und Dämonenjäger zuhilfe.«</p> <p>»Und konnten die mehr für Dich tun als Beten und Kuchenessen?«, fragte ich und zog meine Hand zurück.</p> <p>»Sie versuchten es zumindest, indem sie die bösen Geister mit Glücksamuletten und Schutzzaubern bannten. Aber das mit der Traumwandelei ist lange her. Jetzt träume ich nur noch diesen einen Traum. Den dunklen.«</p> <p>Es war inzwischen sehr ruhig in dem Schlafraum geworden. Hier und da wurde noch geflüstert, bis Gunnar mit einem lauten ›Zapfenstreich‹ und die Gaslampe abdrehte. Sofort flammten einige Taschenlampen auf, die jedoch nach einem kurzen Gezappel ebenfalls erloschen. Es wurde mucksmäuschenstill auf dem Bettenboden.</p> <p>»Oyasumi, tsukiyomi ni mamotte morau«, raunte ich in Eliots Richtung, bevor ich nach unten schlich und mich vor das sterbende Feuer im Ofen setzte. Ich warf noch ein letztes Holzscheit in die Flammen für ein wenig Gesellschaft und schlief auf der harten Holzbank ein.</p> <p>Ich wachte erst wieder auf, als am frühen Morgen so gegen vier Uhr der Erste austreten musste. Es war Eliot. Ich stellte mich schlafend, als er auf dem Weg zurück nach oben mein ungemütliches Nachtlager entdeckte und einen Moment davor verharrte, bevor er schließlich meinen Schlafsack holte und ihn wie eine Decke über mir ausbreitete. Danach schlich er zurück in seine Koje. Einer nach dem anderen stand nun auf, erleichterte sich und legte sich wieder hin. So wurde es langsam Tag.</p> <p>Kurz vor sieben war allgemeines Wecken, als Gunnar mit einem Löffel auf sein Aluminiumgeschirr schlug und damit alle aus dem Schlaf trommelte. Sofort begann in der Hütte ein geschäftiges Treiben. Wie die Bienen machten sich alle daran, Marschbereitschaft herzustellen. Eliot säuberte den Ofen und entleerte die Aschelade und den Wassergrand in die Latrine, während ich die Rucksäcke und Kraxen vom Bettenboden holte und nach draußen schleppte. Auch die anderen putzten, spülten und räumten auf oder bereiteten das Vesper für die bevorstehende Etappe vor. Nur wenige faulenzten herum.</p> <p>Das war im Prinzip auch schon der ganze Dreikönigsmarsch. Ich seilte mich wieder mit Falk vom Rest der Truppe ab, sprach ihn jedoch wieder nicht auf die Sache an. Ich brachte es einfach nicht übers Herz, ihm seinen Ausflug zu verderben.</p> <p>Wir trafen Eliot und die anderen zur Mittagszeit auf dem verabredeten Gipfel wieder. Es wurde gegessen, fotografiert und herumgealbert. Ich fand diese Mal allerdings keine Gelegenheit, mit Eliot längere Zeit allein zu sein. Wir hielten uns jedoch insgesamt nicht lange auf. Allen war klar, dass die Tour vorbei war und dass es nun nach Hause ging. Die meisten mussten am nächsten Tag arbeiten und waren in Gedanken schon wieder drunten im Tal bei ihren Sorgen und Verbindlichkeiten.</p> <p>Auf dem letzten Stück des Weges scherten Falk und ich erneut aus dem Pulk aus, indem wir, anstatt mit den anderen in endlosem Zickzack nach unten zu wandern, unsere Skier anschnallten, um über die verschneiten Hänge nach unten zu rutschen.</p> <p>Falk und ich boten den anderen an, alle überschüssigen Gerätschaften mit nach unten zu nehmen. Wenn man noch so an die dreißigtausend Schritte zu gehen hat, zählt jedes unnütze Gramm. Falk und ich hingegen mussten uns mit unseren vollgepackten Rucksäcken einfach dem Sog der Schwerkraft entgegenwerfen. Wir übernahmen von den anderen den Abfall, Gaskartuschen, Kochgeschirr und Seile. Eliot äugte skeptisch über die Bergkante und fragte, ob das nicht unser Tod sei, wenn wir uns dort hinabstürzten.</p> <p>»Es wäre unser sicherer Tod, wenn wir es nicht täten«, belehrte ihn Falk.</p> <p>Eliot drehte sich nach Anna um und suchte ihre Zustimmung, doch sie zuckte nur mit den Schultern und meinte, bei Falk seien Hopfen und Malz verloren.</p> <p>»Es lebe der Teufel und der Hopfen und das Malz«, schrie Falk und stürzte sich in die Tiefe. Anna schüttelte nur den Kopf und lachte. Vermutlich wusste sie, dass, wer mit einem Hornschlitten Autos überholte, keine Probleme hatte, auf Skiern einen verschneiten Hang hinabzukommen. Ich schaute Elli an. Ich hätte ihm gerne erklärt, welche Genugtuung es war, über den Schnee, der einem das Hinaufkommen zur Qual gemacht hat, mit Leichtigkeit wieder zurück ins Tal zu kommen. Es war, als würde sich der Schnee entschuldigen und zur Versöhnung für einen schnellen Heimweg sorgen. Ich sagte jedoch nichts, sondern nickte ihm nur schweigend zu, zog meine Mütze tief über die Ohren und stürzte mich hinter Falk in die Schlucht.</p> <p>Auf diesen Steilabfahrten hängen wir selbst Gunnar und André ab. Anna hätte uns folgen können, denn in Sachen Skifahren ist sie uns allen voraus, aber ihr Verantwortungsgefühl hielt sie bei der Truppe. André macht sich nichts aus solchen kleinen Abenteuern. Er sieht darin nur ein unnötiges Risiko, aber Gunnar hasst uns dafür. Sein Stolz …</p> <p>…</p> <p>…</p> <p>…</p> <p>… wiedergefunden zu haben, und ich schreibe diese Zeilen für Dich. Damit Du mir vergibst und damit Du weisst, dass ich …</p> <p>…</p> <p>…</p> <p>…</p> <p>~ Wilhelm Fenner</p> </div> <div class="field field--name-field-ort field--type-link field--label-hidden field__item"><a href="https://www.openstreetmap.org/relation/939341">Mittenwald</a></div> <div class="field field--name-field-datum field--type-datetime field--label-hidden field__item">Montag, 6. Jan.. 1992</div> <div class="field field--name-field-bezugsort field--type-link field--label-inline"> <div class="field__label">Bezugsort</div> <div class="field__item"><a href="https://www.openstreetmap.org/relation/939341">Mittenwald</a></div> </div> <div class="field field--name-field-bezugsdatum field--type-datetime field--label-inline"> <div class="field__label">Bezugsdatum</div> <div class="field__item">Samstag, 4. Jan.. 1992</div> </div> <div class="field field--name-field-kapitel field--type-integer field--label-above"> <div class="field__label">Kapitel</div> <div class="field__item">9</div> </div> <div class="field field--name-field-dateinummer field--type-integer field--label-inline"> <div class="field__label">Dateinummer</div> <div class="field__item">902</div> </div> Thu, 16 Mar 2023 20:11:20 +0000 eloroke 35 at https://www.adamsakte.de Judastee https://www.adamsakte.de/Tagebuch/Judastee <span class="field field--name-title field--type-string field--label-hidden">Judastee</span> <span class="field field--name-uid field--type-entity-reference field--label-hidden"><span>eloroke</span></span> <span class="field field--name-created field--type-created field--label-hidden">Do., 16.03.2023 - 21:13</span> <div class="clearfix text-formatted field field--name-body field--type-text-with-summary field--label-hidden field__item"><p>…</p> <p>…</p> <p>…</p> <p>… Nachdem ich von Kopf bis Fuß gefilzt, durchleuchtet und abgetastet worden war – sogar meine Jacke, meine Mütze und meine Stiefel hatte ich ablegen müssen – wurde ich in einen spartanisch eingerichteten, aber dennoch vornehmen Wartebereich geführt. Zwischen mannshohen Palmen und mit farnartigen Gewächsen bepflanzten Blumenkübeln standen vier dickgepolsterte Sessel auf silbernen Federkufen, die sich wippend nach hinten neigten, sobald man darauf Platz nahm. Ein weißer Adonis versteckte seine Scham hinter einem großen Palmblatt der ausladend wuchernden Zimmerbepflanzung und starrte mit verklärtem Blick zur Decke. Die Decke starrte aus zwei länglichen Augenschlitzen mit kurzen Wimpern aus spiegelnden Silberlamellen zurück und tauchte den zum Flur hin offenen Besucherbereich in gleichmäßiges grelles Neonlicht. Eine bis zum Fußboden hinunterreichende Fensterfront gewährte einerseits einen imposanten Panoramablick auf den Park im Innenhof der Anlage und andererseits die Möglichkeit, ein letztes Mal zu prüfen, ob das Hemd ordentlich in der Hose steckte.</p> <p>Ich setzte mich reihum in jeden der vier Stühle und schaukelte ein wenig vor und zurück, bevor ich durch die gläserne Wand hinunter in den gänzlich von Gebäuden umschlossenen Park schaute, in dessen Mitte ein von mächtigen Bäumen bewachter See lag. Der nicht zugefrorene Teil der Wasseroberfläche war spiegelglatt und vollkommen ruhig. Selbst an der Stelle, wo die nackten dünnen Zweige einer Trauerweide den See berührten, war nicht das leiseste Wasserkräuseln festzustellen. Neben dem gelblichen Spalier aus Weideruten ragte ein offener Steinpavillon wie eine kleine Landzunge in den See und im hohen Schilf der Uferböschung schliefen zwei Schwäne. Auch der Rest des Parks war aufgrund der gänzlich entlaubten Baumkronen gut zu sehen: mit Kies gestreute Wege, zugeschneite Rasenflächen und sogar Holzbänke zum Ausruhen. Doch der Park war menschenleer. Es war wohl zu kalt oder zu früh, vielleicht auch beides. Nur ein paar tapfere Wintervögel suchten in der harten Erde nach eiweißhaltiger Nahrung oder nahmen mit dem für sie in den Bäumen aufgehängten Trockenfutter vorlieb.</p> <p>Die Wetterfahne auf dem Dach des gegenüberliegenden Gebäudes zeigte nach Norden. Die Meteorologen hatten also richtig gelegen. Ich selbst habe die vergangenen Tage nur selten in den Himmel geschaut. Und wenn ich es tat, sah ich in den vorüberziehenden Wolken weder Wasser noch Nebel, Schnee oder Eis, sondern nur meine eigenen Träume. Auch als ich Anfang der Woche gemeinsam mit Falk durch die schrundigen Gletschergebiete des Tiroler Alpenlands stieg und auf dem Rückweg auf einer ausgesetzten Sonnenterrasse Rast machte, war ich so sehr in mich selbst versunken, dass mich erst das schallende Schnappen eines Karabiners aus meinen Tagträumereien riss. Dösig blinzelte ich durch den Vorhang aus strahlendem Himmelsblau und sengender Mittagssonne und stellte erschüttert fest, dass Falk weinte. So etwas habe ich bei ihm noch nie erlebt. Seine zornigen Tränen glitzerten im hellen Sonnenlicht wie Tau, doch sein Gesichtsausdruck war so finster wie die Nacht.</p> <p>Er musste zuvor irgendetwas gesagt haben, was ich vermutlich besser hätte hören sollen. Ein bisschen grob vielleicht, aber mit den besten Absichten wischte ich ihm mit dem weichen Innenfutter meiner Schneehandschuhe das Wasser aus den Augen und sagte scherzhaft: »Falk, Du taust.« Doch er war ausnahmsweise einmal nicht zum Scherzen aufgelegt und schlug mir mit einer abwehrenden Geste den Fäustling aus der Hand: »Weißt Du, wer hier taut?«, presste er wutschnaubend zwischen seinen Zähnen hervor. Ich erwiderte jedoch nichts, sondern hob schweigend meinen Handschuh auf.</p> <p>»Du!«, spie er plötzlich aus und deutete, um jeglichen Zweifel auszuräumen, an wen sich seine Anklage in dieser menschenleeren Gegend richtete, mit dem Finger auf mich, während ich den Schnee aus dem Futter meines Fäustlings klopfte: »Du taust!« Sein Echo gab ihm recht. Wutschnaubend band er sich aus und sagte, dass er lieber umkommen wolle, als auch nur einen Schritt weiter mit mir in einer Seilschaft unterwegs zu sein. Ich respektierte seine Entscheidung, denn Sorgen brauchte ich mir um ihn keine zu machen. Er kannte den Weg genauso gut wie ich.</p> <p>»Ich dachte immer«, fuhr er mich an, »der Grund für Deine Einsamkeit und Zurückgezogenheit läge in Deiner Introvertiertheit und Deinem Hang zur Melancholie. Ich hatte sogar Mitleid mit Dir, aber jetzt weiß ich es besser: Du bist einfach nur boshaft und gemein.«</p> <p>Ich zuckte mit den Schultern. Was hätte ich auch sagen sollen? Etwa dass ich nicht boshaft und gemein bin? Auf Falks Mitleid konnte ich jedenfalls verzichten, dennoch bat ich ihn, wenigstens einen Teil der Ausrüstung mit ins Tal zu nehmen. Trotzig wischte sich Falk die Tränen aus den Augen, wickelte eines der Seile um seine Brust und stopfte die große Schneeschaufel zusammen mit einem Satz Schlingen und Schrauben in seinen Rucksack, bevor er ohne weitere Worte über das weite und weiße Schneefeld davonzog. Wir schieden im Streit, und als wir uns später zufällig am Bahnhof begegneten, taten wir so, als ob wir uns nicht kennen würden, und fuhren in getrennten Abteilen nach Mittenwald zurück.</p> <p>Ich riss mich von dem großen Panoramafenster los und streifte durch den Wartebereich. Der Zeitungsständer war in drei verschiedenen Sprachen sortiert. Gelangweilt las ich die Schlagzeilen und schaute mir anschließend die exotische Zimmerbepflanzung an. Doch gerade in dem Moment, als ich hinter das große grüne Palmblatt spähen wollte, hörte ich, wie sich eine Fahrstuhltür öffnete und schnelle Schritte den Gang entlang auf mich zukamen. Ich ließ das Blatt zurückschnellen und wirbelte herum.</p> <p>»Habe ich Sie warten lassen? Ich hoffe, Sie hatten es nicht zu unangenehm«, entschuldigte sich Pragen sofort und nahm meine beiden Hände. Ich schüttelte den Kopf und erzählte, dass ich bis auf die Gängelei durch die Cerberuseinheiten, die den Zugang zum Hochsicherheitstrakt bewachten, wenig auszustehen gehabt hätte.</p> <p>»Es freut mich«, fügte er, nachdem er meine Hände lang genug geschüttelt zu haben glaubte und mich von Kopf bis Fuß mit einem teils belustigten, teils abschätzigen Blick gemustert hatte, hinzu: »dass sie so zwanglos hier erschienen sind.« Ich schaute ebenfalls an mir herab und verstand nicht genau, worauf er anspielte. Feldbluse, Kniebundhosen und Kniestrümpfe waren tadellos in Form und Stiefel und Koppel blitzblank geputzt und poliert. Auch sämtliche Schildchen, Schnallen und Abzeichen waren ordnungsgemäß montiert und als Kopfputz trug ich meine graue Bergmütze.</p> <p>Ich wollte etwas erwidern, denn ich hatte mich zwar nicht in den großen Dienstanzug gezwängt, war aber auch nicht im Sportzeug angetreten, doch Pragen kam mir zuvor und versicherte mir mit entwaffnender Freundlichkeit, wie sehr er sich über meinen Besuch freue. Alles war mir plötzlich zu viel: Die wippenden Stühle, die französischen Schlagzeilen, das Panoramafenster, der weiße Adonis und Pragens undurchschaubare Art schlugen wie haushohe Wellen über mir zusammen und rissen mich mit einem energischen Ruck unter Wasser. Ich hatte das Gefühl zu ertrinken und musste mich zusammenreißen, um brav zu nicken, als mich Pragen schließlich aufforderte, ihm die Freude einer gemeinsamen Tasse Tee zu gestatten.</p> <p>Vielleicht war ich auch nur deswegen so nervös, weil mir die Sache mit Falk doch mehr Kopfzerbrechen bereitete, als ich mir eingestehen wollte. Er redet seit seinem Tag kein unnützes Wort mehr mit mir und plant sogar, seinen Feldwebelposten in meiner Stabsabteilung aufzugeben. Sein Schweigen ist zwar eine Wohltat, aber sein Zorn verletzt mich, denn ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um ihn zu retten, und ersparte ihm sogar ein böses Disziplinarverfahren. Der Leitende Beamte der Bonner Wehrdezernate wollte an ihm ein Exempel statuieren, um Nachahmer abzuschrecken: Eintrag in die Dienstakte, Degradierung und Versetzung an einen Mainzer Schreibpult. Die Strafe lag schon fest, bevor das Verfahren offiziell in die Wege gleitet worden war. Ich habe für Falks fahrlässige Flausen zwar ebenfalls kein Verständnis, bin jedoch ebenfalls kein Freund von drakonischen Strafmaßnahmen. Ich verschaffte ihm die nötige Rückendeckung durch die Bataillonsführung, nahm einen Teil der Schuld auf mich und bettelte vor dem Untersuchungsgremium des Truppendienstgerichts um Gnade vor Recht. Von diesen Bemühungen ahnt Falk allerdings nichts. Er denkt, ich hätte ihm den unvermeidlichen Zusatzdienst und Heidts Zurechtweisung eingebrockt. Meine Privataudienz beim Leiter der Münchner Geheimdienststelle trug ein Übriges zu der schlechten Stimmung zwischen uns bei.</p> <p>Bevor ich Pragen jedoch in sein Büro folgte, drehte ich mich noch einmal verstohlen nach dem Palmblatt um, das noch immer vor den Hüften der weißen Statue auf und ab schaukelte …</p> <p>…</p> <p>…</p> <p>…</p> <p>… dass beim Ausschenken kein Tropfen daneben ging und auch die Tülle nicht kleckste. Pragen beherrschte jeden Handgriff dieser alten alchemistischen Kunst, als wäre es sein Beruf, und ich kam erneut in den Genuss, die perfekt einstudierte Choreographie zu bewundern, mit der seine linke Hand Krawatte, Ärmelsaum und Jacke zurückhielt, während die rechte die notwendigen Zauberrituale ausführte.</p> <p>Dankbar nahm ich meine heiße Tasse entgegen und hielt meine Nase in den aus dem bernsteinfarbenen Kräutersee aufsteigenden Nebel. Die Wassertropfen setzten sich wie kühler Tau auf meine Stirn, meine Nase und mein Kinn, während das heiße Porzellan wie ein kleiner Ofen in meinen Händen brannte. Ich liebe es, dem Tee auf diese Weise beim Abkühlen beizuwohnen. Alle Sinne konzentrieren sich auf den Moment, wenn sich die Nebelwand verflüchtigt und der Schmerz nachlässt.</p> <p>Die kühlen Tautropfen auf meiner Haut und das Hitze zwischen meinen wie zum Gebet um die Tasse gefalteten Finger ließen mich für einen kurzen Augenblick alle um mich herum vergessen, bis Pragen mich plötzlich fragte, warum ich denn nicht trinke, wo ich doch so sehr auf heißen Tee bestanden hätte. Ich fühlte mich ertappt und probierte auf Pragens amüsierten Blick hin anstandshalber einen ersten Schluck. Der Tee schmeckte köstlich, aber Pragen wollte kein Lob. Ich ließ es gut sein und genoss die Ruhe vor dem Sturm. Mir war klar, dass er mich nicht nur zum Teetrinken nach München bestellt hatte, doch zugleich spürte ich, dass er es niemals wagen würde, den heiligen Moment von Feuer, Wasser und Erde durch weltliche Angelegenheiten zu entweihen.</p> <p>Pragen erkannte sofort, dass ich das Teetrinken im deutschen Norden erlernt hatte, und wollte alles über meine Erfahrungen mit der ostfriesischen Teekultur wissen. Ich selbst war zwar nur auf kurzen Ausflügen in Ostfriesland unterwegs gewesen, erzählte ihm jedoch alles, was ich von Admiral Witt über die Ostfriesen, ihren Kluntje und ihren Rohm wusste. Im Gegenzug weihte mich Pragen in die dunklen Machenschaften der Teeindustrie ein und berichtete von den Hungerlöhnen der Arbeiter auf den indischen Teeplantagen und von den überteuerten Preisen der gestreckten Schmuggelware auf dem Schwarzmarkt der hanseatischen Teekontore. Gegen Pragens Teekenntnisse wirkte selbst der alte Witt wie ein Laie und ich merkte, wie wenig ich über die Welt des Tees wusste. Der Oberstleutnant hatte in mir jedenfalls einen dankbaren Zuhörer gefunden. Auf meine neugierige Fragerei hin zeigte mir Pragen sogar das Gütesiegel und das Reinheitszertifikat der Winterernte aus dem Westen Darjeelings, die wir gerade tranken. Den Preis dieses vermutlich nicht nur edelsten, sondern wahrscheinlich auch teuersten Erzeugnisses indischer Teeware auf deutschem Boden wollte er mir allerdings nicht verraten. Über so etwas spreche man nicht bei Tisch, ermahnte er mich. Und schon gar nicht beim Tee.</p> <p>Es fiel mir schwer, Pragen nicht zu mögen. Aber ich gab mir Mühe, denn ich musste mir selbst beweisen, dass Falk sich in mir geirrt hatte. Als ich mit meinen Fingern über den feinen Goldrand und das Blumenmuster meiner Tasse wandern ließ, erklärte mir Pragen, dass die Teetassen noch aus der Aussteuer seiner Mutter Margaretha Sophie Elisabeth von Alvensleben stammen würden: »Oder Greta Pragen, wie sie sich nach ihrer Heirat mit meinem Vater Kajetan-Lewin Pragen vorzustellen pflegte«, erzählte er weiter: »Sie liebte es schlicht und wählte dieses Teeservice als einzige Brautgabe aus dem beträchtlichen Familienschatz der von Alvenslebens aus. Das Andenken an meine Mutter lehrt mich Bescheidenheit.«</p> <p>»Es ist einfach, bescheiden zu sein, wenn man adlig und wohlhabend ist«, erwiderte ich, und bemerkte erst, als ich mir selber zuhörte, wie idiotisch ich wieder einmal klang. Doch Pragen lachte zunächst nur, dachte einen Moment nach und stimmte mir schließlich sogar zu: »Sie haben recht, Wilhelm, und dank Ihrer Offenheit habe ich heute etwas dazugelernt. Auch nach einem halben Jahrhundert ist man immer noch Sextaner. Bescheidenheit ist kein leichtes Thema. Wie einfach ist hingegen das Aufgießen von Tee und wie vergänglich der Moment, in dem man das heiße Getränk genießen darf.« Er trank einen Schluck und nutzte die Gelegenheit, um von der Erinnerung an seine Mutter auf meine familiären Verhältnisse zu sprechen zu kommen: »Wilhelm, welches Andenken haben Sie an Ihre Familie? Es wird immer wieder fälschlicherweise angenommen, Sie wären in Russland aufgewachsen. Wenn ich Ihre Akte jedoch richtig verstehe, stand das russische Waisenhaus, in dem Sie Ihre Kindheit verbracht haben, auf lettischem Boden. Wie alt waren Sie, als Sie in das Waisenhaus aufgenommen wurden? Und wo haben Sie vorher gelebt?« Mit vor Furcht schweißnassen Händen stellte ich meine Teetasse vor mir ab. Ich war mir nicht sicher, ob Pragen mich gerade verhörte oder ob er bloß neugierig war. Dies waren genau die Fragen, die ich seit beinahe zwanzig Jahren fürchtete, doch Pragen war der Erste, der über genügend Scharfsinn verfügte, sie zu stellen. Wie Professor Meissmann …</p> <p>…</p> <p>…</p> <p>…</p> <p>… Bevor Pragen mich verabschiedete, füllte er eine Handvoll von dem Tee, den wir zusammen getrunken hatten, in einen kleinen durchsichtigen Beutel: »Hier«, sagte er und drückte mir den durch eine Art Reißverschluss wiederverschließbaren Plastikbeutel in die Hand: »Das reicht für gut zehn Tassen oder zwei große Kannen. Lagern Sie den Tee trocken und dunkel und möglichst luftdicht verpackt und nehmen Sie weiches Wasser und achten Sie darauf, dass die Temperatur …, aber ach«, unterbrach er sich plötzlich: »Wem sage ich das? Hören Sie nicht auf mich, sondern experimentieren Sie einfach damit.« Ich schämte mich. Trotzdem nahm ich das großzügige Geschenk an und bedankte mich. Doch wie zuvor verbat sich Pragen jeglichen Dank. Da es in seiner Dienststelle niemanden gebe, mit dem er gelegentlich eine gute Tasse trinken könne, sei er derjenige, der sich zu bedanken habe. Die Münchner Agenten tränken allesamt nur Kaffee oder Bier – je nach Tageszeit und Anlass. »Oder Limonade«, fügte er mit einem Schmunzeln hinzu und fragte, ob er mir eine Eskorte bestellen dürfe. Eine echte Wahl ließ er mir allerdings nicht: »Ich bin ihr Freund, Wilhelm, und ich meine es gut mit Ihnen. Das sollten Sie wissen«, sagte Pragen plötzlich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck und strengen Ton. Es klang fast so, als ob er mich notfalls mit Gewalt von seinen guten Absichten überzeugen würde. Unschlüssig, was ich auf diese unterschwellige Drohung erwidern sollte, nickte ich nur flüchtig und griff nach meiner Mütze, während Pagen auf dem Tastenfeld seines Telefons eine Zahlenkombination eintippte. Kurz darauf klopfte es an der Tür und Oberfeldwebel Luv meldete sich wie befohlen bei dem Herrn Oberstleutnant zur Stelle.</p> <p>Obwohl er seine Gefühlsregungen hinter seiner förmlichen Meldung zu verbergen versuchte, stand ihm seine Überraschung deutlich ins Gesicht geschrieben. Auch ein Fünkchen Freude, meinte ich, zwischen seinen heruntergehaspelten Protokollphrasen wahrnehmen zu können. Ich selbst war vor allen Dingen aufgeregt und für den Bruchteil einer Sekunde sogar zu glauben bereit, dass Pragen es gut mit mir meinte.</p> <p>»Die Mühe, Sie mit Oberfeldwebel Luv bekannt zu machen, kann ich mir offensichtlich ersparen«, sagte Pragen nun wieder in seiner gewohnt kameradschaftlichen und doch distanzierten Art, bevor er Eliot darum bat, mich aus dem Gebäude zu begleiten. Er formulierte seinen Befehl tatsächlich als Bitte und fügte abschließend hinzu, dass er mich durch den Park zum Hauptausgang führen solle, damit ich unterwegs die Schwäne, von denen er mir erzählte habe, kennenlernen könne. Eliot quittierte Pragens freundlichen Befehl mit einem strammen, aber nicht übertrieben militanten Jawohl und nahm an der Tür Aufstellung, um mich gemäß den ihm aufgetragenen Pflichten durch die Parkanlage nach draußen zu eskortieren. Meldung, Haltung und sogar der Blick waren ordnungsgemäß nach den formalen Regeln der Dienstvorschrift ausgeführt, wirkten aber dennoch ungezwungen und frei.</p> <p>Als sich Pragen mit einem freundschaftlichen Händedruck von mir verabschiedete, versuchte ich, sein offenherziges Lächeln zu erwidern. Ich bezweifle jedoch, dass mir dies gelungen ist. Denn je mehr er sich um mich bemühte, desto elender fühlte ich mich in meiner Haut. Obwohl mir klar war, dass die Wahrheit niemals eine Option gewesen war, bereute ich es, ihn angelogen zu haben.</p> <p>Kaum hatte ich sein Büro verlassen, erlitt ich eine Art Nervenzusammenbruch. So stelle ich mir jedenfalls einen Nervenzusammenbruch vor. Ich fühlte mich wie nach einem kräftezehrenden Leistungsmarsch. Es waren jedoch nicht nur alle meine Kraftreserven aufgezehrt, sondern auch meine Seele. Die seelische Entkräftung ließ sogar Eliots Anwesenheit kurzzeitig unwichtig werden. Ich hatte den geistigen Zweikampf gegen den mir in jeder Hinsicht überlegenen Gegner nur scheinbar gewonnen. In Wirklichkeit hatte mich Pragen in der Hand und spielte mit mir. Erschöpft ging ich zu einem in die Wand eingelassenen Wasserstein und trank einen Schluck. Als ich aufsah, hielt mir Eliot ein Gästehandtuch hin und machte mich auf die zum Trinken bereitgestellten Pappbecher aufmerksam. Er war nicht er selbst, sondern ein Oberfeldwebel, der geflissentlich seinen Formaldienst versah.</p> <p>»Sei bitte normal«, brummte ich und wischte mir mit dem Ärmel meiner Feldbluse über die Lippen.</p> <p>Eliot hängte das Handtuch an den Wandhaken zurück und nahm eine gezwungen lockere Haltung ein. Auch das Lächeln, das er daraufhin versuchte, hielt nicht lange, bevor es von einem unsicheren Stirnrunzeln abgelöst wurde. Ich verstand allerdings erst, dass ich der Grund für Eliots seltsames Verhalten war, als er mich schließlich vorsichtig fragte, was mit mir los sei. Da ich ihm jedoch schlecht erzählen konnte, dass ich gerade Pragen angelogen hatte, zog ich es vor, zu schweigen und Eliot fragte nicht weiter nach. Wortlos führte er mich durch die endlos langen Korridore und über die ausladend breiten Treppenstufen nach unten in den Park, wo uns ein kalter Wind begrüßte. Eliot zog fröstelnd seine Jacke fest um sich und ich vergrub meine Hände in meinen Hosentaschen.</p> <p>Als wir über den knirschenden Kies Richtung See schlenderten, brach Eliot schließlich unser Schweigen, indem er mir die gleichen Geschichten erzählte, die Pragen bereits zum Besten gegeben hatte. Ich hörte mir die Geschichten ein zweites Mal an und zählte dabei unsere Schritte. Wir gingen im Gleichschritt. Als wir den kleinen See erreichten, blieb Eliot unvermittelt stehen und deutete auf den weißen Steinpavillon zwischen der kahlen Trauerweide und dem schneebeladenen Schilfrohr: »Von dort aus können wir die Schwäne beobachten. Der Pavillon ist so weit ins Wasser gebaut, dass man meint, man befände sich auf einem Boot. Wenn man lange genug in die gegen den Sockel schlagenden Wellen schaut, hat man irgendwann das Gefühl, dass der Boden unter den Füßen schwankt und schaukelt.« Eliot ging ein paar Schritte auf den Pavillon zu und winkte mir, ihm zu folgen: »Komm«, rief er und strich sich vergeblich seine wehenden Haare aus dem Gesicht: »Dort sind wir auch ein wenig vor dem kalten Wind geschützt.«</p> <p>Ich gab mir einen Ruck und folgte ihm unter einer von Kletterranken überwucherten Laube hindurch und über einen schmalen, geländerlosen Holzsteg in das Steinhäuschen, wo der Wind genauso stark, wenn nicht sogar noch stärker wehte als auf offenem Weg. Eliot stellte den Kragen seiner Jacke und suchte hinter einem Pfeiler ein wenig Schutz. Ich stellte mich neben ihn und starrte, nachdem ich ebenfalls meinen Kragen aufgestellt und meine Hände anschließend schnell wieder in meinen Hosentaschen vergraben hatte, auf den See hinaus. Die Ränder waren größtenteils zugefroren. Nur in der Mitte sowie rund um den Pavillon herum und an den Stellen, wo die langen Weidenruten ihr eigenes Spiegelbild berührten, war das Wasser eisfrei. Das Schwanenpaar war inzwischen aufgewacht, wirkte jedoch nicht besonders munter. Vollkommen reglos saßen die beiden Tiere auf dem Wasser. Ein zweites Schwanenpaar mit dunklen Federn saß ebenso reglos, jedoch kopfüber gedreht auf der anderen Seite der spiegelnden Fläche.</p> <p>Als sich Eliot, nachdem wir eine Weile ebenso reglos wie die Schwäne vor uns hingeschwiegen hatten, erneut nach meinem Wohlbefinden erkundigte, wollte ich mich zunächst wieder vor einer Antwort drücken, doch weil seine Frage aufrichtig klang und weil er Eliot war, schütte ich ihm schließlich doch mein Herz aus: »Ich habe Pragen bei dem Gespräch nicht immer die ganze Wahrheit gesagt«, sagte ich zögerlich.</p> <p>»Du meinst, Du hast gelogen?« brachte Elli die Sache auf den Punkt.</p> <p>»Nein, nein«, wehrte ich zunächst ab, gab es dann aber doch zu.</p> <p>»Mach Dir keine Sorgen«, erwiderte Elli schlicht: »Wahrscheinlich hat Dir Pragen ohnehin nicht alles geglaubt.«</p> <p>»Ändert das etwas an der Tatsache, dass ich gelogen habe?«, fragte ich mit einem skeptischen Stirnrunzeln.</p> <p>»Moralisch gesehen nicht«, erwiderte Elli: »Aber vielleicht tröstet es Dich ein wenig.«</p> <p>Ich brummte missmutig vor mich hin. Seine Antwort gefiel mir nicht. Sie verschlimmerte meinen Zwiespalt mehr, als sie mir half.</p> <p>»Um was ging es denn?«, fragte er schließlich vorsichtig und entschuldigte sich für seine Neugier.</p> <p>»Er hat mich über meine Vergangenheit und über andere Personen ausgefragt, doch ich gab vor, mich an nichts zu erinnern und nichts zu wissen«, erzählte ich. Elli seufzte und machte ein nachdenkliches Gesicht: »Ich schätze, er hat gar keine ehrliche Antwort erwartet. Manche Fragen stellt er nur, um seinem Gesprächspartner einen anderen Blick auf die Dinge zu ermöglichen oder um ihn nachdenklich zu stimmen. Es ging ihm vermutlich weniger um Wahrheiten, sondern vielmehr um Meinungen. Vielleicht war es sogar seine Absicht, Dir eine Lüge durchgehen zu lassen. Manchmal ist auch mir schleierhaft, was er mit seinen Fragen genau bezweckt.«</p> <p>»So, so«, sagte ich und fragte mich, ob Pragen überhaupt auf meine Ehrlichkeit angewiesen war. Vielleicht liest er einfach alles mit, was ich in mein Tagebuch schreibe – jeden Tastenanschlag, jedes Wort, jeden geheimen Gedanken. Wäre ihm das zuzutrauen oder verfügt ein Mann wie er doch noch über einen letzten Rest Anstand? Diese Frage kann er sich selbst stellen, wenn er diese Zeilen hier liest.</p> <p>Schon als Kind hegte ich die paranoide Befürchtung, dass die Ärzte mithilfe ihrer Messgeräte und Monitore meine Gedanken ausspionieren und aufzeichnen konnten. Aus Angst und vor Scham versuchte ich damals, alle bösen Fantasien aus meinem Kopf zu verbannen, denn meine Gedanken waren bisweilen von einer solch abartigen und abgrundtiefen Bösartigkeit, dass ich mich vor mir selbst fürchtete. In mir tobte eine Nacht ohne Morgen und meine Rache an der Welt war grausamer als alles, was mir je selbst angetan worden war. Ich verschonte niemanden, weder die Guten noch die Schlechten. Die Vorstellung, dass mich Pragen in eine Falle gelockt haben könnte, kränkte mich, und der Verdacht, dass er meine geheimsten Gedanken mitverfolgte, machte mir Angst. Schlimmstenfalls spielte mir sogar Eliot etwas vor. Doch an Elli durfte ich nicht zweifeln. Nicht an ihm.</p> <p>»Mach nicht so ein entgeistertes Gesicht«, ermahnte mich Elli plötzlich, »sondern sieh her!« Er zeigte hinaus auf den See: »Pragen hat es uns untersagt, die Tiere zu füttern, aber ich kenne niemanden, der sich an dieses Verbot hält.« Zum Beweis seiner Worte kramte er eingepacktes Plätzchen aus seiner Jackentasche, öffnete es, zerbrach es und streute die Krümel ins Wasser. Plötzlich setzten sich die Schwäne in Bewegung. Sie kamen eilig zu unserem Pavillon, um die Kekskrümel von der Wasseroberfläche aufzupicken.</p> <p>»Streng moralisch gesehen«, erklärte Eliot und machte ein kurze theatralische Pause, »ist das Füttern der Schwäne ein Verbrechen. Und jedes Mal, wenn ich Pragen in die Augen sehe, eine Lüge. Trotzdem werde ich heute Nacht ohne Gewissensbisse schlafen können.«</p> <p>Ich fühlte mich durch dieses Bekenntnis jedoch nicht wirklich wohler in meiner Haut: »Ich finde, das ist nicht vergleichbar.«</p> <p>»Nicht?« Eliot holte plötzlich ein zweites Keks hervor und hielt es mir hin. »Das kannst Du erst sicher sagen, wenn Du beides ausprobiert hast.«</p> <p>Ich lachte nur, doch Eliots Blick sagte mir, dass er es ernst meinte. Als er mir das Keks daraufhin direkt vor die Nase hielt, nahm ich es schließlich doch. Ich machte es jedoch nicht auf, sondern hielt es einen Moment nachdenklich in der Hand.</p> <p>»Du traust Dich nicht?«, fragte Eliot mit einem Triumphieren in der Stimme, als ob er damit irgendetwas bewiesen hätte.</p> <p>»Ganz und gar nicht«, sagte ich und schüttelte den Kopf: »Ich frage mich nur, wie viele Du davon in Deiner Tasche hast.«</p> <p>»Genug«, antwortete Eliot und klopfte auf seine Jackentasche: »Sie liegen immer Jans Kaffeegedeck bei. Da er sie nie isst, gehören sie mir. Ich hebe sie auf. Für harte Zeiten. Oder für die Schwäne.«</p> <p>»Harte Zeiten«, sagte ich und aß den Keks auf. Eliot lachte und aß ebenfalls einen Keks. Auch mir bat er noch einen an. Er schien tatsächlich über einen unerschöpflichen Vorrat zu verfügen. Nachdem er ein paar nicht vorhandene Kekskrümel von seiner Uniform geklopft hatte, wurde er plötzlich ernst: »Vielleicht hatten Pragens Fragen keinen tieferen Sinn, sondern entsprangen einfach seiner angeborenen Neugier. Wenn er ein Laster hat, dann seine Neugier. Wäre es mehr als Neugier gewesen, hätte er Dich vermutlich nicht zum Tee eingeladen, sondern in ein Verhörzimmer bestellt und ich hätte daneben gegessen und Protokoll geführt. Ich glaube jedenfalls nicht, dass Dich ein geschulter Abwehrfachmann und Menschenkenner wie Pragen für einen Landesfeind oder Wehrzersetzer hält. Dafür ist Deine Biografie viel zu uneben.«</p> <p>»Was weißt Du denn über meine Biografie?«, fragte ich alarmiert nach.</p> <p>»Nicht viel, eigentlich gar nichts.« Eliot wedelte zur Beteuerung seiner Unwissenheit wild mit seinen Händen: »Jedenfalls nicht mehr, als man durch Deine gelegentlichen Auftritte in der Wochenzeitung der Bundeswehr oder in der Tagespresse über Dich in Erfahrung bringen kann.«</p> <p>Ich schaute Eliot misstrauisch an.</p> <p>»Mach Dir keine Sorgen«, sagte er, wie um mich zu beruhigen: »Jede einfache Sekretärin mit Vorzeigefamilie, Fernsehzeitungsabonnement und Bausparkredit, die langjährig für das Bundesverteidigungsministerium tätig war und somit unumgänglich in eine Vielzahl militärischer Geheimnisse eingeweiht wurde, ist verdächtiger als Du.«</p> <p>»Ist das so?«, fragte ich überrascht.</p> <p>Eliot nickte: »Ein ausländischer Geheimdienst hätte sich eine bessere Geschichte ausgedacht als Deine und er hätte seinen Spion zu mehr Unauffälligkeit erzogen. Du ziehst zu viel Aufmerksamkeit auf Dich, bist zu oft unbequem und sorgst für zu viele Ungereimtheiten.«</p> <p>»Welche Ungereimtheiten?«, wollte ich wissen.</p> <p>»Nun«, sagte Eliot und holte tief Luft: »Als Du Ende letzten Jahres bei den Osloer Patrouilleläufen aus Deinem erbitterten Zweikampf mit dem Favoriten der russischen Delegation als Sieger hervorgingst, sprachen die Zeitungsartikel davon, dass die russische Waise aus dem Schatten ihres Ziehvaters tritt.«</p> <p>Ich seufzte. Vielleicht sollte ich mehr als nur die Schlagzeilen lesen: »Es war kein Zweikampf«, stellte ich richtig, »sondern ein Mannschaftslauf und es ging dabei nicht um den Sieg, sondern um den dritten Platz. Von Erbitterung kann auch keine Rede sein. Ich gab mein Bestes. So wie vermutlich alle anderen Wettkampfteilnehmer auch. Das einzig Bittere an der Sache war die Erfahrung, am Ende aller Anstrengungen zum Trotz doch zu verlieren.« Ich erzählte ihm, wie wir kurz vor unserer Abreise nach Oslo unsere Mannschaftsaufstellung komplett umgeworfen hatten, die Veranstalter des Wettbewerbs mit dieser kurzfristigen Umstellung jedoch nicht einverstanden gewesen waren und uns mit zusätzlichem Verwaltungskram und ärztlichen Untersuchungen gängelten. Ich erzählte ihm auch von unserer leeren Ersatzbank, von meinen endlosen Telefonaten mit der Auslandvertretung der Bundeswehr und davon, wie ich nach den Wettkämpfen mit meinen Kameraden in ein außerhalb gelegenes sportmedizinisches Krankenhaus fahren musste, wo wir, nachdem jeder eine Nummer gezogen hatte, darauf warteten, dass diese aufgerufen wurde, während die anderen Wettkampfteilnehmer in einer heißen Quelle ein Entspannungsbad nahmen.«</p> <p>»Davon stand nichts in der Zeitung«, sagte Eliot in einem mitfühlenden und zugleich aufmunternden Ton. Ich starrte auf den See hinaus. Eliots Anteilnahme tat gut.</p> <p>»Bist Du wirklich in einem russischen Waisenhaus aufgewachsen, wie es die Zeitungen schreiben?«, fragte er vorsichtig.</p> <p>»Ja, das bin ich«, antwortete ich, ohne ihn anzusehen: »Zeitweilig jedenfalls«, fügte ich hinzu: »Aber ich spreche nicht gern darüber. Ich kam mit den anderen Kindern nicht zurecht und hasste die Pfleger. Außerdem schmeckte die Milch dort nach rostigem Leitungswasser und Hustensaft.« Eliot bohrte nicht weiter nach, sondern starrte ebenfalls schweigsam auf den See.</p> <p>Das Gespräch mit Pragen ließ mich jedoch nicht los. Ein Lügner wie ich hatte Pragens Freundschaft nicht verdient. Mit einem Seufzen holte ich den Beutel mit dem Tee aus meiner Tasche und drehte das Päckchen in meiner Hand. Am liebsten hätte ich es Pragen zurückgegeben und mich entschuldigt. Oder es einfach weggeworfen. Als Heinrich zu mir herüberschaute, fragte ich ihn, ob er Pragen über unsere Unterhaltung Meldung machen würde.</p> <p>»Möchtest Du, dass ich es tue?«, fragte er in einem nüchternen Tonfall. Ich schüttelte den Kopf.</p> <p>»Dann nicht«, erklärte er: »Ich glaube ohnehin nicht, dass ich ihm etwas Überraschendes oder Interessantes zu melden hätte. Und jetzt hör auf, Dir so viele Gedanken darum zu machen.« Eliot nahm mir den Beutel aus der Hand und verstaute ihn wieder in der Seitentasche meiner Kniebundhose, als hätte er meine idiotischen Gedanken erraten.</p> <p>»Einverstanden«, sagte ich.</p> <p>Eliot lachte und wärmte anschließend ein paar lustige Geschichten von unserem Alpenmarsch auf. Es dauerte nicht lange, bis wir gemeinsam über die Pleiten und Pannen der Tour lachten und dabei auch auf seine Fingerfertigkeiten als professioneller Einbrecher zu sprechen kamen. Ich erzählte ihm bei dieser Gelegenheit, dass der verloren geglaubte Schlüssel nach der Tour wieder aufgetaucht war. Um ihn nicht zu verlieren, hatte Strefler ihn in einer Geheimtasche im Innenfutter seiner Jacke versteckt. Doch ich erzählte Eliot damit nichts Neues. Er wusste dies alles bereits von Anna und Falk. Verblüfft fragte ich nach, wann, wo, wie und warum er die beiden getroffen habe.</p> <p>Falk habe ihn gleich nach der Bergwanderung wegen der Fotos angerufen, erklärte Eliot. Auf Falks Bitte hin habe er sich umgehend in die Dunkelkammer seiner Dienststelle verzogen und dort an die Entwicklung der Bilder gemacht und auch gleich einen ersten Satz farbiger Hochglanzabzüge erstellt, die Falk noch in derselben Woche persönlich bei ihm abgeholt habe. Falk wolle die Fotos den übrigen Marschteilnehmern zeigen und bis Anfang Februar eine Liste mit Nachbestellungen fertighaben. Eliot war verwundert, dass ich die Fotos noch nicht gesehen hatte, und bot mir an, mir die Negative im Medienlabor vorzuführen. Ich lehnte jedoch dankend ab.</p> <p>Anna, fuhr Eliot unbekümmert fort, erteile ihm nun seit bald vier Wochen Privatunterricht im Skifahren und Hornschlittenrodeln und verlange nur fünfzig Mark für einen ganzen Vormittag, ein Freundschaftspreis. Schon morgens um sieben standen sie auf ihren Brettern und fuhren über Berge und durch Wälder, bis sie um ein Uhr ins Tal zurückkehrten, wo sie noch gemeinsam zu Mittag aßen. Wenn der Winter vorbei sei, wollte Anna ihm Klettern und Wiesenrodeln beibringen. Ich versuchte mir meine gekränkte Eitelkeit nicht anmerken zu lassen. Warum Falk? Warum Anna? Warum nicht ich?</p> <p>Kaum hatte ich mich von den Zerwürfnissen mit meinem Gewissen erholt, machte sich auch schon ein neues unbehagliches Gefühl in mir breit. Ein Gefühl, das ich nur allzu gut kannte und das mich in der Vergangenheit schon zu den abscheulichsten Taten verleitet hat: Eifersucht. Sie ist der Feind aller guten Eigenschaften und bringt in der Regel nichts als Undankbarkeit, Hass und Zerstörungswut hervor. Das muss vielleicht nicht immer so sein, aber die mir angeborene bösartige Form der Eifersucht hat mich durch meine Unfähigkeit, mich selbst zu akzeptieren, schon unzählige Male in tiefe Depressionen gestürzt und mich sogar gegen meinen besten Freund aufgehetzt. Ich hasste Tomo dafür, dass er alles besaß, wonach ich mich vergebens sehnte, dass bei ihm alles richtig war, was bei mir schief lief, und dass seine Vollkommenheit all meine Unzulänglichkeiten, Fehler und Schwächen entlarvte. Eigentlich habe ich ihn nie genug geliebt und viel zu oft gehasst.</p> <p>Eine von Tomos herausragenden, aber mir bis ins Blut verhassten Eigenschaften war seine unerschütterliche Furchtlosigkeit vor jedwedem krabbelnden Getier. Meine anfängliche Bewunderung für seinen Heldenmut, die Kriecher mit bloßer Hand zu fangen oder sie auf seinem Arm spazieren zu lassen, brachte ihn eines Nachts auf die Idee, im Keller des Instituts einen Zoo anzulegen. Leere Medikamentenschachteln und Nierenschälchen aus Pappe dienten als Gehege und in einer mit Sand und Kieselsteinen ausgestreuten Manege brachte Tomo seinen gepanzerten Gestalten, haarigen Achtbeinern und all dem anderen Ungeziefer zu meiner vermeintlichen Belustigung Kunststückchen bei. Jedenfalls versuchte er es. Denn im Gegensatz zu Meissmanns zahmen Labortierchen – Fadenwürmern, Zebrafischchen und Drosophilafliegen – waren die Tiere in Tomos Zoo allesamt wilde Bestien und schwer zu dressieren.</p> <p>Obwohl ihm keine seiner Zirkusnummern je gelang, da die eigenwilligen Viecher entweder nur reglos im Sand saßen oder ihren Dompteur mit ständigen Fluchtversuchen auf Trab hielten, ließ sich Tomo durch die Sturheit seiner Monster nicht entmutigen, sondern verdoppelte seine Anstrengungen und redete ihnen gut zu. Die wenigsten Tiere wollten sich jedoch an ihr neues Zuhause gewöhnen. Die meisten bestraften Tomo, indem sie starben. Unsere gemeinsamen Stunden bestanden bald nur noch aus der Versorgung und Entsorgung von Tomos Haustierchen. Wir begruben die Toten, fütterten die Lebenden und misteten die Ställe aus. Zu guter Letzt nahm er noch eine halbverhungerte und vollkommen verängstigte Maus in Pflege, die aus einem der Labore im ersten Stock in die Kellergewölbe entkommen sein musste. Er gab ihr den einfallslosen Namen Surisuri und quartierte sie in einem mit sterilen Kompressen und Papiertüchern ausgelegten Putzeimer ein.</p> <p>Ich hasste Tomo dafür, dass er mir jede Nacht durch seine Furchtlosigkeit meine eigene Feigheit unter die Nase rieb und dass er mich mit seinen neuen Freunden um seine Aufmerksamkeit buhlen ließ. Meine Eifersucht wuchs mit jedem Neuzugang, der in die Zirkusgemeinschaft aufgenommen wurde, und mit jeder Stunde, die wir mit der Pflege der Tiere zubrachten. Meine Eifersucht wurde am Ende sogar so groß, dass ich meine Angst und meinen Ekel überwand und eines Abends ohne Tomos Wissen allein in den Keller schlich.</p> <p>Tomos Tierpanoptikum lag direkt gegenüber der Stiefelkammer. Dieser fensterlose Abstellraum trug seinen Namen aufgrund des Dufts, den ein gleich neben der Eingangstür aufgestellter Schuhspind verströmte. Darum hielt ich den Atem an, während ich in ein Paar schwere Stiefel stieg und eine lange Zeltstange von einem hohen Regalboden angelte. Sicherheitshalber setzte ich mir noch einen Schutzhelm auf den Kopf und eilte in den gegenüberliegenden Kellerraum. Tomo kam und ging ohne festes Muster in dem Zeitfenster zwischen Sonnenuntergang und Mitternacht. In manchen Nächten hatten wir noch nicht einmal eine einzige Stunde zusammen, während er manch anderes Mal kurz nach dem Abendessen auftauchte und bis zum anderen Tag bei mir blieb. Da es draußen bereits dunkel war und ich Tomos Erscheinen nicht auf die Stunde genau vorhersagen konnte, musste ich mich beeilen.</p> <p>In meiner Eile machte ich mir noch nicht einmal die Mühe, die Tiere aus ihren engen Behausungen zu befreien, sondern zertrat sie mitsamt ihren Papphütten, auf die Tomo mit einem schwarzen Filzstift die Namen der Bewohner geschrieben hatte. Die meisten starben wehrlos unter den über ihnen zusammen stürzenden Kartonwänden und nur wenige versuchten zu fliehen, bevor ich ihnen mit der scharfen Kante der Zeltstange hinterhersetzte. Schnecken, Spinnen, Käfer, Asseln, Raupen, ich schlug sie alle tot.</p> <p>Nachdem sich meine tobende Rachsucht ein wenig gelegt hatte, verwischte ich meine Fußspuren im Sand der Manege und wollte schon gehen, als mein Blick auf den Putzeimer in der Ecke des Raumes fiel. ›Surisuri‹ stand in krakeligen Runen auf dem Stück Pappe, das als Abdeckung diente. Das Wort ›Surisuri‹ bedeutete in Tomos und meiner Sprache nichts anderes als ›kleine Maus‹. Zögerlich hob ich den mit Luftlöchern perforierten Pappdeckel an und spähte hinein. Surisuri kauerte am Boden ihrer dunklen Zelle zwischen Essensresten, Mullkompressen und ihrem eignen Kot und rührte sich nicht. Mit einem beherzten Ruck trat ich den Eimer um. Laut scheppernd donnerte der Eisenkübel gegen die Wand und entlud dabei seinen Inhalt auf dem mit plattgetretenen Pappkartons übersäten Boden.</p> <p>Surisuri hätte fliehen sollen, doch stattdessen beschnupperte sie seelenruhig meine Stiefel. Ich schubste sie mit der metallenen Zeltstange mehrmals beiseite, doch egal, wie grob ich dabei mit ihr umsprang, wollte sie sich nicht verscheuchen lassen. Sie vertraute mir und kam, da sie vermutlich glaubte, ich wäre gekommen, um sie zu füttern, immer wieder zu mir her.</p> <p>Surisuris anhängliches Verhalten ließ mir keine andere Wahl, als mit aller Kraft, die in meinen Kinderbeinen steckte, auf den zwischen meinen Füßen umherwuselnden weißen Fellknäuel zu stampfen. Anstatt jedoch dem Tier alle Knochen zu brechen, rutschte ich auf dem weichen und pelzigen Körper aus und stolperte vornüber. Aus Furcht in den ekligen Brei aus zertretenen Insekten, Spinnen und Weichtieren zu stürzen schrie ich auf und ruderte wild mit dem Armen. Als ich mich wieder gefangen hatte, lag Surisuri blutend auf der Seite, hielt jedoch noch immer mit schnellen, kurzen Atemzügen an ihrem Leben fest. Es kostete mich einige Mühe, bis sie endlich damit aufhörte.</p> <p>Ich war vollkommen außer Puste. Mehr jedoch durch die Ungeheuerlichkeit meiner Tat als durch die körperliche Anstrengung. Meine Lippen waren ausgetrocknet, von meiner Stirn tropfte der Schweiß und mein Herz schlug bis zum Hals. Eilig warf ich die Schuhe, den Helm und die Eisenstange in die Stiefelkammer, streifte mir ein frisches Nachthemd über und ließ mich in mein Bett fallen. Dort stellte ich mich schlafend und wartete auf Tomo.</p> <p>Durch das wohlige Gefühl erfüllter Rachsucht versöhnlich gestimmt begrüßte ich ihn mit einer überschwänglichen Umarmung, als er mich spät in der Nacht endlich durch ein sanftes Rütteln an meiner Schulter aus meinem vermeintlichen Schlaf holte. Ich erzählte ihm natürlich sofort von dem Chaos, das die Erwachsenen im Keller angerichtet hatten. Tomo schaute mich jedoch nur ängstlich an und glaubte mir zunächst kein Wort, bis ich ihn schließlich an den Ort des Verbrechens führte, wo ihn der schreckliche Anblick von der Wahrheit meiner Worte überzeugte und er laut aufschluchzend auf den Boden sank.</p> <p>Erst als ich sah, wie Tomo in Tränen aufgelöst und am ganzen Körper zitternd in den Trümmern vergebens nach Überlebenden suchte, konnte ich ihm vollends verzeihen und ihn wieder so unendlich lieben wie zuvor. Aller Zorn und aller Hass waren mit einem Mal verflogen, um einem tiefen und aufrichtigen Bedauern über sein Unglück Platz zu machen. Ich hielt ihn fest und ließ ihn seine nur hörbaren, trockenen Schattentränen in mein Nachthemd weinen.</p> <p>Was mich am Ende jedoch fast in den Wahnsinn trieb, war weder der Tod der unschuldigen Tiere noch Tomos Tränen, sondern der Verdacht, dass Tomo wusste, wer ihm das angetan hatte, und dass er mich insgeheim dafür verurteilte. Doch da unsere Schicksale unzertrennlich miteinander verknüpft waren, blieb ihm keine andere Wahl, als es auch weiterhin mit mir auszuhalten. Sicher ist jedenfalls, dass ich nur zu hassen imstande bin, wen ich aus tiefstem Herzen liebe.</p> <p>~ Wilhelm Fenner</p> </div> <div class="field field--name-field-ort field--type-link field--label-hidden field__item"><a href="https://www.openstreetmap.org/relation/939341">Mittenwald</a></div> <div class="field field--name-field-datum field--type-datetime field--label-hidden field__item">Freitag, 31. Jan.. 1992</div> <div class="field field--name-field-bezugsort field--type-link field--label-inline"> <div class="field__label">Bezugsort</div> <div class="field__item"><a href="https://www.openstreetmap.org/relation/62428">München</a></div> </div> <div class="field field--name-field-bezugsdatum field--type-datetime field--label-inline"> <div class="field__label">Bezugsdatum</div> <div class="field__item">Freitag, 31. Jan.. 1992</div> </div> <div class="field field--name-field-kapitel field--type-integer field--label-above"> <div class="field__label">Kapitel</div> <div class="field__item">11</div> </div> <div class="field field--name-field-dateinummer field--type-integer field--label-inline"> <div class="field__label">Dateinummer</div> <div class="field__item">1102</div> </div> Thu, 16 Mar 2023 20:13:39 +0000 eloroke 36 at https://www.adamsakte.de